Wie können psychische Folgen der Covid-19-Pandemie konstruktiv bewältigt werden?

Rosmarie Barwinski & Oliver Christen

Psychotherapie-Wissenschaft 11 (1) 11–16 2021

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-1-11

Zusammenfassung: Die durch Covid-19 ausgelöste Pandemie wird von einem grossen Teil der Bevölkerung der betroffenen Länder, auch in der Schweiz, als sehr bedrohlich wahrgenommen. Die Erfahrung, dass die Pandemie auch das eigene Land erreicht hat, wurde von vielen Menschen als Schock erlebt. Von Regierungen wurden Massnahmen ergriffen, die weitreichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens verlangten. Hinzu kam und kommt die wirtschaftliche Unsicherheit. Mit der «zweiten Welle» wurden wiederum Regelungen in Kraft gesetzt, die die Existenz vieler klein- und mittelgrosser Betriebe infrage stellen und viele Menschen um ihren Arbeitsplatz bangen lassen. Wann die zur Eindämmung der Pandemie getroffenen Bestimmungen gelockert oder aufgehoben werden, ist bis dato ungewiss. Der durch die Massnahmen entstandene Schaden ist inzwischen hochevident. Mit der wirtschaftlichen Unsicherheit und der Ungewissheit, wie lange die Einschränkungen noch Gültigkeit haben, gehen schwerwiegende psychische Folgen einher. Im Beitrag wird aufgezeigt, wie eine «dialektische Haltung» Hilfestellung leistet, um einen Diskussionsraum zu eröffnen und Polarisierungen kollektiv zu überwinden.

Schlüsselwörter: Pandemie, Arbeitslosigkeit, kumulatives Trauma, Dialektik, Arbeitslosigkeit

Einleitung

Die durch Covid-19 ausgelöste Pandemie wird von einem grossen Teil der Bevölkerung der betroffenen Länder als sehr belastend erlebt. In der Schweiz haben zu Beginn der Pandemie vor allem die Bilder der überfüllten Intensivstationen im geografisch nahen und durch seine Grenzgänger*innen wirtschaftlich eng verbundenen Italien schockiert. Zusammen mit der Mitteilung, dass nicht alle Infizierten mit schweren, lebensbedrohlichen Symptomen medizinische Versorgung erhalten, hat dies zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht beigetragen. Die Verknüpfung der menschenleeren Strassen und öffentlichen Verkehrsmittel, des eingestellten Schulbetriebs, der geschlossenen Geschäfte, Restaurants, Bars sowie aller Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe mit den täglich eintreffenden neuen Todeszahlen von Opfern der Pandemie hat die Angst vieler Menschen in einem Ausmass verstärkt, sodass subjektive Bewältigungsversuche versagen.

Von den Regierungen der von der Pandemie betroffenen Länder wurden binnen weniger Tage Massnahmen ergriffen, die niemand erwartet hatte. Es trat ein Kriegszeiten ähnlicher Zustand ein, den in der Schweiz nur wenige ältere Menschen bisher erlebt hatten. Hinzu kommt die wirtschaftliche Unsicherheit. Vor allem Kleinstunternehmen und Selbstständigerwerbende befürchteten und befürchten den Verlust ihrer finanziellen Existenzgrundlage. Mit der «zweiten Welle» wurden wiederum Massnahmen verordnet, die die Existenz vieler kleiner und mittelgrosser Betriebe infrage stellen und viele Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten lassen. Wann die zur Eindämmung der Pandemie getroffenen Bestimmungen gelockert oder aufgehoben werden, ist bis dato ungewiss. Erneut erschrecken Bilder aus Kliniken, diesmal aus der Schweiz, die Menschen und verstärken ihre Ängste vor einer möglichen Infektion.

