Fernanda Pedrina (2020). Babys und Kleinkinder in Not.
Psychopathologie und Behandlung

Frankfurt/M.: Brandes & Apsel
ISBN: 978-3-9555-8272-8
348 S., 39,90 EUR, 52,90 CHF

Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 75–77 2021

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-1-75

Psychotherapie in der frühen Kindheit ist ein relativ neues Fachgebiet. Es nahm seine Anfänge in den 1980er Jahren. In den ersten Lebensmonaten eines Kindes stehen krankmachende Prozesse, die sich im engen gegenseitigen Austausch der primären Beziehungen abspielen, im Vordergrund. Die Behandlung der Wahl ist deshalb zumeist eine Eltern-Säugling/Kleinkind-Psychotherapie, die ihren Fokus auf das aktuelle interaktive Geschehen in der Therapiesitzung legt. Die Beeinträchtigung von Bindung wurde quasi als Paradigma für das Verständnis fast aller frühkindlichen psychischen Störungen dargestellt und deren Wiedergutmachung, sei es mit den primären Bezugspersonen oder mit zugewandten Pflegepersonen, zum Ziel der Therapie erklärt.

Die Autorin, Fernanda Pedrina, ist Psychoanalytikerin und Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie in Zürich und bringt eine reiche Erfahrung im Fachgebiet mit. Sie ist Mitbegründerin des Zentrums für Entwicklungspsychotherapie Zürich (2010).

Das Buch, das sie hier vorlegt, ist eine beeindruckende Übersicht über das Gebiet der Säuglings- und Kleinkinderpsychotherapie. Es ist in zwei Teile aufgeteilt; im ersten werden Grundsätze der Psychotherapie in der frühen Kindheit geschildert, im zweiten störungsspezifische Erkenntnisse und Behandlungsansätze, wobei Pedrina sich am speziell für Störungen im Kleinkindesalter entwickelten aktuellen Diagnostik-Manual DC:0-5 orientiert.

Das Buch wirkt so wie ein umfassendes Lehrbuch, in das die fast 40-jährige klinische Erfahrung der Autorin (und in einigen Beiträgen auch der Mitautorinnen) eingeflossen ist. Da Arbeit mit Säuglingen im vorsprachlichen Bereich erfolgen muss, beschreibt Pedrina Grundlagen der averbalen Kommunikation in der frühen Kindheit. Sie verweist auf die Studien von Daniel Stern und das Konzept einer kommunikativen Musikalität. Über Töne, Stimme und musikalische Mittel kann mit einem Säugling (bereits pränatal, Anmerkung des Schreibenden) kommuniziert werden. Die Einstimmung der primären Bezugspersonen in die Beziehung zum Säugling, auch über Berührung und Tanz, ist eine wichtige Grundlage für dessen künftige Entwicklung. Ein Fallbeispiel zeigt, wie damit konkret gearbeitet werden kann.

Die Buchkapitel haben alle eine ähnliche Grundstruktur: Erst folgen theoretische Erläuterungen und Ausführungen zum Stand der Forschung, dann Überlegungen zur therapeutischen Praxis, die mit einem Fallbeispiel veranschaulicht werden.

Das zweiten Kapitel ist der frühen Eltern-Kind-Beziehung und ihren Störungen gewidmet. Pedrina beschreibt eine entwicklungs- und beziehungsorientierte Behandlungstechnik in der Eltern-Säugling/Kleinkind-Psychotherapie. Sie reflektiert auch Störungen, die in einer psychischen Krankheit der Eltern begründet sind, und zeigt Wege, wie trotzdem, über Spiel und Kontakt, an einer Verbesserung der Beziehung gearbeitet werden kann.

Dem Thema Spiel und Kreativität ist das anschliessende Kapitel gewidmet. Kommunikation über Spiel und Kreativität fördert die Symbolisierungs- und Mentalisierungsfähigkeit des Kleinkindes. Das Praxisbeispiel zeigt anschaulich, wie damit klinisch gearbeitet werden kann und die Eltern ermutigt werden können, zu spielen und ihre eigene Kreativität zu nutzen.

