Amina Trevisan (2020). Depression und Biographie. Krankheitserfahrungen migrierter Frauen in die Schweiz
Bielefeld: transcript. ISBN: 978-3-8376-5079-2. 515 S., 49,99 EUR, 56,00 CHF
Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 97–98 2020
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https://doi.org/10.30820/1664-9583-2020-2-97
Eine eindrückliche Arbeit, die die Basler Soziologin Amina Trevisan hier als Dissertation vorlegt. Die Autorin hat selbst einen italienischen Migrationshintergrund und war daher auch biografisch motiviert, sich diesem Thema zuzuwenden. Die Fokussierung auf lateinamerikanische Frauen erlaubte ihr bei genügend Empathievermögen aufgrund der eigenen Migrationserfahrung dennoch ausreichend Distanz als Forscherin zu wahren. Das dreiteilige Buch vermittelt nicht nur eine Fülle von biografischem Material von 17 Migrantinnen aus Lateinamerika, die in der Schweiz an Depressionen erkrankten, das in jeweils zwei- bis dreieinhalbstündigen Interviews gewonnen wurde, es bietet zugleich eine methodische Einführung in die qualitative Forschung, insbesondere in die Biografieforschung, die hier angewandt wurde.
Im ersten Teil beschreibt die Autorin ihren Zugang zum Thema unter dem Titel «Theoretische Annäherungen an den Kontext der Forschung». Einleitend erwähnt sie, dass «die WHO schätzt, dass bis zum Jahr 2030 Depression die häufigste Erkrankung weltweit sein wird, noch vor Herz-Kreislauferkrankungen. […] Frauen erkranken weltweit doppelt so häufig wie Männer» (S. 15). Bisher gab es in der Schweiz keine Studie, die das Thema Depression im Zusammenhang mit Migration mit der Methode der Biografieforschung untersuchte. Dies ist aber wichtig, um in der nötigen Tiefe zu verstehen, was Migrantinnen (und auch Migranten) erleben und was für Faktoren die Entwicklung einer Depression begünstigen. Die Autorin erörtert bestehende Untersuchungen zum Thema Migration und Gesundheit und schildert anschliessend den Ansatz der Biografieforschung, den sie für ihre Untersuchung wählt.
Im zweiten Teil, den sie als «Empirischer Teil 1» bezeichnet, erläutert die Autorin ihr methodologisches und methodisches Verfahren in nachvollziehbarer, detaillierter Weise. Die Datenerhebung erfolgte mittels autobiografischen narrativen Interviews. Es folgen danach als Herzstück zwei ausführliche Falldarstellungen. In diesem Teil arbeitet sie zwei exemplarische Biografien heraus. Sie sind mit Zitaten der Interviewten versehen und mit analytischen Kommentaren der Forscherin (Narrationsanalyse) ergänzt. Bei der Auswahl aus den insgesamt 17 vollständigen Interviews ist sie mit dem Prinzip der maximalen Kontrastierung vorgegangen. Diese beiden Beispiele sind ausgesprochen spannend und lehrreich, um zu erahnen, was Migrantinnen in der Schweiz durchmachen und wie schlechte Erfahrungen zu einer Depression führen können.
Die Falldarstellung vom Amalia Torres zeigt die Geschichte einer Venezolanerin aus der Mittelschicht, die aufgrund einer Liebesbeziehung mit einem Schweizer Mann in die Schweiz zog. Mitbestimmend für den Migrationsentscheid waren auch damalige politische Unruhen in Venezuela. Einsamkeitserfahrungen und Verlust des gewohnten Rahmens, Erfahrungen der zeitweiligen Trennung von ihrem Mann (Militärdienst) sowie Ausschlusserfahrungen in dessen Familie und am Arbeitsplatz erhöhten die Vulnerabilität. Liebe und Machtverhältnisse in der binationalen Ehe führten zu enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen. Sie fühlte sich zunehmend nicht willkommen und erfuhr soziale Ausgrenzung und Ausschluss. Die Herabwürdigung als Ausländerin zeigte sich auch innerhalb der Ehe immanent. Schliesslich entschied sie sich zu einer Trennung, verbunden mit dem schmerzlichen Eingeständnis, dass ihr gemeinsames Migrationsprojekt gescheitert war. Kurz nach der Trennung zog der Mann ohne Vorankündigung nach Belgien, um dort eine neue Arbeit anzunehmen. Er lernte dort eine andere Lateinamerikanerin kennen, die er nach erfolgter Scheidung von der ersten Frau auch heiratete.
