Der Gestalttherapeutische Ansatz bei depressiven Erfahrungen1

Gianni Francesetti & Jan Roubal

Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 31–38 2020

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2020-2-31

Zusammenfassung: Man unterscheidet Trauer und depressive Erfahrung, um damit das Kernstück des Leidens einer Person zu beschreiben, die sich in einer Depression befindet. In der Trauererfahrung wird eine Person oder Situation unerreichbar, und darin liegt der erlittene Verlust. Die Erfahrung einer melancholischen Depression ist anders: verlorengegangen ist das, was das Subjekt mit dem Gewebe verankert, das es mit der Welt verbindet. Es wird eine radikal relationale Herangehensweise zu Depressionen eingeführt, bei der untersucht wird, wie Klient*in und Therapeut*in sich im Hier und Jetzt der Therapiesituation gegenseitig deprimieren.

Schlüsselwörter: Gestalttherapie, Depression, Trauer, Psychopathologie, Funktionen des Selbst

«Die Hölle ist, wo sich nichts verbindet.»

T.S. Eliot

Kurzer diagnostischer Abriss

Laut der Weltgesundheitsorganisation sind weltweit Hunderte Millionen Menschen von Depressionen betroffen und es ist eine sehr häufige Erfahrung bei Psychotherapie-Klient*innen. Mindestens 20% der Frauen und 12% der Männer erleben in ihrem Leben eine Depression und 15% der depressiven Menschen setzen ihrem Leben per Suizid ein Ende (Akiskal, 2000). Der Begriff «Depression» (aus dem Lateinischen, Druck nach unten) wurde in der Psychiatrie zur Beschreibung eines Zustands niedergeschlagener Stimmung erstmals Ende des 19. Jahrhunderts verwendet. Davor wurden solche Phänomene als Melancholie diagnostiziert. Gemäss dem psychiatrischen Diagnosesystem (DSM-IV, ICD-10) leidet die depressive Person unter einer affektiven Störung, die gekennzeichnet ist durch niedergeschlagene Stimmung, Abnahme von Antrieb und Aktivität, verringertem Vermögen Angenehmes zu empfinden und gesteigerter Müdigkeit. Die Schwere einer Depression wird anhand einer Kriterienliste gemessen. Der Begriff «Depression» wird für eine Vielzahl an Erfahrungen unterschiedlicher Schwere verwendet, die auch eine natürliche Reaktion auf grosse Veränderungen im Leben sein können. Der exponentielle Anstieg bei der Diagnose Depression und dem Verschreiben von Antidepressiva ist – zum Teil – das Resultat eines grossen diagnostischen Problems in diesem Teil des nosografischen Systems: Vieles, was als Depression bezeichnet wird, ist eine Reaktion auf Verluste und Stresssituationen und erhält eine Diagnose und Behandlung, als handle es sich um depressive Erfahrungen. Auch die leidenschaftlich geführte Diskussion über die Wirksamkeit von Antidepressiva sollte im Licht der Diagnose gesehen werden: Wenn Medikamente auch Menschen verschrieben werden, die nicht tatsächlich an einer Depression leiden, können die Ergebnisse natürlich nicht besser sein als mit einem Placebo. Tatsächlich muss die Forschung zur Wirksamkeit der Medikamente auf einer eindeutigen und umsichtigen diagnostischen Bewertung basieren. Unserer Erfahrung nach müssen Antidepressiva bei der melancholischen Depression erwogen werden (erfolgt dies nicht in diesen Situationen, so ist dies ein Behandlungsfehler); sie sollten jedoch nicht eingesetzt werden, nur weil sich Klient*innen aufgrund eines Verlustes in einem Stimmungstief befinden (sie in solchen Situationen ohne weiteres Abwägen einzusetzen, ist auch ein Behandlungsfehler). Es ist also ganz essenziell, zu unterscheiden – zumindest – zwischen einem Zustand, der eine Reaktion auf einen Verlust ist (wie der Trauerprozess) und einem Zustand, den wir melancholische Depression nennen können. Wir verweisen hierzu auf die in Fussnote 1 genannten Hinweise zur Vertiefung des Themas.