Psychische Folgen der Pandemie

Der durch die Massnahmen entstandene Schaden ist inzwischen hochevident. Mit der wirtschaftlichen Unsicherheit und der Ungewissheit, wie lange die Einschränkungen noch Gültigkeit haben, gehen psychische Folgen der Betroffenen einher.1

In den USA zeigt sich eine Zunahme der Angst- oder Depressionssymptome von 11 % in 2019 auf 41 % im Oktober 2020, vermeldet das National Center for Health. Ebenfalls in den USA belegt eine repräsentative Umfrage in Bezug auf die Pandemie bei 31 % ängstliche oder depressive Symptome, bei 26,3 % Trauma und Stress bezogene Störungen, 10,7 % gaben ernsthafte Suizidgedanken an. Bei den 18–24-Jährigen war der Anteil mit ernsthaften Suizidgedanken sogar bei 25,5 %.

Auch das Britische Statistikamt weist auf einen Anstieg der Angstscores von ca. 30 % (2015) auf ca. 50 % (2020) hin und meldet 10.000 zusätzliche Todesfälle im April bei Demenzkranken, die nicht Folge einer Covid-19-Erkrankung waren und auf Vereinsamung etc. zurückgeführt werden.

Das australische Statistikbüro wies ebenfalls in einer Haushaltsbefragung auf eine Zunahme psychischer Störungen hin. Symptome von Unruhe und Rastlosigkeit stiegen im Vergleich zu 24 % (2017/18) auf 40 % (2020) an. Bei 9 % zeigten sich deutlich depressive Symptome.

In der in Deutschland durchgeführten COPSY-Studie zeigt sich ein Anstieg für das Risiko für psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen von 18 % (2019) auf 31 % (2020). In einer Kooperationsstudie der Universität Gießen und der Medical School Hamburg zeigten sich in einer nicht repräsentativen Studie bei einer Stichprobe von 949 Personen (davon 63 % Studierende) Symptome bei 35,3 % für eine klinische Depression, bei 21,4 % für Zwangsstörungen, bei 17,4 % für somatoforme Störungen und bei 12 % für eine Generalisierte Angststörung, was deutlich oberhalb der allgemeinen Prävalenz lag.

Für die in der Schweiz durchgeführte Swiss Corona Stress Study wurden zuletzt im Juli anhaltend erhöhte Angst- und Depressionswerte festgestellt.

Es werden bereits neue psychiatrische Syndrome beschrieben. In der September-Ausgabe der World Psychiatry wird der Begriff der «health anxiety» eingeführt. Dazu gehören auch Begriffe wie «Covid anxiety» oder «Covid stress syndrome», was der Gruppe der Traumafolgestörungen zugeordnet werden kann.

Um zu verdeutlichen, wie die durch die Pandemie ausgelöste Belastungssituation verarbeitet wird, drängen sich Konzepte aus der Psychotraumatologie auf. Der Einbezug solcher Konzepte trägt nicht nur dazu bei, Reaktionen der Bevölkerung und politische Entscheidungen besser zu verstehen, sondern zeigt auch Möglichkeiten auf, wie diese herausfordernde Situation konstruktiv bewältigt werden kann.

Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung

Fischer und Riedesser (2009 [1998]) entwickelten ein Verlaufsmodell der psychischen Verarbeitung traumatischer Erfahrungen, das in drei Phasen gegliedert werden kann: «traumatische Situation», «traumatische Reaktion» und «traumatischer Prozess». Der Begriff der traumatischen Reaktion erfasst die Verhaltensweisen, die Traumatisierte in den ersten Wochen nach einem traumatischen Ereignis zeigen. Diese Reaktion zeichnet sich durch den Wechsel zwischen Intrusion und Vermeidung aus. Intrusionen zeigen sich zum Beispiel in Form von Panik, überwältigender Angst, und Flashbacks (Bilder des traumatischen Geschehens). Vermeidung findet ihren Ausdruck darin, dass Situationen gemieden werden, die an das traumatische Geschehen erinnern könnten. Eine intrapsychische Form von Vermeidung ist die Verleugnung des traumatischen Geschehens. Es wird vorgetäuscht, das traumatische Ereignis sei nicht geschehen oder dessen emotionale Bedeutung wird nicht emotional zur Kenntnis genommen. Der Wechsel von Überflutung und Vermeidung bzw. Verleugnung macht es langsam möglich, das Schreckliche denken zu können und als Teil der eigenen Geschichte zurückzulassen. Frühestens nach 14 Tagen, oft sogar erst nach vier Wochen, beginnen sich Traumabetroffene von ihren traumatischen Erfahrungen zu erholen. Kommen weitere erschreckende Nachrichten oder belastende Lebensumstände hinzu, so verzögert sich die Erholungsphase und kann sogar gänzlich ausbleiben. Bei einem malignen Verlauf kann die traumatische Reaktion in ein chronisches Zustandsbild übergehen. Das heisst, dass Betroffene weiterhin am belastenden Wiedererleben des traumatischen Ereignisses leiden sowie Vermeidungsverhalten zeigen. Dann ist die Traumaverarbeitung misslungen. Hier spricht man von einem traumatischen Prozess. Der traumatische Prozess stellt den lebensgeschichtlichen Bewältigungsversuch der traumatisierten Persönlichkeit dar, der zu verschiedenen Krankheitsbildern führen kann.

