Rosmarie Barwinski (2020). Steuerungsprozesse in der Psychodynamischen Traumatherapie

Stuttgart: Klett-Cotta
ISBN: 978-3-6089-6424-0
272 S., 32,00 EUR, 47,90 CHF

Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 72–73 2021

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-1-62

Rosmarie Barwinski ist Psychoanalytikerin und Leiterin des Schweizer Instituts für Psychotraumatologie (SIPT). Mit diesem Buch legt sie ein Werk vor, das sich als Übersichts- und Lehrbuch für die Traumabehandlung eignet. Sie plädiert für eine Behandlungsmodell, das der therapeutischen Beziehung einen hohen Stellenwert beimisst, da die Wiederherstellung der durch das Trauma zerstörten Selbststrukturen nur in der Beziehung möglich ist. Damit hebt sie sich ab von Trauma-Behandlungsansätzen, die sich auf die blosse Anwendung von Techniken zur Symptombeseitigung beschränken und die Reflexion des Beziehungsgeschehens vernachlässigen. Solche Behandlungsansätze sind mittlerweile wissenschaftlich als nicht wirkungsvoll oder gar als schädlich erkannt worden.

Die Autorin gliedert ihr Buch in drei Teile. In Teil 1 geht sie der Frage nach, wie sich ein Trauma innerseelisch repräsentiert. Sie referiert hier Erkenntnisse aus der Kognitionspsychologie mit dem Fokus auf die Frage, in welchem der drei Gedächtnisarten (implizit-prozedurales Gedächtnis, explizit-prozedurales Gedächtnis, autobiografisches Gedächtnis) traumatische Erlebnisse gespeichert werden und wie sie erinnert werden können. Danach beschreibt Barwinski die Repräsentation traumatischer Erfahrungen aus entwicklungspsychologischer Sicht. Sie bezieht sich hier auf das triadische Modell der Semiotik (Zeichentheorie) von Charles Peirce und auf die Bildung von Repräsentanzen nach Jean Piaget. Sie beschreibt Entwicklungsstufen der Repräsentanzbildung, die Ausdrucksformen von Erinnerungen sowie das Mentalisierungskonzept und dessen Nützlichkeit für die Traumaverarbeitung. Schliesslich geht die Autorin auf die Organisation von Symbolisierungsprozessen ein. Sie bezieht sich hier auf Anna Aragno, die die psychoanalytischen Theorien der Repräsentanzbildung und Symbolisierung mit der Stufentheorie von Piaget sowie mit Konzepten der Semiotik verbindet. Heinrich Deserno entwickelte ein vierdimensionales Symbolisierungsschema, das Barwinski für das Verständnis von Traumaprozessen wichtig erscheint. Die Autorin stellt zu Beginn von Teil 1 einige Fallvignetten vor, auf die sie sich in den verschiedenen Kapiteln und auch den folgenden Teilen 2 und 3 zur Illustration immer wieder bezieht. Den Abschluss von Teil 1 bildet ein Kapitel zur Frage, was Traumabearbeitung brauche. Barwinski hebt hervor, dass die Therapie etwas Drittes sei, an dem TherapeutIn und PatientIn beteiligt seien. Sie beschreibt die Bedeutung des Umgangs mit Übertragung und Gegenübertragungsphänomenen und betrachtet diese aus gedächtnispsychologischer und neurobiologscher Sicht. Eine Darstellung von sechs unterscheidbaren Stufen der Ausdrucksformen traumatischer Erfahrungen und deren Mitteilung schliesst Teil 1 ab.

Teil 2 trägt den Titel «Welche Theorien beschreiben, wie Traumatherapie funktioniert?» Aufbauend auf Teil 1 stellt die Autorin ihr eigenes Modell zur Traumabearbeitung weiter vor und zieht Theoriemodelle heran, die das Funktionieren von Traumatherapie erklären können. Entwicklung wird als Konstruktionsprozess verstanden. Ausgehend von ihrem 6-Stufenmodell stellt sich die Frage, wie PatientInnen von einer tieferen auf eine nächsthöhere Stufe gelangen können. Ausdrucksformen traumatischer Erfahrungen können gleichzeitig auf verschiedenen Symbolisierungsstufen repräsentiert sein. Dabei kann es zu Widersprüchen kommen, die Barwinski mit Bezug auf den Philosophen Thomas Kesselring als Antinomien (sich gegenseitig negierende und zugleich implizierende Seiten) bezeichnet. Diese erzeugen eine Spannung und können den Integrationsprozess blockieren. Die Lösung des Antinomie-Problems wird in einem ersten Schritt über die Differenzierung der der Antinomie zugrunde liegenden widersprüchlichen Symbolisierungsstufen möglich. In einem weiteren Kapitel beschreibt die Autorin die Aufhebung von Blockaden durch Lösung von Widersprüchen. Sie bezieht sich hier auf das allgemeine dialektische Veränderungsmodell (DVM) von Gottfried Fischer. Nach der Dekonstruktion eines pathogenen Beziehungsschemas kann ein Neuentwurf von Beziehungsmöglichkeiten erfolgen. Barwinski zeigt ein 5-Punkte-Programm zur Lösung von Widersprüchen im Trauma-Verarbeitungsprozess: 1. Problematisches Verhalten ausfindig machen; 2. Bestimmung eines Gegenpols zum problematischen Verhalten; 3. Suche nach positiven Komponenten der beiden problematischen Beziehungsmuster; 4. Verknüpfung der beiden positiven Komponenten; 5. Suche nach einer Haltung, wie die beiden positiven Komponenten umgesetzt werden können. Diese Punkteabfolge wird durch ein Praxisbeispiel veranschaulicht. Sie betont, wie wichtig eine für die Entwicklung der PatientInnen förderliche Haltung ist und illustriert dies wiederum anhand von Praxisbeispielen. Den Abschluss dieses Teils bildet ein Kapitel über die Bedeutung der Fantasien bei der Traumabehandlung.

