Hinter dem Unglaublichen verbirgt sich das kollektive Trauma von Patient und Therapeut

Autor/innen

  • Dvora Miller-Florsheim

Abstract

Der Beitrag der israelischen Kollegin thematisiert die Schwierigkeiten psychotherapeutischer Arbeit unter den Bedingungen kollektiver Traumatisierung, die beide Partner der therapeutischen Dyade trifft, und der sie sich nicht entziehen können. Die Autorin geht von der Hypothese aus, dass die Identität der Psychotherapeutin in einem kulturellen Kontext geformt wird und von diesem nicht getrennt werden kann. Sie untersucht die Schwierigkeiten, denen sie als Psychotherapeutin unter den gegenwärtigen Lebensumständen in Israel begegnet: Wie können kollektive Phantasien und Erfahrungen, die sie mit den Patienten teilt, von den individuellen des Patienten und der Therapeutin unterschieden und bearbeitet werden?

Sie beginnt mit der Beschreibung der kulturellen Erfahrung israelischer Therapeutinnen: die individuelle Geschichte ist eng verknüpft mit der kollektiven Geschichte des Landes. Alle Israeli teilen eine enge Verbindung ihres Lebens mit der Armee. Die individuelle Bedrohung ist eng verknüpft mit der Bedrohung des Landes. Das Wissen, jederzeit selber Opfer einer Gewalttat werden zu können, ist eine kollektive gemeinsame Erfahrung und Bewusstheit.

Die kollektive Identität des jüdischen Volkes ist nicht nur sozio-religiös fundiert, sondern auch um gemeinsam erfahrene Traumata zentriert. Neben Ritualen des Erinnerns und Trauerns gibt es auch ein starkes Verlangen zu vergessen, und die Wirkung des Traumas zu verleugnen. So sind Verleugnen, Verwerfen und Flucht in die Normalität Anpassungsmechanismen im Alltagsleben der Menschen in Israel. Die psychische Gesundheit ist deshalb buchstäblich auf Messers Schneide: Einerseits ist volle Realitätswahrnehmung eine Grundlage seelischer Gesundheit, andererseits kann unter gewissen Umständen ein gesundes seelisches Funktionieren nur unter Einsatz von Verleugnungsmechanismen gesichert werden.

Die gemeinsam verleugnete Realität dringt immer wieder in den Behandlungsraum ein. Es muss sorgfältig bearbeitet werden, wie das Eindringen äusserer Realität als Abwehr gegen die Wahrnehmung innerer Realität benutzt wird und wo das Fixiertsein auf Inneres der Verleugnung äusserer Gefahr dient. Ein ständiges Hin-und-Her-Pendeln der Aufmerksamkeit ist im therapeutischen Prozess notwendig.

Die Auswirkung der alltäglichen Gewalt zeigt sich auch in der Schwierigkeit, Gruppenprozesse fruchtbar zu gestalten. Die Tendenz zu Projektion und Spaltung kann unter dem Druck des Traumas übermächtig werden.

Die Autorin zeigt anhand von Fallbeispielen auf, wie sie immer wieder versucht, die Fragmentierung zu verhindern und eine kohärente Erfahrung herzustellen. Wichtig ist dabei, die individuelle von der kollektiven Erfahrung zu unterscheiden, auch wenn dies noch so schwer ist.

Sie betrachtet den Behandlungsraum als einen Ort der Hoffnung, in dem die harte Realität gehalten und ausgehalten und in Gedanken und Worte gebracht werden kann. „Hoffnungsarbeit" besteht in der Konfrontation mit Bedrohung und Schmerz und dem daraus resultierenden seelischen Wachstum. Heitere Ernsthaftigkeit (serenity) ist die richtige therapeutische Haltung.

Psychotherapeutinnen, die sich in der Arbeit mit Bedrohung und Trauma engagieren, werden für ihre Mühen durch innere Bereicherung belohnt. Sie schätzen ihr Leben mehr und beziehen Lebenskraft, Inspiration und Hoffnung aus der Begegnung mit dem alltäglichen Mut ihrer Patienten. Sie lernen „Integrität", Lebensbejahung im Angesicht des Todes, Respekt vor den tragischen Begrenzungen des Lebens.

Schlüsselwörter:
Kollektive Traumatisierung; Identität und Krieg; Anpassung; Abwehrmechanismen; alltägliche Gewalt; „Hoffnungsarbeit"

Autor/innen-Biografie

Dvora Miller-Florsheim

Correspondence: Dvora Miller-Florsheim, 6 Hageula st. Hod-Hasharon, Israel 45272

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Veröffentlicht

01.01.2003

Zitationsvorschlag

Miller-Florsheim, D. (2003). Hinter dem Unglaublichen verbirgt sich das kollektive Trauma von Patient und Therapeut. Psychotherapie-Wissenschaft, 11(1), 10–18. Abgerufen von https://psychotherapie-wissenschaft.info/article/view/438