Phasen im Umgang mit der Pandemie

Das skizzierte Modell zeigt nicht nur auf, wie Traumata verarbeitet werden, sondern hat allgemeine Gültigkeit für die Verarbeitung von Stressbelastungen. Wenn wir versuchen, mit diesem Modell die Reaktionen der Menschen zu verstehen, die nach der Mitteilung erfolgten, dass die Pandemie das eigene Land erreicht hat, und dieses Modell auch auf den weiteren Verlauf des Umgangs mit der Pandemie übertragen, dann werden folgende Erklärungen möglich.

Phase 1: Die Nachricht, dass durch das Coronavirus nicht nur einzelne Betroffene fernab infiziert sind, wurde von vielen Menschen als Schock erlebt. In Zeitungsberichten und Radiointerviews wird sogar von «Schockstarre»2 gesprochen (SWR2, 26.03.2020, Martin Gramlich im Gespräch mit Nicolai von Ondarza), um den aktuellen Zustand vieler Menschen als Reaktion auf die Pandemie zu beschreiben.

Im Schockzustand wird die äussere Realität als unwirklich, wie im Film, erlebt. Viele Menschen konnten zum Beispiel in der Schweiz – und dies gilt bestimmt so auch für andere Länder – nicht wirklich realisieren, was die Informationen aus China für das eigene Land bedeuteten. Dies ist vielleicht auch der Grund, warum notwendige politische Entscheidungen hierzulande schliesslich zu spät getroffen und eingeführt wurden. Man hatte nicht erwartet, dass die Zustände in Wuhan auch im eigenen Land zur Wirklichkeit werden würden.

Schwierig an der aktuellen Situation ist zudem, dass nicht abgeschätzt werden kann, wie sich die Ausbreitung des Virus auswirkt und wie lange Massnahmen gegen die Pandemie aufrechterhalten werden müssen.

Wenn wir das beschriebene Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung auf die aktuelle Situation in der Schweiz übertragen, haben wir es somit nicht nur mit einer einmaligen Stresssituation zu tun, sondern mit einer andauernden Belastung, die Züge einer kumulativen Traumatisierung bei Betroffenen annehmen kann. Kumulative Traumatisierung meint, dass nicht ein Ereignis allein eine traumatische Wirkung zeigt, sondern erst durch eine Vielzahl von Mikro-Ereignissen langsam ein traumatischer Effekt entsteht. Es sind dann die täglichen Mitteilungen und Erfahrungen, die mit zunehmender Dauer die psychischen Widerstandskräfte eines Menschen überfordern.

Zurzeit scheint vor allem die wirtschaftliche Unsicherheit grosse Teile der Bevölkerung zu belasten. Der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder der finanziellen Existenzgrundlage bei vielen Selbstständigerwerbenden führt bei den Betroffenen zu Ohnmacht, Hilflosigkeit, Angst und Panik. Warum gerade Erwerbslosigkeit oder bereits der drohende Verlust des Arbeitsplatzes und der Existenzgrundlage eine potenziell kumulativ traumatisierende Wirkung verstärken oder auslösen kann, erläutert der kurze Exkurs.