In Teil 3 des Buches beschreibt Barwinski andere Therapieansätze, die in der Traumabehandlung zur Anwendung kommen, und ordnet sie in ihr Stufenmodell ein. So beschreibt sie die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie, die einerseits eine Langzeit-Expositionstherapie (PE) entwickelt hat und andererseits die Cognitive Processing Therapy (CPT). PE ist auf 15 Sitzungen terminiert. Beide Verfahren können nur angewendet werden, wenn PatientInnen sich deutlich erinnern und darüber sprechen können, was bei schwer Traumatisierten oft nicht möglich ist. Erörtert wird auch die Narrative Expositionstherapie (NET). Diese kombiniert Elemente der Testimony Therapy mit klassisch verhaltenstherapeutischen Expositionsmethoden. Auch dieses Modell hat Grenzen und soll nur bei bestimmten Stufen angewendet werden. EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) ist ein Konfrontationsverfahren, in das nebst den Erkenntnissen aus der neurobiologischen Forschung Erfahrungen aus der kognitiv-behavioralen Therapie einfliessen. Wie bei den beiden bereits vorgestellten Verfahren besteht auch bei EMDR die Gefahr einer Retraumatisierung. Die besondere Beziehungsdynamik, die sich aufgrund traumatischer Erfahrungen entfaltet, wird nicht thematisiert. Die strukturelle Dissoziation nach Nijenhuis, van der Hart und Steele nutzt die Dissoziation als natürliche Reaktion auf ein Trauma zur Therapie. Die Psyche spaltet sich in zwei oder mehrere Teile auf. Diese wollen erkannt und als zum eigenen Selbst gehörig miteinander in Verbindung gebracht werden, um wieder integriert zu werden. Ob die methodische Vorgehensweise zum gewünschten Erfolg führen kann, ist nach Meinung der Autorin stark davon abhängig, ob durch die Bearbeitung der Übertragung der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung möglich wird.

Im letzten Kapitel dieses Teils werden psychodynamische Verfahren zur Traumabearbeitung vorgestellt. Die Ego-State-Therapie basiert auf der Theorie, dass die Persönlichkeit aus verschiedenen Ich-Anteilen (Ego-States) besteht. Diese Anteile sind beschreibbare und umgrenzte «Unterpersönlichkeiten». Die Therapie soll helfen, diese Ich-Anteile wieder zusammenzuführen. Die PITT (Psychodynamisch-Imaginative Traumatherapie) wurde von Luise Reddemann entwickelt. Die Fähigkeit vieler TraumapatientInnen, innere Gegenwelten zu den traumatischen Erfahrungen zu schaffen, wird systematisch genutzt. Die Wurzeln liegen in der psychoanalytischen und psychodynamischen Therapie, doch werden Einflüsse auch aus vielen verschiedenen Therapierichtungen aufgenommen. Barwinski erläutert auch die RPT (Ressourcenbasierte Psychodynamische Therapie) und die MPTT (Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie). Erstere geht auf Wolfgang Wöller zurück und setzt den Schwerpunkt auf chronische Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen. Letztere geht auf Gottfried Fischers Kausale Psychotherapie zurück, die er als Gegensatz zu einer lediglich symptombezogenen Behandlung verstand und die einen Vorrang der Beziehungsgestaltung vor der Technik postuliert.

Abschliessend meint Barwinski, dass sie von der Hypothese ausgehe, dass die Repräsentation traumatischen Erlebens ähnliche Stufen durchlaufe wie die Repräsentanzbildung in der kindlichen Entwicklung.

Das Buch vermittelt eine Fülle von Wissen. Es ist der Autorin gut gelungen, ihren eigenen Ansatz zu begründen und darzustellen und andere bestehende Ansätze zur Traumabehandlung dazu in Beziehung zu setzen. Ich habe das Buch mit Gewinn gelesen und wünsche ihm eine gute Verbreitung.

Peter Schulthess