Da war Amalia nun allein in der Schweiz, mit mittlerweile zwei Kindern. Das bedeutete einen existenziellen Schock, führte zu Armutserfahrungen und – für sie beschämender – Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Schliesslich erkrankte sie vier Jahre nach ihrer Einreise in die Schweiz an einer Depression. Der Versuch einer Psychotherapie scheiterte am Verhalten der empfohlenen Therapeutin. Die Vormundschaftsbehörde erwog, ihr die elterliche Gewalt über die Kinder zu entziehen. Daraufhin nahm der Vater, der nun wieder in der Schweiz lebte, die Kinder zu sich in seine neue Familie. Nun komplett allein erfolgte eine neue Sinnkrise, verbunden mit Alkohol- und Drogenkonsum. Sie fand einen neuen Schweizer Lebenspartner, doch sie wurde auch in dieser Beziehung enttäuscht.
In der psychischen Krise erkannte sie auch eine Chance, ihr Leben zu ändern. Es gelang ihr trotz Dequalifikation und alltäglichen Rassismuserfahrungen wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten, allerdings nur für unterqualifizierte Arbeiten. Immerhin ermöglichte ihr dies den Aufbau eines sozialen Netzes. Unterstützung in der Krise fand sie in einer freikirchlichen Gemeinschaft.
Diese Biografie ist sehr eindrücklich zu lesen und öffnet den Lesenden Aspekte des Migrationsalltags in der Schweiz, die einem oft zu wenig bewusst sind.
Die zweite ausführliche, hier in aller Kürze noch vorgestellte Biografie beschreibt den Migrationsweg einer mexikanischen Frau aus der oberen Mittelschicht mit ausgeprägt hoher Bildung: Als hoch qualifizierte Juristin mit vier Studienabschlüssen kam sie in ein Schweizer Unternehmen. Berufliche Karriere war für sie wichtig. Diese scheiterte aber nach drei Jahren, wobei unausgesprochene rassistische Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen in der Firma mitspielten, an einer nächsten Stelle auch klare Mobbing-Erfahrungen. Nach wiederholten schweren Depressionen erholte sie sich, absolvierte einen Lehrgang als Pflegehelferin und fand eine Stelle in einem Alters- und Pflegeheim. Offenbar riet ihr ihre Psychotherapeutin zu diesem Weg.
Im dritten Teil des Buches erfolgt unter dem Titel «Empirischer Teil 2» eine kontrastive und die Ergebnisse aller 17 Interviews einbeziehende, fallübergreifende Ergebnisdarstellung. Die Autorin beschreibt in fünf Kapiteln zu jeweils einem deutlich herausragenden Thema dessen Einfluss auf die Entstehung einer depressiven Erkrankung. Ihre Auswertungen sind dabei angereichert durch treffende Beispiele aus allen Biografien, was sie anschaulich lesbar und überzeugend macht.
Rassismus und sein Einfluss auf die psychische Gesundheit: «Rassismus im Alltag durchzieht alle Lebensbereiche der befragten Migrantinnen» (S. 286). Aspekte dabei sind: Bagatellisierung des Rassismus, (subtiler) Rassismus und rassistische Diskriminierung in alltäglichen Situationen (auf dem Spielplatz, am Arbeitsplatz, beim Einkaufen, in Cafés und Restaurants, in der angeheirateten Verwandtschaft etc.), sexualisierte und exotisierte Fremdzuschreibungen, (subjektiv wahrgenommene) Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen in staatlichen Institutionen, an Universitäten etc. «Besonders wichtig ist es, wiederholten Rassismus als bedeutsamen krankheitsverursachenden Faktor nicht zu unterschätzen» (S. 331).