Exkurs: Erwerbslosigkeit als kumulative Traumatisierung

Arbeit erfüllt bestimmte Funktionen:

1) Sie führt zu Aktivität und ermöglicht es, Kompetenz zu zeigen und zu entwickeln. In der Bewältigung von Arbeitsaufgaben erwerben wir Fähigkeiten und Kenntnisse, also ein Gefühl der Handlungskompetenz.

2) Sie gibt uns eine feste Zeitstruktur, an der wir uns orientieren können.

3) Das berufliche Umfeld ist ein wesentliches soziales Kontaktfeld. Die meisten beruflichen Aufgaben können nur in Zusammenarbeit mit anderen Menschen ausgeführt werden.

4) Arbeit gibt soziale Anerkennung sowie das Gefühl, gebraucht zu werden und für die Gesellschaft nützlich zu sein.

5) Arbeit hat auch eine wesentliche Bedeutung für unsere persönliche Identität. Die Berufsrolle und die Arbeitsaufgaben sowie die Erfahrung, die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Beherrschung der Arbeit zu besitzen, bilden eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von Identität und Selbstwertgefühl.

Bei Erwerbslosigkeit fällt die soziale Verankerung, die Arbeit ermöglicht, weg und es kommen zusätzliche Belastungen durch die Situation hinzu: finanzielle Einschränkungen, oft vollkommene Ungewissheit im Hinblick auf die eigene Zukunft und immer wiederkehrende Ablehnung und soziale Diskriminierung.

Betrachten wir die aufgeführte Liste, wird unmittelbar deutlich, dass die gegen die Pandemie beschlossenen Massnahmen durch Erwerbslosigkeit verstärkt werden: Die eigene Handlungskompetenz wird eingeschränkt, Ausgangssperren/-einschränkungen behindern soziale Kontakte. Zum Beispiel verlassen etwa 15 % der Bevölkerung ihr Heim bis heute nur in Ausnahmefällen (Beobachter, Oktober 2020, S. 21). Freundeskreise verkleinern sich, Familienfeste bleiben aus. Zum Tragen kam gerade in der monatelangen Bleiben-Sie-zu-Hause-Phase die Tatsache, dass in der Schweiz in 36 % aller Haushalte nur eine Person lebt. Das Gefühl, Mitglied einer Gesellschaft zu sein, die soziale Verankerung, wird durch die Vernachlässigung oder Nichtbeachtung der Anliegen bestimmter Berufsgruppen infrage gestellt.

Wie in einer eigenen Studie gezeigt (Barwinski Fäh, 1990, 2005; Barwinski, 2010) und folgend bestätigt (Moritz, 2013), kann bereits Erwerbslosigkeit (ohne die Einschränkungen aufgrund von Corona) zu Beschwerden führen, wie sie sich bei Traumafolgestörungen zeigen: Vermeidung/Verleugnung, Intrusionen und Hyperarousal, aber auch zu schweren Depressionen.

Eine Erklärung, warum Erwerbslosigkeit gekoppelt mit den Massnahmen aufgrund von Covid-19 eine schädigende Wirkung haben können, ermöglicht das Konzept des «fluiden Selbst» (Kahlenberg, 2010). Neuere Konzepte zur Konstituierung eines kohärenten Selbst verstehen das Selbst nicht als statisches Phänomen, sondern als komplexen und in ständigem Wandel begriffenen Prozess, hergestellt in einem inter-subjektiven Kontext. «Subjektivität braucht Intersubjektivität, um entstehen zu können, und geht ihr nicht voraus» (ebd., S. 61). Das Selbstgefühl beruht aus dieser Perspektive auf einer sich in ständiger Veränderung befindenden Neuzusammensetzung von Selbstbildern und Selbstempfindungen, wobei sich die Aufrechterhaltung eines guten Gefühls von Selbstkohärenz als eine höchst anspruchsvolle Aufgabe der Psyche erweist. Es müssen spezifische innere und äussere Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein selbstverständliches Gefühl von durchgängiger, mehr oder weniger stabiler Identität erlebt werden kann. Dass im Falle von Erwerbslosigkeit und verordneter sozialer Isolation diese Selbstkonstituierung mehr oder weniger stark beeinträchtigt werden kann, liegt auf der Hand, da Ich-Aktivierung – und damit das Gefühl der Handlungskontrolle – in einer spiegelnden sozialen Umwelt, die die Person und ihre beruflichen Fähigkeiten definiert, eingeschränkt wird. Das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten nimmt ab. Das sichere und stabile Bewusstsein einer eigenen Identität kann nicht mehr aufrechterhalten werden (vgl. Barwinski, 2010). Doch kehren wir vorerst zurück zu unserem Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung.

