Oliver Decker & Elmar Brähler (2021).
Autoritäre Dynamiken.
Alte Ressentiments – neue Radikalität.
Leipziger Autoritarismus Studie 2020

Gießen: Psychosozial-Verlag
ISBN: 978-3-8379-3000-9
385 S., 24,90 EUR, 35,90 CHF

Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 77–78 2021

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-1-77

Seit 2002 untersucht die 19-köpfige Arbeitsgruppe um die Herausgeber rechtsextreme Einstellungen in Deutschland und führt dazu alle zwei Jahre Repräsentativerhebungen durch. Die Leipziger Autoritarismus Studie (LAS; unterstützt von der Heinrich Böll Stiftung und der Otto Brenner Stiftung) 2020 ist deshalb auch im Zusammenhang mit unserem Heftthema interessant, weil die Erhebung in das Corona-Jahr fiel. Dies erlaubte auch, Schlussfolgerungen über die Auswirkung der Corona-Zeit hinsichtlich Radikalisierung, Rassismus, Extremismus und Verschwörungstheorien verbunden mit rechtsextremem Gedankengut zu ziehen. Die Forschungsgruppe kann aufzeigen (nicht zum ersten Mal), dass die Verbreitung antidemokratischer Ressentiments aus der Mitte der Gesellschaft kommt, und nicht etwa bloss an deren Rändern (den Links- oder Rechts-Extremen) in Erscheinung tritt.

Trotz Aufarbeitung des Nationalsozialismus sind rassistische Ressentiments und antidemokratische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft weiterhin verankert und treten in einer Krisenzeit und damit auch während der aktuellen Pandemie offen zutage.

Innerhalb der Publikation finden sich zwölf gesonderte Studien zu bestimmten Themen, jeweils von anders zusammengesetzten Autorengruppen verfasst. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft; Autoritäre Dynamiken; Zum Stand der Zivilgesellschaft.

Im Vorwort schreiben die Herausgeber, dass das Denken vieler Menschen in Deutschland durch Chauvinismus und Abwertung von Migrantinnen und Migranten geprägt ist.

«Neben diesem Ethnozentrismus ist nach wie vor die Neo-NS-Ideologie verbreitet: Mit dem tradierten Antisemitismus, der Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus, dem Sozialdarwinismus und der Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur wird diese Ideologie zwar weniger offen geäußert als der Ethnozentrismus, gehört aber seit Langem zum geteilten Ressentiment in antidemokratischen-autoritären Milieus» (S. 11).

Im ersten Teil werden Methodik, Ergebnisse und Langzeitverlauf seit Beginn der Studien dargestellt. Als vor 19 Jahren die erste Studie veröffentlicht wurde, war das Erschrecken in der Öffentlichkeit gross. Mit der zweijährlichen Wiederholung der Erhebung lassen sich Veränderungen feststellen. Die Werte sind immer noch erschreckend hoch und es besteht die Gefahr der Gewöhnung, insbesondere seit die AfD überraschend grossen Zulauf erhielt und im Bundestag vertreten ist.

2.503 Personen wurden in einer repräsentativen Befragung in die Studie einbezogen. Zum Einsatz kamen verschiedene selbst entwickelte und validierte Fragebogen, die sich zur Messung von rechtsextremen und anderen Einstellungen (wie Antisemitismus, Antifeminismus, Sozialdarwinismus, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Muslimfeindschaft, Antiziganismus, Homophobie etc.) eigneten. Da es immer wieder auffallende Differenzen in den Werten aus dem Osten und Westen Deutschlands gab, wurden sie entsprechend dargestellt. Im Osten sind die Werte teils signifikant höher als im Westen. Sie schwanken zwar zwischen den Jahren, 2020 wurden aber insbesondere im Osten wieder Werte auf der Höhe von 2002 gemessen. Bis 2014 wählten Menschen mit rechtsextremen Einstellungen hauptsächlich SPD und CDU, seither hauptsächlich AfD und (etwas weniger häufig) CDU. Es zeigt sich über die Jahre, dass der Ethnozentrismus zugenommen hat und sich die Neo-NS-Ideologie bei Rechtsextremen verfestigt hat. Rechtsextreme Einstellungen sind bei Menschen ohne Abitur zwei- bis dreimal häufiger zu finden als bei solchen mit Abitur. Am höchsten ist der Wert bei Menschen ohne Arbeit.

Im dritten Kapitel werden die «Zersetzungspotenziale einer politischen Kultur» untersucht. Nimmt der Glaube an Verschwörungstheorien angesichts einer Erodierung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes zu?

«Die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus Studie 2020 zeigen eine eindeutige statistische Beziehung zwischen Verschwörungsmentalität, fehlender Anerkennung von Pluralismus und genereller Intoleranz (im Sinne mangelnder Wertschätzung anderer), aber auch deren ungünstige Auswirkungen auf die Zufriedenheit und Legitimität der Demokratie» (S. 114).

Das vierte Kapitel ist der «Beteiligung, Solidarität und Anerkennung in der Arbeitswelt: industrial citizenship zur Stärkung der Demokratie» gewidmet. Industrial citizenship, was eine Beteiligung an Entscheidungen am Arbeitsplatz, eine Interessenvertretung der Arbeitenden, eine Kultur der Solidarität und ein kollektives Handeln unter Kollegen und Kolleginnen sowie eine Durchsetzungsfähigkeit und Wirksamkeit im Betrieb beinhaltet, erwies sich als protektiver Faktor für eine demokratische Orientierung.

