Buchbesprechung

Jürgen Kriz (2017). Subjekt und Lebenswelt. Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching

Göttingen: V & R. ISBN: 978-3-5254-9163-8. 300 S., 30,00 EUR, 36,90 CHF

Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 105–106 2020

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2020-2-105b

Mit diesem sechs Kapitel umfassenden Buch will Jürgen Kriz dazu einladen, sich auf die Komplexität des Geschehens einzulassen, das nun einmal unser Leben als Subjekt in der heutigen Lebenswelt ausmacht. Er ist überzeugt, dass eine grössere Bereitschaft dazu hilft, inhaltliche und theoretische Grabenkämpfe zwischen «Richtungen» zu befrieden, weil die Würdigung für die Perspektive der anderen dann leichter fällt.

Die Personzentrierte Systemtheorie ist aus dem Bedürfnis entstanden, die vielfältigen Prozesse und Einflüsse, die in den unterschiedlichen Ansätzen zu Psychotherapie, Beratung und Coaching jeweils thematisiert werden, in ihrer wechselseitigen Vernetzung zu verstehen. Sie unterscheidet hierzu vier Prozessebenen, die man grob als körperlich, psychisch, interpersonell und kulturell kennzeichnen kann. Mit der Personzentrierten Systemtheorie sollte ein schulenübergreifendes Modell von Psychotherapie entwickelt werden, nicht um daraus einen neuen Ansatz zu machen, sondern um das reiche Spektrum der Praxis mit einem solchen Modell besser nutzen zu können.

Im ersten Kapitel führt der Autor in die Grundfragen der Personzentrierten Systemtheorie ein und erläutert die vier Verstehensperspektiven mit dem individualistisch-psychodynamisch-humanistischen, dem interpersonell-systemdynamischen, dem organismisch-körperlichen und dem gesellschaftlich-kulturellen Fokus. Er illustriert diese theoretischen Ausführungen mit vier Fallvignetten.

Im zweiten Kapitel folgen einleitend Überlegungen zum Begriff System, um dann die Themen «Subjektivität» und «Objektivität» mit Bezügen zur Philosophie zu vertiefen. Das Kapitel steht unter der Überschrift «Leben als Zeichenprozess – die Perspektive der Biosemiotik». Die Biosemiotik legt eine untrennbare Verwobenheit von psychischen und interpersonellen Phänomenen mit körperlich-evolutionären sowie kulturell-makrosozialen Prozessen nahe. Spannend sind seine Ausführungen zu den Grenzen der Subjektivität, der Bedeutungszuschreibung zu Phänomenen mit Bezügen zur Phänomenologie, der Gestaltpsychologie als Wahrnehmungstheorie und der Experimentellen Psychologie. Auch diese Ausführungen erhalten mit einer Fallvignette einen Praxisbezug.

Im dritten Kapitel werden (essenzielle) Prinzipien der Systemtheorie erläutert. Es geht immer um Prozesse von miteinander dynamisch vernetzten «Teilen». Die Gesamtheit wechselseitig voneinander abhängiger Einflüsse wird als Feld betrachtet. Zu diesen Prinzipien zählt zum Beispiel die Rückkoppelung: Die Veränderung bei einem Teil pflanzt sich im System fort. Oder die Mikro-/Makro-Ebene: Die vernetze und rückgekoppelte Dynamik der «Teile» bildet bottom-up «Ordnungen» aus, die dann top-down die weitere Dynamik der «Teile» bestimmen. Diese Ordnungen sind selbstorganisiert. Oder System versus Umgebung: Selbstorganisation ist zwar etwas dem System Inhärentes, aber immer auch mit Adaptionen an die Systemumgebungen verbunden. Diese Essentials werden in Unterkapiteln wissenschaftstheoretisch mit Bezug zu Forschung und Praxis vertieft. Das Kapitel endet mit einer kurzen zusammenfassenden Darstellung des dynamisch-systemischen in Gegenüberstellung zum klassischen Weltbild.

Im vierten Kapitel werden die Ausführungen zu den eingangs erwähnten vier zentralen Prozessebenen vertieft. Die interpersonelle, die psychische, die gesellschaftlich-kulturelle und die körperliche Prozessebene werden fundiert und anschaulich dargestellt und in ihrem gleichzeitigen Zusammenwirken erläutert. Dies ist mit Exkursen zu Kommunikationstheorie, Gedächtnis, gemeinsamer Kreation von Sinn, und erneut Gestalttheorie sehr spannend zu lesen.

Das fünfte Kapitel ist der Welt des Bewusstseins gewidmet. Es enthält eine Besinnung darauf, was mit «Person» gemeint ist. Zentral ist die Aussage, dass «Person» nicht angeboren ist, wohl aber das evolutionär vorstrukturierte Potenzial dazu. Damit sich jemand zur «Person» entfalten kann, braucht es hinreichend guter Entwicklungsbedingungen. Das psychosoziale Beziehungsangebot kann durch drei Kernaspekte einer Grundhaltung beschrieben werden, wie Carl Rogers diese in seinem personzentrierten Ansatz beschrieben hat: nicht an Bedingungen geknüpfte Wertschätzung des Menschen als Subjekt, kongruentes Angebot von organismischen Erfahrungsmöglichkeiten und deren Symbolisierung, insbesondere durch sprachliche Begleitung, und schliesslich empathisches Einfühlen in die Bedürfnisse des anderen. «Der humanistische Kernsatz: ‹Nur am Du kann man zum Ich werden› erhält in der Personzentrierten Systemtheorie somit einen umfassenderen Kontext, der u.a. makro- und mikrosoziale, historische oder evolutionäre Perspektiven auf die aktuelle Du-Ich-Begegnung miteinbezieht» (S. 234).

Das sechste Kapitel trägt den Titel «Personzentrierte Systemtheorie im Kontext der Praxis». «Das Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie ist es, das grosse Spektrum an vorhandenen Konzepten und Vorgehensweisen in Psychotherapie, Beratung und Coaching besser nutzen zu können» (S. 235). Der Autor erläutert, mit welchen Problemen man eher PsychotherapeutInnen, BeraterInnen oder Coaches bzw. Couchinnen aufsucht. Die professionelle Rolle umfasst als Hauptaufgabe die Begleitung bei «Ordnungs-Ordnungs-Übergängen». Damit sind Transformationen von Ordnungsstrukturen gemeint. Wichtig ist der Gebrauch von Intuition, Imagination und Kreativität.

Das Buch besticht dadurch, dass es nicht Partei nimmt für eine bestimmte psychotherapeutische Richtung, sondern mit der personzentrierten systemischen Sichtweise Bezüge zu vielen «Schulen» herstellt, um zu zeigen, was dort gemacht wird. Kriz beachtet den humanistischen Ethos, dem anderen mit Wertschätzung zu begegnen, wenn er auf andere Therapieansätze eingeht. Wiederholt kritisiert er aber zu Recht den aktuellen Trend zu manualisierten Therapien. Das entspräche nicht dem Bild einer dynamischen, systemischen und prozessorientierten Psychotherapiekonzeption

Subjekt und Lebenswelt behandelt viele grundlegende Themen aus Psychotherapie, Beratung und Coaching fundiert und ist reichlich mit Praxisbeispielen illustriert. In diesen Feldern tätige Menschen finden hier vertiefte Überlegungen und Anregungen zu ihrer Praxistätigkeit und zu deren theoretischen Verankerungen, egal zu welcher Therapierichtung sie sich zählen. Ich kann es gern empfehlen.

Peter Schulthess