Phase 2: Mit dem Abklingen des Schocks beginnt die traumatische Reaktion, der Wechsel zwischen Vermeidung/Verleugnung und Panik. Noch Wochen nachdem bekannt war, wie viele Menschen infiziert sind und die Zahl der Infizierten täglich markant stieg, wurde fatalerweise immer noch von grossen Teilen der Bevölkerung, aber auch von Politiker*innen, die Bedeutung dieser Informationen verleugnet oder bagatellisiert. Diese Verleugnungshaltung zeigte sich bei einigen führenden Politiker*innen in verschiedenen Ländern darin, dass Gefahren nicht realistisch eingeschätzt und notwendige Massnahmen dementsprechend viel zu spät eingeführt wurden. Diese Haltung kippte daraufhin abrupt in den entgegengesetzten Pol der traumatischen Reaktion: in Panik, wenn Menschen von Ängsten überflutet werden und Gefahren nicht mehr situationsadäquat eingeschätzt werden können. Die Panik kann dann wiederum in den konträren Pol umschlagen – in Verleugnung und Vermeidung. Einige Bekannte, Freundinnen und Freunde teilten uns zum Beispiel mit: «Ich schaue mir keine Nachrichten mehr an.» Notwenige Informationen werden nicht mehr aufgenommen. Möglichkeiten, um sich zu schützen, werden nicht genutzt.

Dieser biphasische Wechsel zwischen Panik und Verleugnung wird aktuell nicht nur im Verhalten Einzelner offensichtlich, sondern zeigt sich auch als kollektives Phänomen: Massnahmen werden nicht befolgt, weil die Gefahr der Pandemie für sich und andere verleugnet wird, oder das Gegenteil trifft zu: Menschen geraten in Panik und können nicht mehr unterscheiden, was tatsächlich als Risikoverhalten gilt und was nach wie vor möglich wäre, ohne sich und andere zu gefährden. Diese beiden Reaktionstendenzen können durch öffentliche Medien verstärkt werden.

Das Steckenbleiben in einem der beiden Pole verhindert eine konstruktive Bewältigung der potenziell traumatischen Situation: Mit Verleugnung geht das Risiko einher, Gefahren zu bagatellisieren und notwendige Regelungen nicht zu befolgen oder – auf politischer Ebene – nicht anzuordnen. Panik verhindert ebenso einen konstruktiven Umgang mit der Situation, weil nicht zwischen gefährlichen Situationsfaktoren und Bedingungen unterschieden werden kann, wo zum Beispiel Einschränkungen keinen wirklichen Nutzen bringen. Die Angst ist dann allgegenwärtig. Eine Überprüfung der Situation ist im Panik-Zustand nicht möglich.

Phase 3: Ob Erholung möglich wird oder ein traumatischer Prozess beginnt, hängt auf der individuellen Ebene von der psychischen Disposition, von Vorbelastungen sowie der aktuellen Situation des*der Einzelnen ab. Vorerkrankungen, ein unsicherer sozialer Status oder die Angst, die finanzielle Lebensgrundlage zu verlieren, erschweren die Verarbeitung des Schocks und der potenziell kumulativ traumatisierenden Situation, die die Pandemie für viele Menschen bedeutet.

Gesamthaft betrachtet, befinden wir uns nach wie vor in einer äusserst belastenden Situation, die in die traumatische Reaktion übergeht. Obwohl sich inzwischen grosse Teile der Bevölkerung an die von Politiker*innen verordneten Massnahmen «gewöhnt» haben, wehrt sich ein Teil der Bevölkerung nach wie vor gegen restriktive Bestimmungen und stellt deren Sinn infrage. Ein anderer Teil der Bevölkerung scheint den Protest gegen Regelungen als persönliche Bedrohung wahrzunehmen, auf die mit Aggression und Ausgrenzung reagiert wird. Kritik von der einen oder anderen Seite führt nicht zu konstruktiven Diskussionen. Die Verbindung der beiden Pole «Panik» versus «Verleugnung» scheint unmöglich geworden zu sein.