Depressive Erfahrungen: ein Gestalt-Ansatz

Wir werden nun versuchen, die depressive Erfahrung in einen sinnvollen Rahmen zu bringen, der aus einer phänomenologischen Gestalt-Perspektive2 (Roubal, 2007; Francesetti & Gecele, 2009, 2011) stammt. Wir werden uns darauf konzentrieren, wie Patient*in und Therapeut*in zusammen von einem depressiven Feld betroffen sind. Auch wenn wir bisweilen (aus Kommunikationsgründen) den Ausdruck «der/die Patient*in ist depressiv» verwenden, ist unsere Grundhaltung stets Feld-basiert, ist uns doch auch immer gegenwärtig, dass Patient*in und Therapeut*in im Hier und Jetzt als Ergebnis der Kräfte des phänomenalen Felds gemeinsam deprimieren (Francesetti, 2019a, b; Francesetti & Roubal, i.V.). Zur Ausrichtung der Arbeit in der Therapie muss die wichtige Unterscheidung zwischen der Reaktion auf einen Verlust und einer melancholischen Depression vorgenommen werden.

Trauer: die Anwesenheit der Abwesenheit

Wir müssen unterscheiden zwischen Traurigkeit (als ein Ausdruck des Trauerns) und Depression. Diese Unterscheidung findet man bereits im frühen psychoanalytischen Werk von Abraham und dann bei Freud (1925 [1917]) in dessen klassischem Artikel «Trauer und Melancholie». Die Erfahrungen Depression und Traurigkeit können ähnliche Symptome zeigen, in der Praxis ist es jedoch äusserst wichtig, diese zu unterscheiden. Arbeitet man bei Depression und Traurigkeit psychotherapeutisch mit demselben Ansatz, kann dies Patient*innen sogar schaden (Smith, 1985). Trauer ist ein Weg, mit einem schwerwiegenden Verlust zurechtzukommen. Hier fokussieren wir uns auf den Verlust durch Tod, eine ähnliche Beobachtung kann bei anderen lebensverändernden Ereignissen beobachtet werden, die mit Verlust zu tun haben, wie eine Abtreibung, eine Entlassung, einem Geflüchteten-Dasein. Der erforderliche Assimilationsprozess ist analog dem, der bei einem Verlust durch Tod nötig ist.

Das Trauern hilft der Person sich zu assimilieren, nicht nur in Bezug auf den erlittenen Verlust, sondern auch in Bezug auf ihre Beziehungserfahrung mit der Person, die nicht mehr da ist. Eines der Geschenke, die uns der Tod gibt, ist, dass er die Schönheit der verstorbenen Person aufzeigt. Ihre Abwesenheit zeigt die Tiefe und den Wert ihres Daseins. Die negative Seite davon ist für die Zurückbleibenden, dass sie ihre eigene Abwesenheit im Dasein der geliebten Person entdecken: «Warum habe ich nicht erkannt, wie wichtig, wundervoll und reich es war, mit ihm/ihr zusammen zu sein?» Die Trauerphase dient dazu, eine doppelte Loyalität herzustellen: zur Beziehung, die verloren gegangen ist, und zum Leben, das weitergehen muss. Ist diese hergestellt, ist die Trauerphase zu Ende (zumindest für diesen einen Lebensabschnitt). Trauer ermöglicht dem Leben, den Reichtum aus der vergangenen Beziehung zu erhalten (Cavaleri, 2007) und sich wieder in den nie versiegenden Brunnen des Neuen zu begeben.

Unmittelbar nach dem Todesfall steht die Unerreichbarkeit im Vordergrund, aber mit der Zeit kommen Erinnerungen hoch, ein Bewusstsein, dass man mit der verlorenen Person zusammen war, und dessen, was man zusammen erfahren hat. Auf diese Weise wird die Erfahrung der Beziehung assimiliert und das Subjekt erreicht Schritt für Schritt einen Status der Präsenz in Abwesenheit. Die zurückgebliebene Person lernt, den Verlust mit sich zu tragen und entwickelt dabei eine neue Fähigkeit des «Seins mit» der anderen Person und eine neue Art der Treue.

Trauern ist im Grunde eine Phase der Assimilation, eines Kontakts nach dem Tod. Es ist eine Phase der Kontaktabfolge, bei der der Andere für die Sinne nicht mehr präsent ist. Und dennoch ist es kein rein reflektierendes Phänomen. Die Sinne sind intensiv involviert, denn über sie wird die Abwesenheit der geliebten Person wahrgenommen. In der Trauer bin ich bei dem Anderen und gleichzeitig ist es absolut unmöglich, ihn/sie zu erreichen: Ich bin gänzlich in der Präsenz der Abwesenheit. Trauern ist daher ein notwendiger und kreativer Zeitabschnitt, der mir ermöglicht, mich dem zu assimilieren, was ich mit der Person wurde, die ich verloren habe und die ich werde ohne sie.