Ein schwieriges Thema ist die «verletzte Elternschaft», wenn Kinder etwa aufgrund einer Kindesschutzmassnahme fremdplatziert werden müssen. Möglichkeiten zur Unterstützung der Eltern in dieser schwierigen Phase werden erläutert. Den Abschluss des ersten Buchteils bildet das Kapitel «Elternschaft, Migration und Kultur». Mit Menschen aus anderen Kulturen muss sehr kultursensibel vorgegangen werden. Fachpersonen müssen sich über ihre therapeutische Grundausbildung hinaus eine transkulturelle Kompetenz erwerben, um PatientInnen mit Migrationshintergrund besser gerecht zu werden. Kulturell unterschiedliche Verständnisse von Störungen oder Krankheiten und manchmal ein generelles Misstrauen gegen das westliche Verständnis und die hiesigen Heilmethoden gehören beachtet. Traumatische Ereignisse während der Migration und damit verbundene Trennungserfahrungen erschüttern nicht nur die Eltern, sondern beeinträchtigen auch das Kleinkind in seinen Beziehungsmustern und seinem Grundvertrauen.

Im störungsspezifischen Teil des Buches werden erst Ängste und Angststörungen in der frühen Kindheit erörtert, mit einem Fokus auf der Trennungsangst. Das Kapitel entstand in Zusammenarbeit mit Pamela Walker. Für die Bearbeitung solcher Störungen gibt es bereits zwei psychoanalytische Manuale. Eine Fallstudie veranschaulicht die Arbeitsweise.

Emotionaler Rückzug des Säuglings oder Kleinkinds und frühkindliche Depression werden danach geschildert. Entwicklungspsychopathologische und klinische Befunde zeigen, dass Kleinkinder schon vor ihrem dritten Lebensjahr an depressiven Episoden erkranken können. Als untere Grenze nimmt man das Alter von 18–24 Monaten an. Die therapeutische Vorgehensweise wird wiederum durch ein Fallbeispiel veranschaulicht.

Stress, Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung sind Thema eines weiteren Kapitels. Galt bis in die 1990er Jahre die Hypothese, dass Traumata bei Kleinkindern nur kurzfristige Beeinträchtigungen bewirken, so zeigte die Forschung und klinische Erfahrung, dass diese Annahme revidiert werden musste. PTBS muss bereits im Kleinkindalter behandelt werden. Stress wird dann zum Trauma, wenn das Erlebte eine derartige Intensität erreicht, dass das Kind dem nichts entgegenhalten kann und in seiner Integrität bedroht ist.

Auch emotionale Deprivation und Misshandlung führen bereits im Kleinkindalter zu komplexen Traumafolgestörungen, wie die Autorin im anschliessenden Kapitel erläutert. Ein neuer Vorschlag für die diagnostische Klassifikation ist das DTD (Developmental Trauma Disorder).

Das folgende Kapitel (verfasst zusammen mit Maria Mögel) behandelt Bindungsstörungen und ihre Prävention. Ursache sind in aller Regel emotionale Deprivationserfahrungen im ersten Lebensjahr.

Frühkindliche Essstörungen sind eine interdisziplinäre Herausforderung und müssen manchmal ambulant, manchmal aber auch stationär behandelt werden. Dieses Kapitel erfolgte in Zusammenarbeit mit Monika Strauss. Es ist sehr schwierig, zu erkennen, was der Grund für die Nahrungsverweigerung im Säuglingsalter sein kann. Nicht immer ist die Verweigerung Ausdruck einer Beziehungsproblematik, sondern hat somatische Ursachen. Wie Eltern damit umgehen, kann aber wiederum zu einer Beziehungsproblematik führen.

Ein weiteres Kapitel widmet sich neurologisch bedingter Entwicklungsstörungen. Beschrieben werden eine Frühdiagnostik und Beratung bei frühen Zeichen von Autismus und ADHS. Im DC:0-5 werden sie als «Neurodevelopmental Disorders» bezeichnet. Erläutert werden neurologische und psychologische Aspekte.

Das Buch besticht durch seinen klaren Aufbau in jedem Kapitel. Metatheorie und Praxistheorie werden verbunden und je mit einem Fallbeispiel illustriert.

Möge das Buch dazu beitragen, dass es vermehrt PsychotherapeutInnen gibt, die sich auf die Therapie mit Säuglingen und Kleinkindern bzw. auf die Therapie der Beziehung zwischen diesen und deren primären Bezugspersonen spezialisieren. So viele Folgeschäden im späteren Kindesalter und im Erwachsenenalter könnten vermieden werden, wenn psychische Erkrankungen bereits im Säuglings- und Kleinkindalter erkannt und behandelt würden.

Ich empfehle dieses Buch allen Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen, aber auch ErwachsenenpsychotherapeutInnen. Es bietet für beide eine Fülle von Informationen, die für die Therapiepraxis und das Verständnis der Genese so mancher psychischen Störung wichtig sind. Auch ErwachsenentherapeutInnen sind mit der Thematik konfrontiert, etwa wenn Mütter über Schwierigkeiten mit ihren Säuglingen und Kleinkindern berichten.

Peter Schulthess