Wie kann das Steckenbleiben in diesen beiden gegensätzlichen Polen verhindert werden? Wie kann die Entwicklung von konstruktiven Bewältigungsstrategien gefördert werden? Und wie können eigene Ressourcen dazu genutzt werden, um die aktuelle Stresssituation zu bewältigen? Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen, um Möglichkeiten aufzuzeigen, wie psychische Folgen der durch Covid-19 ausgelösten Pandemie konstruktiv bewältigt werden können und wie ein gesellschaftlicher Umgang mit der äusserst belastenden Situation gefunden werden kann.

Dialektische Lösung von Widersprüchen

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist der «unbewusste Begriff» (Werthmann, 1975). Damit ist – sehr vereinfacht ausgedrückt – gemeint, dass jeder «Begriff» sich widersprechende Pole enthält. Zum Beispiel ist Nähe nicht vorstellbar ohne eine Vorstellung von Distanz. Wenn der Bezug zu einem Pol verloren geht, zum Beispiel nur Nähe zu anderen Menschen gesucht wird und Distanz als unerträglich erlebt wird, kann von einem pathogenen Beziehungsmuster gesprochen werden. Dann sind die Pole aus ihrer regulativen Verbindung herausgetreten, haben sich gegeneinander isoliert und sind ins Extreme gegangen. Nur in ihrem gegenseitigen Zusammenhang bilden sie einen subjektiv sinnvollen «Begriff». Zum Beispiel ist Nähe ohne die Fähigkeit zur Distanz ebenso schädlich, wie auch umgekehrt Distanz ohne die Fähigkeit, anderen Menschen nahe zu sein, lebbar ist.

In der aufgespaltenen Polarität erfolgt die Regulation nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Auf die aktuelle Situation im Umgang mit Corona bezogen: entweder Verleugnung oder Panik. Um konstruktive Lösungen zu finden, müssen die aufgespaltenen Polaritäten wieder verbunden werden. Ein konstruktiver Umgang mit der Pandemie ist nur möglich, wenn ich sowohl Angst als auch das Bedürfnis nach Distanz wahrnehmen kann. Überwältigende Angst sollte zu «Signalangst» werden, um Gefahren realitätsgerecht einzuschätzen. Angst ist sinnvoll, um sich zu schützen. Das heisst zuerst einmal, bewusst zu realisieren, dass es Angst ist, die ein überlegtes Handeln verhindert. Der Gegenpol, Verleugnung, trägt die Ressource in sich, dass Abstand möglich wird. Abstand ist notwendig, um über das aktuelle Geschehen nachdenken zu können. Erst dann wird ein Raum geschaffen, wo eine bewusste Auseinandersetzung mit den beiden Polen möglich wird.

Gesellschaft und Individuum

Es ist unmittelbar begreiflich, dass der Umgang mit einer Pandemie nicht auf der individuellen Ebene gelöst werden kann, sondern dass es das Mitwirken aller braucht, um Massnahmen zu erarbeiten und durchzusetzen. Bei einer Pandemie geht es um eine kollektive Belastungssituation, die nur bewältigt werden kann, wenn wir folgende Polarisierung berücksichtigen: den Widerspruch zwischen Gesellschaft und Individuum.

Auch hier kann es zur Aufspaltung der beiden Pole kommen, wenn Einzelne in ihrem Handeln das Wohlergehen der Gesellschaft unberücksichtigt lassen oder die Gesellschaft bestimmte Gruppen oder Menschen ausgrenzt.

