„ ... und dann - mit einem Male - war die Erinnerung da ..." (Proust). Aus dem interdisziplinären Dialog zwischen Psychoanalyse und Cognitive Science zum Gedächtnis

Autor/innen

  • Marianne Leuzinger-Bohleber

Abstract

Können Ergebnisse der neueren, interdisziplinären Gedächtnisforschung zu einer Erweiterung und Präzisierung des klinischen Verständnisses von psychischen Prozessen basierend auf unbewussten Erinnerungen, Phantasien und „Wahrheiten“ beitragen? Diese Fragen werden in dieser Arbeit diskutiert.

In einem selbstkritischen Rückblick auf eine Arbeit, in der R. Pfeifer und M. Leuzinger-Bohleber 1986 Konzepte der klassischen Cognitive Science zum Verständnis einiger Sequenzen aus einer Psychoanalyse beigezogen haben, wird postuliert, dass sich die damals benutzte Computermetapher als nicht geeignet erweist, die Mechanismen des menschlichen Gedächtnisses als biologisches System zu erklären. Im Gehirn gibt es keine Speicherplatten oder lokalisierbare Regionen, in denen Wissen (analog zu Wachstafeln von Aristoteles oder dem Wunderblock) eingeritzt, gespeichert wird, das später wieder abgerufen werden kann: Erinnern und Gedächtnis sind vielmehr Funktionen des gesamten Organismus. Bezugnehmend auf Edelmans Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TSNG) wird Gedächtnis konzeptualisiert als dynamischen, rekategorisierenden und interaktiven Prozess, der immer ,,embodied“ ist, d.h. auf sensomotorisch-affektiven Vorgängen im Organismus beruht. Eine ausschließlich kognitive Betrachtungsweise des Gedächtnisses hat sich als inadäquat erwiesen.

Eine kurze Sequenz aus einer Psychoanalyse mit einem Borderlinepatienten wird analysiert, um zu illustrieren, dass sich diese neueren Konzeptualisierungen von Gedächtnis und Erinnern als produktiv für ein vertieftes klinisches Verstehen erweisen. Es wird postuliert, dass diese interdisziplinären Forschungsergebnisse Erkenntnisse der klinisch-psychoanalytischen Forschung stützen, z.B. wie relevant sich das Durcharbeiten unbewusster Konflikte und Phantasien in der Übertragung im Hinblick auf eine dauerhafte psychische Veränderung erweisen.

Schlüsselwörter:
Klassische und Embodied Cognitive Science, Gedächtnis, Erinnerung, Psychoanalyse, Theorie der neuronalen Gruppenselektion (TSNG) (Edelman), Rekategorisierung, frame, unbewusste Erinnerung, Durcharbeiten, therapeutischer Prozess, Archeologiemetapher, Computermetapher.

Autor/innen-Biografie

Marianne Leuzinger-Bohleber

Marianne Leuzinger-Bohleber, Univ.-Prof. Dr.phil, Professorin für Psychoanalytische Psychologie am Institut für Psychoanalyse der Universität Gesamthochschule Kassel. Forschungsschwerpunkte: klinische und empirische Forschung in der Psychoanalyse, Psychoanalyse und Cognitive Science, psychoanalytische Entwicklungspsychologie. Einige Publikationen zum Thema: Koukkou M, Leuzinger-Bohleber M, Mertens W (Hrsg) (1998) Erinnerung von Wirklichkeiten. Psychoanalyse und Neurowissenschaften im Dialog. Band 1: Bestandsaufnahme. Verlag Internationale Psychoanalyse, Stuttgart; Leuzinger-Bohleber M, Mertens W, Koukkou M (Hrsg) (1998) Erinnerung von Wirklichkeiten. Psychoanalyse und Neurowissenschaften im Dialog. Band 2: Folgerungen für die psychoanalytische Praxis. Verlag Internationale Psychoanalyse, Stuttgart; Leuzinger-Bohleber M, Pfeifer R (1998) Erinnern in der Übertragung-Vergangenheit in der Gegenwart! Psychoanalyse und Embodied Cognitive Science: ein interdisziplinärer Dialog zum Gedächtnis. Psyche 52/9-10: 884-919.

Korrespondenz: Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Am Ebelfeld 1A, D-60488 Frankfurt

 

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Veröffentlicht

01.04.2001

Zitationsvorschlag

Leuzinger-Bohleber, M. (2001). „ . und dann - mit einem Male - war die Erinnerung da ." (Proust). Aus dem interdisziplinären Dialog zwischen Psychoanalyse und Cognitive Science zum Gedächtnis. Psychotherapie-Wissenschaft, 9(2), 71–85. Abgerufen von https://psychotherapie-wissenschaft.info/article/view/501