Über die Organisation des Gedächtnisses: ein neurobiologisches Modell zum Verständnis der unbewussten Erinnerung

Autor/innen

  • Hanspeter Lipp

Abstract

Zusammenfassung: Gedächtnis und Erinnerung umfassen viele Funktionsstufen, von molekularen Prozessen im Zellkern von Nervenzellen bis hin zu komplexen Netzwerkarchitekturen. Diese Funktionsstufen werden jedoch oft vermengt. Hier wird ein Modell präsentiert, das sowohl die zellulären Komponenten als auch die Netzwerkebenen umfasst. Man kann annehmen, dass bei neuen Erlebnissen und ihrer Speicherung viele Gebiete der Gehirnrinde simultan aktiviert werden. Diese komplexen Erregungsmuster werden aber schrittweise in den assoziativen Gehirnregionen reduziert, ähnlich wie ein komplexes digitales Bild durch Algorithmen auf das Wesentliche reduziert wird – Beispiele sind die Programm-Ikonen auf dem Computerbildschirm. Erinnerungen sind partiell wiederhergestellte Erregungsmuster, die zentral aus einfachen gespeicherten Mustern generiert werden und an den Knotenpunkten der zerebralen Netzwerke durch dort gespeicherte lokale Informationen verfeinert werden. Im Grosshirn von Säugetieren übernimmt der Hippocampus die Funktion der Codierung und Decodierung. Dessen Erregungsmuster wird aber auch entscheidend durch subkortikale Gebiete mit geprägt, zuvorderst olfaktorische Kerngebiete. Damit werden das basale Grosshirn und das Zwischenhirn zum Träger der letzten Reduktionsstufe, und die Aktivierung dieser Abschnitte generiert eine primitiv-abstrakte Erinnerung, die im Grosshirn schrittweise verfeinert wird. Dieser Wiederherstellungsprozess ist allerdings anfällig auf Fehler in der Netzwerkstruktur und kann grosse Erinnerungslücken aufweisen, andererseits können Gerüche sehr alte kindliche Erinnerungsmuster wecken. Dieses Konzept erlaubt sowohl psychotherapeutische Modifikationen von Erinnerungen als auch mechanistische Eingriffe. Schlüsselwörter: Kortex, Hippocampus, Bildverarbeitung, Synapsen, epigenetische Tags, limbisches System, assoziativer Thalamus, subkortikales Gedächtnis, kortikale Verarbeitungshierarchie, Gedächtniskonsolidierung, Gedächtnisabruf, posttraumatische Stressreaktionen, visual priming.

Autor/innen-Biografie

Hanspeter Lipp

Hans-Peter Lipp, Dr. rer. nat. (Anthropologie und Neuroethologie) Universität Zürich. Postdoc-Ausbildung an der ETH Zürich (Verhaltensphysiologie), Universität Lausanne (Neuroanatomie), Massachusetts Institute of Technology (Neuroanatomie und Verhalten). Karriere vom Abteilungsleiter zum ordentlichen Professor am Anatomischen Institut der Universität Zürich, Spezialgebiet Neuroanatomie und Verhalten. Forschungsgebiete: Gehirn- und Verhaltensgenetik, Evolutionstheorie, computergesteuerte Verhaltensapparaturen, ökologische Hirnforschung, Navigation bei Brieftauben. Mitbegründer der International Behavioural and Neural Genetics Society, Leiter eines Kompetenzzentrums zur Analyse genetisch modifizierter Nager und Gründer eines Spin-off-Unternehmens (NewBehavior) für computergesteuerte Verhaltensanalyse von Mäusen im Sozialverband, aktuell Teilzeitprofessur an der University of Kwazulu-Natal in Durban, Südafrika. Publikationen im Jahr 2014 in den Zeitschriften „Journal of Experimental Biology“ (Gravity anomalies without geomagnetic disturbances interfere with pigeon homing: a GPS tracking study, mit N. Blaser u. a.), „Die Brieftaube“ (Warum Brieftauben verloren gehen: Gravitationsanomalien als Orientierungsfallen?), „Frontiers in Behavioral Neuroscience“ (A novel automated behavioral test battery assessing cognitive rigidity in two genetic mouse models of autism, mit A. Puscian u. a.) und „PLOS One“ (Temporal and contextual consistency of leadership in homing pigeon flocks, mit C. D. Santos u. a.).

Veröffentlicht

29.08.2015

Zitationsvorschlag

Lipp, H. (2015). Über die Organisation des Gedächtnisses: ein neurobiologisches Modell zum Verständnis der unbewussten Erinnerung. Psychotherapie-Wissenschaft, 5(1), 24–35. Abgerufen von https://psychotherapie-wissenschaft.info/article/view/294