Depression im Kontext von beruflichem Ausschluss und Dequalifizierung: «In nahezu allen Interviews […] nimmt die Erfahrung beruflichen Ausschlusses und erschwerten Zugangs zum Schweizer Arbeitsmarkt eine zentrale Rolle in den Lebensgeschichten ein» (S. 333). «Die Interviewanalyse macht deutlich, dass insgesamt zwölf gut ausgebildete Migrantinnen ihre Qualifikationen und Ressourcen in keiner Weise in die Schweizer Gesellschaft einbringen können» (S. 335). Trevisan beschreibt verschiedene Aspekte der beruflichen Ausschlusserfahrungen: Dequalifikationserfahrungen und Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, psychisch belastende berufliche Abstiegserfahrungen, Rückkehrorientierung als Bewältigungsstrategie, berufliche Degradierung und der Wunsch nach Anerkennung, Aus- und Weiterbildung als Strategie im Umgang mit Arbeitsmarktexklusion und Dequalifizierung, kumulative berufliche Ausbildungen in der Schweiz als biografische Verarbeitungsweisen von Exklusion, fehlende Erwerbsarbeit und finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann. «Aus den Interviews geht deutlich hervor, dass für das Auslösen einer Depression mehrere Faktoren verantwortlich sind. Als die befragten Migrantinnen psychisch erkrankten, befanden sich allerdings die meisten Frauen in dequalifizierten Arbeitspositionen oder waren ganz von einer Arbeitsmarktexklusion betroffen. Das ist auffallend» (S. 394).
Depression im Kontext von Armut und ökonomischen Schwierigkeiten: «Es ist hinlänglich belegt, dass ein Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit besteht» (S. 415). «Das Migrationsspezifische ist dabei, dass einige MigrantInnen unter einer latenten Angst leiden, aufgrund ihrer ökonomischen Lage ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren» (ebd.). Sie beanspruchen deshalb oft keine staatliche Unterstützung. «Von mehreren migrierten Frauen in dieser Untersuchung werden chronische Belastungen und Existenzsorgen im Migrationsleben als eine zentrale Ursache für das Entstehen einer Depression gesehen» (S. 418).
Depression im Kontext fehlender sozialer Unterstützung: «Fallübergreifend gilt, dass die Verfügbarkeit eines sozialen Netzwerkes und das Zusammenwirken von Unterstützungsleistungen auf familiärer, freundschaftlicher und professioneller Ebene für das psychische Wohlbefinden von Bedeutung ist» (S. 440). Ein Mangel an sozialen Beziehungen und ein fehlender Zugriff auf soziale Unterstützung in Belastungssituationen beeinflussen hingegen massgeblich die psychische Gesundheit der Migrantinnen.
Depression im Kontext einer binationalen Ehe: Die Autorin beschreibt verschiedene Aspekte zu diesem Thema: Machtverhältnisse im Rahmen einer binationalen Beziehung, Migrationsprojekt aus Liebe, Depression im Kontext von Beziehungsproblemen, Ungleichgewicht im Kontext einer binationalen Ehe und die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Aus Sicht der Biografierten spielten problematische Partnerbeziehungen und -konflikte bei der Entstehung der Depression eine Rolle. Oft liessen sich asymmetrische Machtverhältnisse und rassistische Abwertungen erkennen.
Trevisan beschliesst ihr Buch mit einer konzentrierten Zusammenfassung aller Resultate.
Ich habe ihr Buch mit grossem Gewinn gelesen, fachlich als Psychotherapeut, wissenschaftsmethodisch als Forscher und persönlich als jemand, der selbst in einer binationalen Beziehung lebt. Wie gut, wenn sich die Psychotherapie nicht nur von psychologisch-psychiatrischer Forschung, sondern auch von soziologischer Forschung bereichern lässt. Die Schilderungen der 17 Fallrekonstruktionen berühren und gehen manchmal unter die Haut, wecken auch Wut. Sie öffnen die Augen für Facetten des Leidens von Migrantinnen (und auch Migranten) in der Schweiz, die oft unerkannt bleiben.
Ich empfehle das Buch allen PsychotherapeutInnen, im Besonderen jenen, die in ihrer Praxis mit Migrantinnen (und auch Migranten) arbeiten. Was hier zu lateinamerikanische Migrantinnen erforscht wurde, lässt sich leicht auch auf alle Migrantinnen (und Migranten) sowie binationalen Ehen übertragen.
Peter Schulthess