Für Ersteres sind «Hamsterkäufe» ein Beispiel. Viele Menschen deckten sich zu Beginn der Pandemie mit einem Notvorrat ein. Die kollektive Panik führte zu egoistischem Verhalten. Das Wohl der Gesellschaft schien ausgeblendet worden zu sein. Ein Problem, das die ganze Gesellschaft betrifft, wurde individuell zu lösen versucht. Nach dem Motto: «Ich muss selbst ums Überleben kämpfen, weil ich mich nicht darauf verlassen kann, dass vom Staat für mich gesorgt wird.»

Ein Beispiel für das Abdriften in den entgegengesetzten Pol ist, wenn Selbstständigerwerbende, die vor dem Konkurs stehen, oder Menschen, die ihren Arbeitsplatz wegen der Pandemie verlieren, mit ihren berechtigten Existenzängsten nicht Gehör finden und keine oder nur unzureichende staatliche Unterstützung erfolgt.

Mit einem Zitat Hegels (1807) kann die Lösung des Widerspruchs zwischen Gesellschaft und Individuum gut auf den Punkt gebracht werden: «Ein Wir, das Ich, und ein Ich, das Wir ist». Diese Definition eignet sich sehr gut, um die beiden genannten Pole zu erfassen, die sich ergeben, wenn die vorherrschende Mentalität einer Gesellschaft in ihre Extreme zu zerfallen droht: In ein «Ich, das kein Wir ist» (wie dies in den erwähnten Hamsterkäufen zum Ausdruck kommt) und ein «Wir, das kein Ich ist» (wenn bestimmte Gruppen aus der Gesellschaft zum scheinbarem Wohl der Allgemeinheit ausgegrenzt werden). Beide Extreme schlagen ineinander um und bedingen sich gegenseitig. «Ich, das kein Wir ist», der radikale Egoismus und Egozentrismus schlägt bei geeignetem Anlass um in das «Wir, das kein Ich ist», eine das Wohl des*der Einzelnen missachtende Haltung. Aktuell braucht es vor allem Bemühungen, um nicht gänzlich in den Ausstossungsmodus zu verfallen. Die gilt es zu stärken, und die Beschäftigung mit einem «man-made-desaster» wie dem Umgang mit Covid-19 und Erwerbslosigkeit, die zu Isolation führt, ist ein wichtiger Schritt, um jenes Ich, das Wir, und jenes Wir, das Ich ist, zurückzugewinnen.

Damit ist zugleich auch die dialektische Haltung für die vernunftgeleitete Erforschung der Pandemie und deren Folgen benannt, für die Suche nach kreativen Auswegen, sowohl auf der individuellen wie der gesellschaftlichen Ebene. Wir identifizieren uns mit der Situation der Menschen, die durch Covid-19 oder durch die aufgrund der Pandemie eingeführten Regelungen in gesundheitliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind, ohne uns jedoch identifikatorisch an ihre Stelle zu setzen. So finden wir auch wieder zurück zu einer Haltung, die solidarisch ist und bleibt, ohne jedoch den Erkenntnisvorteil einer Distanz aufzugeben, die den nicht durch die Massnahmen Benachteiligten leichter möglich ist als den unmittelbar Betroffenen selbst.

Fazit

Die durch Covid-19 ausgelöste Pandemie kann als Belastungssituation verstanden werden, die für Betroffene in eine kumulative Traumatisierung übergehen kann. Deren Verarbeitung kann entsprechend der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen in drei Phasen eingeteilt werden: Die Mitteilung, dass die Pandemie auch das eigene Land erreicht hat, wurde von vielen Menschen zuerst verleugnet, dann als Schock erlebt, der mit Gefühlen der Ohnmacht, Depersonalisation und Derealisation einhergeht. Nach dem Schock beginnt die traumatische Reaktion mit dem biphasischen Wechsel zwischen einerseits Verleugnung der Gefahr und andererseits Panik, überwältigt zu werden, die Verarbeitung der Belastungssituation zu bestimmen. Wenn die Bewältigung misslingt, kann die traumatische Reaktion in ein chronisches Zustandsbild übergehen, das zu verschiedenen Krankheitsbildern führt.

