Hans Trüb (2020). Welt und Selbst.
Bausteine einer modernen Psychotherapie

Grevelsberg: EHP
ISBN: 978-3-89797-117-2
224 S., 26,99 EUR, 28,55 CHF

Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 74–75 2021

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-1-74

Wann begann die relationale bzw. intersubjektive Wende in der Psychotherapie? In den 70er oder 80er Jahren, oder gar später? In diesem Buch lernen wir, dass sie schon in den 20er, 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts vorgespurt wurde.

Hans Trüb war ein Zürcher Psychiater und Psychotherapeut und lebte von 1889–1949. An der Psychiatrischen Klinik Burghölzli lernte er C. G. Jung kennen und schätzen, war bei ihm in Analyse und liess sich zehn Jahre von ihm prägen. Nach seiner ärztlichen Ausbildung liess er sich in freier Praxis nieder. Die Beziehung zu Jung fand ein abruptes Ende, als er zum Ende seines Individuationsprozesses diesen hart zu kritisieren begann. Trüb wendete sich Martin Buber zu, dessen dialogische Philosophie er mit der analytischen Psychologie zu verbinden suchte. Er bemängelte an der Analytischen Psychologie, dass das TherapeutIn-PatientIn-Verhältnis hierarchisch gestaltet war. AnalytikerInnen waren die Fachpersonen, die dies mit ihren Deutungen unter Beweis stellten, PatientInnen waren die Untersuchungsobjekte. Zudem sei die Jung’sche Psychologie zu sehr eine individualistische Therapie und würde die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen psychische Leiden entstanden, nicht oder ungenügend reflektieren. Im Gegensatz dazu fand er bei Buber ein Konzept der Begegnung im therapeutischen Kontakt, wo von Mensch zu Mensch eine seelische Berührung entsteht, die heilend wirkt. Trübs Hauptwerk trägt denn auch den Titel Heilung aus der Begegnung. Es erschien 1951 als unvollendetes Werk posthum und wurde 2015 neu aufgelegt. Der ursprüngliche Untertitel lautete Eine Auseinandersetzung mit der Psychologie C. G. Jungs. In der Neuauflage wurde er geändert in Überlegungen zu einer dialogischen Psychotherapie. Der frühere Untertitel provozierte zu viel Widerstand bei Jung und einigen seiner KollegInnen. Der neue zeigt besser auf, dass es Trüb nicht einfach um eine Kritik Jungs ging, sondern dass er Bubers dialogisches Prinzip in seine psychotherapeutische Praxis einbaute und auf dem Fundament der Analytischen Psychologie eine ganzheitliche Psychologie entwerfen wollte, die er manchen Ortes auch als Psychosynthese bezeichnete. Leider ist dieser letzte Teil nicht vollendet worden, da Trüb mitten im Schreibprozess einem Herzinfarkt erlag. Skizzen und Fragmente zeigen, was er, in Vorträgen bereits getan, gern noch im Buch genauer ausgeführt hätte.

Das Buch Welt und Selbst ist in drei Teile gegliedert. Zuerst sind verschiedene Beiträge von Trüb wiedergegeben, die in Zeitschriften publiziert worden sind. Sie sind unzusammenhängend, zeigen verschiedene Facetten dieses Autors und tragen folgende Titel: «Eine Szene im Sprechzimmer des Arztes»; «Aus dem Winkel meines Sprechzimmers»; Individuation, Schuld und Entscheidung. Über die Grenzen der Psychologie»; «Psychosynthese als seelisch-geistiger Heilungsprozess»; «Vom Selbst zur Welt»; «Der zwiefache Auftrag des Psychotherapeuten». Einmal beschreibt er selbstkritisch das Leiden des Arztes an seinem eigenen Leben und an der Therapie mit seinen PatientInnen und gibt dabei viel Persönliches aus der eigenen Lebensgeschichte Preis. Dann thematisiert er, wie beschränkt der psychotherapeutische Blick aus dem immer selben Winkel des Sprechzimmers ist. Auch setzt er sich mit dem Individuationsprozess in Jungs Analytischer Psychologie auseinander und zeigt aus seiner Sicht die Grenzen der Psychologie auf. Mit «Entscheidung» meint er, dass PatientInnen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und anerkennen, dass auch sie den psychotherapeutischen Prozess mitgestalten. Mit der Verantwortung für sich selbst, übernehmen sie aber zugleich Verantwortung für das «Du», für andere, für die Gestaltung von Beziehungen zu anderen bzw. für die Mitgestaltung der Umwelt. Im Beitrag zur Psychosynthese veranschaulicht Trüb seinen neuen Ansatz in der Therapie. Wenn er vom zwiefachen Auftrag der PsychotherapeutInnen schreibt, meint er, dass es darum geht, das Leiden eines Menschen nicht bloss als Störung des Seele-Welt-Verhältnisses zu verstehen, sondern zu beachten, «dass die Neurose ihre Ursache nicht nur in der Seele, sondern auch in der Welt hat» (S. 87). Einerseits sollen PsychotherapeutInnen sich als Mensch in die therapeutische Begegnung eingeben, andererseits aber doch eine Abgrenzung in der beruflichen Rolle einhalten.

Im zweiten Teil des Buches finden sich bisher nicht publizierte Schriften aus dem Nachlass: «Unheimliche Gestalten des Alltags»; «Ich selbst und die Welt»; sowie ausgewählte Briefe, etwa an Theophil Spoerri, Professor für Romanistik an der Universität Zürich und enger Freund von Trüb, Martin Buber und Ernst Michel, einem evangelischen Theologen.

Den dritten Teil bilden zwei Nachworte. Sehr spannend zu lesen ist das Nachwort des Editors und Historikers Nadir Weber: «Vom Selbst zur Welt: Zur intellektuellen Biografie von Hans Trüb». Er zeichnet Leben und Wirken von Hans Trüb in kompakter Weise nach und stellt sie in den historischen Zusammenhang der Folgen des Zweiten Weltkrieges und der paradigmatisch notwendigen Neuorientierung der Psychologie und Psychotherapie. Trüb wurde oft als undankbarer Kritiker Jungs missverstanden, mal in den berühmten «Psychologischen Club» um Jung und der amerikanischen Millionärin Edith Rockefeller McCormick in Zürich einbezogen, dann ausgeschlossen und später wieder einbezogen. Letztlich wurde er aber dank seiner Publikationen etwa in der Psyche als Begründer einer eigenständigen Dialogischen Psychotherapie gewürdigt. Der Gestalttherapeut Frank Staemmler würdigt Trüb im anderen Nachwort mit dem Titel «Menschliches Leid und persönliche Verantwortung: Hans Trübs Antizipation von aktuellen Fragen der Psychotherapie».

Das Buch bietet einen wichtigen Einblick in die Zürcher Psychotherapieszene und deren Denkweisen der 1920er, 30er und 40er Jahre. Es ist ein interessantes Geschichtsbuch für PsychotherapeutInnen, das ich gern zur Lektüre empfehle. Es ist sehr sorgfältig editiert. Trüb vermittelt Bausteine einer modernen Psychotherapie, wie sie in aktuellen relationalen Konzepten der Psychotherapie wieder aufgenommen und weiterentwickelt wurden. Interessant ist auch, wie er streng zwischen der Psychologie als Wissenschaft und der Psychotherapie als Praxis unterscheidet.

Peter Schulthess