In einem weiteren Beitrag wird der Wandel der AfD-Wählerschaft von 2014 bis 2020 untersucht. Die AfD-Wählerschaft lässt sich heute deutlicher in der bürgerlichen Mitte oder der oberen Mittelschicht verorten als zuvor. Sie sind eher männlich und mittleren Alters, angestellt oder höher qualifiziert und haben oft ein hohes monatliches Einkommen zur Verfügung. Aus der Arbeiterschicht hat die AfD Wähler und Wählerinnen verloren. Es sind konstant hohe Werte für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (insbesondere Muslimfeindlichkeit), Gewaltbereitschaft, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus festzustellen.

Im zweiten Buchteil folgen lesenswerte Studien zum autoritären Syndrom (Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feindlichkeit), zu Antisemitismus als antimodernem Ressentiment und zu Antifeminismus. Dem Kapitel «Aberglaube, Esoterik und Verschwörungsmentalität in Zeiten der Pandemie» möchte ich für unsere Leser und Leserinnen im Zusammenhang mit dem Titelthema dieses Heftes etwas mehr Raum geben.

Mit Bezug auf Adornos Studien zum autoritären Charakter (1950) stellen der Autor und die Autorinnen fest, dass sowohl Aberglaube als auch eine Verschwörungsmentalität zum autoritären Syndrom gehören. Seit Ende des 19. Jahrhunderts sind diverse esoterische Strömungen (wieder) aufgekommen, unter ihnen neue religiöse Bewegungen, Neuheidentum, New Age, Theosophie, aber auch Astrologie, Wahrsagen und Geisterglaube. Mit einem speziellen Fragebogen wurde in der LAS 2020 die Verschwörungsmentalität erfasst. Diese ist bei Menschen ohne Abitur signifikant höher. Zusammengefasst können Verschwörungsmentalität, Aberglaube und Esoterik in einer Form von Conspirituality erscheinen. Das Konzept vereint Grundüberzeugungen, dass eine kleine Gruppe heimlich versuche, die politische und soziale Ordnung zu kontrollieren. So wurde auch Covid-19 als eine Verschwörung betrachtet. Aus den Montagsdemonstrationen, die 2014 als Antikriegsdemonstration wegen des Kriegs in der Ukraine entstanden, wurden Anti-Covid-Demonstrationen, die teils Covid-19 leugneten und/oder die Politik der Regierung angriffen. Man wollte sich die Beschneidung der Grundrechte nicht gefallen lassen und bestritt die Legitimität der Regierung, dies zu tun. Neo-NS-Anhänger liefen mit, mit dem Ziel, die demokratische Ordnung zu stören und die Glaubwürdigkeit von Regierung und Parlament wie auch der Wissenschaft zu zerstören.

«Der statistische Einfluss von autoritärer Aggression findet seinen konkreten Niederschlag in esoterischen und Verschwörungs-Narrativen: Hierzu zählt die Vorstellung, ein ‹gesundes› Immunsystem oder die alternative Medizin reichten zu Abwehr des Virus aus, oder die Idee, Alte würden ohnehin bald sterben und sie ‹künstlich› am Leben zu erhalten, sei unnatürlich und kostspielig – eine Sichtweise, die sozialdarwinistische Tendenzen in sich trägt. Hier greifen also Ungleichheitsvorstellungen, und die autoritäre Aggression richtet sich – klassisch gegen schwächere Gruppen» (S. 303).

«Im Fall von Menschen, die zu einem esoterischen oder abergläubischen Weltbild neigen, fällt die Ablehnung einer etablierten Autorität mit der Unterwerfung unter die Autorität der Natur, der Sterne oder einer anderen übernatürliche Macht zusammen. Diese Autorität hat den Vorteil, nie schwach zu sein, weil sie – anders als personifizierte Autoritäten – nicht an der Realität gemessen werden können» (S. 305)

Im dritten Teil des Buches finden sich vier weitere Studien: «Kinder und Kindertagesstätten: Die Gestaltung demokratischer Alltagskultur in der ‹Vielfachkrise›»; «30 Jahre Mauerfall: Ein Perspektivenwechsel mit dem Projekt ‹Erinnern stören›»; «Zwischen Tradition und Moderne: Frauen in neuen rechten Gruppierungen»; «Antiziganismus im Ländle: Ein Bericht aus dem laufenden Prozess am Landgericht Ulm». Auch diese Beiträge sind äusserst spannend zu lesen.

Ich habe dieses Buch mit Gewinn gelesen. Es tut gut und weitet den Horizont, als Psychotherapeut mal wieder ein politisches und gesellschaftsbezogenes Buch zu autoritären Dynamiken zu lesen. Die Probleme, die unsere Patientinnen und Patienten in die Therapie bringen, sind immer auch vor dem zeitgeschichtlichen gesellschaftlichen Hintergrund zu betrachten. Und wenn ich auf manche Entwicklungen in der Psychotherapie zum Ende des letzten Jahrhunderts schaue, hat sich auch in unserer Berufswelt Esoterisches und Abergläubisches eingenistet, oft nicht kritisch hinterfragt. Und als ich die Dispute auch unter Berufskolleginnen und -kollegen während der Corona-Krise mitverfolgte, erkannte ich auch hier eine Anfälligkeit zu einer Verschwörungsmentalität. Die Frage, wie weit auch wir zur gesellschaftlichen Mitte gehören, die in autoritären Dynamiken mitverstrickt sind und in unseren Therapien latente entsprechende Inhalte und Werte tradieren, gehört selbstkritisch reflektiert. Es sind ja nicht nur unsere Patientinnen und Patienten Teil der Gesellschaft und deren politischen Feldbedingungen ausgesetzt, gerade in Zeiten der Pandemie, sondern auch wir Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

So setzt das Buch auch für unseren Berufsstand wertvolle Impulse.

Peter Schulthess