Aktuell scheint sich unsere Gesellschaft nach wie vor in der traumatischen Situation zu befinden, die in die traumatische Reaktion übergeht: der Wechsel zwischen Panik und der Tendenz, Gefahren zu verleugnen. Eine konstruktive Handhabung dieser potenziell kumulativ traumatisierenden Situation kann nur gelingen, wenn die Polarisierung zwischen Verleugnung und Panik bzw. zwischen Kollektivem und Individuellem aufgehoben werden kann, um sowohl auf der individuellen Ebene Eigenaktivität entwickeln zu können, als auch auf der gesellschaftlichen Ebene Ausgrenzung zu vermeiden. Damit ist zugleich die dialektische Haltung für einen menschlichen Umgang mit der Pandemie und deren Folgen benannt, für die Suche nach kreativen Auswegen sowohl auf der individuellen wie auch gesellschaftlichen Ebene. Können die genannten Polarisierungen aufgehoben werden, führt dies zu einem konstruktiven Umgang mit der Krise, der sowohl Raum für Diskussionen lässt, als auch das Gemeinschaftsgefühl und die Solidarität in der Gesellschaft stärkt.

Literatur

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How can psychological consequences of the Covid-19 pandemic be managed constructively?

Abstract: The pandemic triggered by Covid-19 is perceived as very threatening by a large part of the population of the affected countries, including Switzerland. The experience that the pandemic has also reached their own country came as a shock to many people. Governments took measures that imposed far-reaching restrictions on public life. In addition, there was and still is economic uncertainty. With the «second wave», regulations were again put into effect that call the existence of many small and medium-sized businesses into question and leave many people fearing for their jobs. It is still uncertain when the regulations put in place to contain the pandemic will be relaxed or lifted. The damage caused by the measures is now highly evident. The economic uncertainty and the uncertainty as to how long the restrictions will remain in force are accompanied by serious psychological consequences. The article shows how a «dialectical attitude» can help to open up a space for discussion and to collectively overcome polarization.

Keywords: pandemic, unemployment, cumulative trauma, dialectic, unemployment

Come si possono gestire in modo costruttivo le conseguenze psicologiche della pandemia di Covid-19?

Riassunto: La pandemia scatenata dal Covid-19 è percepita come molto minacciosa da gran parte della popolazione dei paesi colpiti, tra cui la Svizzera. L’esperienza che la pandemia ha raggiunto anche il proprio paese è stata vissuta come uno shock da molte persone. I governi hanno preso misure che hanno imposto restrizioni di vasta portata alla vita pubblica. Inoltre, c’era e c’è ancora incertezza economica. Con la «seconda ondata», sono stati nuovamente messi in vigore regolamenti che hanno messo in discussione l’esistenza di molte piccole e medie imprese e hanno lasciato molte persone a temere per il loro lavoro. Non si sa ancora quando i regolamenti introdotti per contenere la pandemia saranno allentati o revocati. Il danno causato dalle misure è ora molto evidente. L’incertezza economica e l’incertezza su quanto tempo le restrizioni rimarranno in vigore sono accompagnate da gravi conseguenze psicologiche. L’articolo mostra come un «atteggiamento dialettico» può aiutare ad aprire uno spazio di discussione e a superare collettivamente la polarizzazione.

Parole chiave: pandemia, disoccupazione, trauma cumulativo, dialettica, disoccupazione

Die Autor*innen

Rosmarie Barwinski, Prof. Dr. phil., Psychoanalytikerin, Psychotherapeutin SPV/FSP, apl-Professur an der Universität zu Köln, Leiterin des Schweizer Instituts für Psychotraumatologie (www.psychotraumatologie-sipt.ch).

Olivier Christen, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Fachpsychotherapeut Psychotraumatologie SIPT/DIPT, seit 2009 in eigener Praxis in Liestal (www.achtsamkeitspraxis.ch).

Kontakt

Rosmarie Barwinski
Neuwiesenstrasse 95 8400 Winterthur
E-Mail:
r.barwinski@swissonline.ch

Anmerkungen

1 Die Quellen für alle nachfolgend angeführten Daten werden am Beitragsende gelistet.

2 «Nach einer Art Schockstarre beginnt jetzt eine Welle europäischer Solidarität und praktischer Hilfe,» sagt von Ondarza, stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.