Lutz Hieber & Wielant Machleidt (2020). Zwischen den Kulturen.
Integrationschancen für Migrantinnen und Migranten

Gießen: Psychosozial-Verlag
ISBN: 978-3-8379-3025-2
164 S. 19,90 EUR, 31,90 CHF

Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 71–72 2021

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-1-71

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Ebenso die Schweiz. Und das nicht nur die letzten Jahrzehnte, sondern auch historisch. Ob man es wahrhaben will oder nicht. Und es braucht mehr als das Erlernen einer Sprache, um sich integrieren zu können. Menschen, die aus anderen Kulturen zu uns kommen, brauchen auch eine Einführung in die Kultur des Ankunftslandes, in etablierte Lebensgewohnheiten und Umgangsformen. Und sie brauchen Zugang zu Bildung und zur Arbeitswelt. Der Erwerb von Fähigkeiten, die für ein Leben im Ankunftsland förderlich sind, schafft die Voraussetzungen für produktives Mitwirken.

Die beiden Autoren Lutz Hieber und Wielant Machleidt boten der Stadt Hannover im Anschluss an ein Weiterbildungsseminar für SozialarbeiterInnen ein vertiefendes Fortsetzungsprogramm an. Doch die Stadt winkte ab. So entstand die Idee, das Wissen, das sie vermitteln wollten, in Buchform zu fassen und so zugänglich zu machen.

Das Buch ist in zwei Teile geteilt: Lutz Hieber, Prof. em. für Soziologie an der Leibniz Universität Hannover, schrieb den ersten Teil: «Einwanderungsland Deutschland: Theorie und Praxis interkultureller Kompetenz». Wielant Machleidt, Prof. em. für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover, verfasste den zweiten Teil: «Leben zwischen den Kulturen: Migration verstehen».

Lutz Hieber beschreibt als Soziologe die Migrations-Gegenwart in Deutschland. Unsichtbare Mauern erschweren die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Kulturelle Unterschiede bedeuten auch unterschiedliches Situationsverhalten. Sprachkenntnisse allein helfen nicht, einen gewachsenen kulturellen Habitus zu überwinden. Hieber verwendet den Begriff des Kulturellen Unbewussten aus der Kultursoziologie, um Licht in diese Verhältnisse zu bringen. Mit Beispielen aus der Kulturgeschichte zeigt er das Disjunktionsprinzip auf. Fremdes wird in den bestehenden Denkhorizont eingepasst. Des Weiteren erläutert er mit Bezug auf Bourdieu den Begriff des Habitus, der als «ein System verinnerlichter Muster, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungsweisen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese.» In Migrationsprozessen prallen zwei verschiedene Kulturelle Unbewusste zusammen, als «durch Bildung in der jeweiligen Kultur erworbener und in ständigem Gebrauch inkorporierten Bestand an Verhaltensweisen und Denkschemata». MigrantInnen können nur im Ankunftsland Fuss fassen, wenn sie eine Einführung in die Kulturgeschichte des neuen Landes erhalten. Umgekehrt kann das Verhalten von Einwanderern in der neuen Kultur nur verstanden werden, wenn das gastgebende Land sich auch mit der Kulturgeschichte der Herkunftsländer befasst. Nur so können gegenseitige Ängste reduziert und ein Interesse für Differenzen gefördert werden.

Im Kapitel über das Einwanderungsland Deutschland zeichnet er eine mangelhafte Reflektivität im Nachkriegsdeutschland. Das Kapitel «Ankommen und Leben» enthält interessante Bezüge zu griechischen Philosophen, Karl Marx und zur digitalen Veränderung der Kommunikationstechnik und -kultur. Das Lernverhalten in kollektiven und westlichen Kulturen ist konträr: dort die Konzentration auf die Autorität, die Wissen vermittelt, hier die Ermutigung zu selbstorganisiertem Lernen. Im Praxisteil zeigt er exemplarisch in verschiedenen Bereichen auf, wie MigrantInnen an die Kultur des Ankunftslandes herangeführt werden können. Er empfiehlt insbesondere die Verwendung von Bildern durch Besuche in Kunst- und historische Museen.

Aus der Sicht eines Psychiaters und Psychotherapeuten ist der zweite Teil von Wielant Machleidt geschrieben. Zu Beginn hält er fest, dass der Homo sapiens stets ein Homo migrans war und ist. Migration ist nichts Neues, ist aber stets mit Fremdheitserfahrungen verbunden. Diese sind unvermeidlich, die Frage ist, wie mit ihnen umgegangen werden kann, sodass eine kulturelle Integration gelingen kann. Integration meint nicht Anpassung an die Kultur des Ankunftsland unter Verleugnung der Kultur des Herkunftslandes, vielmehr haben beide ihren Wert. Integration bedeutet auch eine psychische Integration unterschiedlicher Wertsysteme. Das führt zu einem Identitätswandel und zur Bildung einer bikulturellen Identität. Machleidt sieht Integration als einen Wachstumsprozess in einer Übergangsphase, vergleichbar mit der Adoleszenz. Er spricht von einer kulturellen Adoleszenz. «Beim Aufeinandertreffen der Sinn- und Bedeutungsgehalte zweier kultureller Kontexte kommt es unausweichlich zu Irritation und Infragestellung der bisher als selbstverständlich erlebten Werte, Normen und Zugehörigkeiten». Migration ist keine Krankheit und muss auch nicht zu psychischen Störungen führen. Sie ist eine anthropologische Konstante. Die Erhaltung psychischer Gesundheit von MigrantInnen kann präventiv wesentlich durch ein Zusammenwirken sozialer, gesellschaftlicher und politischer Akteure positiv beeinflusst werden.

Das Kapitel «Begegnung mit dem Fremden» beginnt Machleidt mit einer Reflexion des Wortes «fremd». Es hat die Bedeutung von «Fernher-Sein», «Nicht-Eigen-Sein» uns «Nicht-Angehören». «Das Fremde ist eine Differenzerfahrung im Selbst und spiegelt das subjektive Fremdheitsgefühl zum anderen.» Es wird zu einer Beziehungsdefinition. Gelernt werden muss ein Umgang mit dem Fremden, in einem Wechselspiel zwischen Auflösung und Bewahrung sowie Annäherung und Distanzierung. Der Autor berührt auch Themen wie «Selbstaufwertung durch Abwertung der Fremden» und «Fremdenhass». Psychoanalytische Konzepte geben den Bezugsrahmen zur Erklärung solcher Phänomene. In einem Kapitel zur Psychischen Gesundheit von MigrantInnen und Geflüchteten beschreibt er die psychische Belastung etwa von Kriegsflüchtlingen und die entsprechend erschwerte Akkulturation. Mit Blick auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft geht er der Frage der möglichen Transmission der Vulnerabilität der Eltern im Migrationsprozess auf die Kinder nach. Mit Fallbeispielen werden seine Ausführungen illustriert. Höchst relevant sind auch seine Ausführungen zum Umgang mit MigrantInnen im Gesundheitssystem. Er schliesst den zweiten Buchteil ab mit Überlegungen zu einer Bewältigung von Fremdenangst in Staat und Gesellschaft.

Das Buch bietet viele wertvolle Vertiefungen aus soziologischer, pädagogischer und psychotherapeutischer Sicht zum Thema «Zwischen den Kulturen». Ich empfehle es allen PsychotherapeutInnen zur Lektüre, gibt es doch kaum mehr Praktizierende, die in ihrer klinischen Praxis nicht auch mit Personen aus anderen Kulturkreisen arbeiten.

Peter Schulthess