Melancholische Erfahrung: die Abwesenheit der Anwesenheit

Die melancholische (endogene oder psychotische) Depression, im Allgemeinen nicht unmittelbar verbunden mit Ereignissen im Leben der Patient*innen (sie können aber als Auslöser von Bedeutung sein), stellt eine extreme Form der Depressionserfahrung dar, bei der qualitativ neue Phänomene auftreten können.3 Der Mensch erlebt nicht so sehr ein Gefühl der Niedergeschlagenheit als vielmehr eine andauernde körperliche Schwere: «Es ist, als würde permanent ein Stein auf meinen Brustkorb drücken.» «Es ist, als würde alles Leben aus mir herausgepresst». Er kann das Fehlen jeglicher Empfindung, ein Taubheitsgefühl, ein Gestrandetsein in einer emotionalen Wüste erfahren. Der Körper ist unempfindlich und fühlt sich dabei schwer oder leer an. Der Mensch erfährt Kraftlosigkeit, was dazu führen kann, dass psychomotorische Funktionen bis zum Punkt des bewegungslosen Stupors verlangsamt sind. Appetitlosigkeit tritt auf. Der Mensch wacht morgens unnötig früh auf, kann Suizidgedanken haben, fantasieren und Trugbilder haben, oftmals gepaart mit Schuldgefühlen, Gedanken des Untergehens oder Hypochondrie.

Auch die Persönlichkeitsfunktion verändert sich. Dies kann rangieren von einem sich schlicht nicht in der Lage Fühlen, den normalen Anforderungen gewachsen zu sein, bis hin zu einem schwerwiegenden Verlust der Identität. Die daraus resultierende Beeinträchtigung besteht darin, dass die Person beruflich und sozial nicht mehr funktioniert und ihrer elterlichen oder familiären Verantwortung nicht mehr gerecht werden kann. «Ich halte deine Hand nur, weil ich weiss, dass wir das so gemacht haben. Aber ich erfahre nur Leere.» Der Mensch verliert die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, verliert die Übersicht, das Streben nach etwas und das Gefühl für Verantwortung. Die persönliche Geschichte kann sich verdreht darstellen, sogar bis zu einer illusionären «Rekonstruierung» von Fehlern in der Vergangenheit, die jeglicher Basis in der Realität entbehren. Angesichts derartig tiefgehender Störungen in Bezug auf die Es- und die Persönlichkeits-Funktionen des Selbst, kann die Ich-Funktion komplett untergegangen sein. Wenn sie nicht mit der Es-Funktion koexistieren kann, kann es keine Identifizierung mit und auch keine Entfremdung von Elementen des Feldes und daher keine Wahl geben.

Die Remission nach einer Episode (die Wochen, Monate und ohne eine passende Therapie auch Jahre andauern kann) ist normalerweise vollständig und Patient*innen beschreiben ihre melancholischen Erfahrungen als einen Albtraum, als andere Dimension, die so weit von ihrem normalen Leben entfernt ist, dass sie sich kaum klar daran erinnern können. Episoden können bei einem Menschen wiederholt auftreten, bisweilen in Abwechslung mit manischen Perioden. Es kann auch Situationen geben, in der sich Melancholie mit Euphorie vermischt. Die Prognose für einzelne Episoden ist relativ gut, da diese häufig vollständig in Remission gehen. Wir verbleiben jedoch immer in der Unsicherheit, ob und wie oft Symptome wieder auftreten. In einigen Fällen kann es auch zu einem milderen chronisch depressiven Zustand kommen.

Das Selbst und seine Funktionen in der melancholischen Erfahrung

In der Trauererfahrung wird eine bestimmte Person oder Situation unerreichbar und darin liegt der Verlust, der erlitten wird. Die Erfahrung der melancholischen Depression ist anders: verloren ist etwas, dass das Subjekt mit dem Gewebe, mit der Welt verbindet. In ersterem Fall verliert man das Andere, zu dem man eine emotionale Bindung hat, bei letzterem verliert man die Umstände, die eine solche Bindung ermöglichen.4 Die Erfahrung der melancholischen Depression stellt eine extreme Form einer ununterbrochenen Folge depressiver Erfahrungen dar. Dies gibt uns die Möglichkeit, die Dynamiken der depressiven Erfahrung zu verstehen, und wird umso evidenter, je schwerer die jeweilige Depression ist.

Die Schwere der Depression eines Menschen kann auch über dessen Entfernung vom Zwischenraum gemessen werden, über den Grad, zu dem er von der Kontaktgrenze entfernt sind. Der Zwischenraum ist die gemeinsame Basis, die wir laufend an der Kontaktgrenze schaffen. Dies ist das Gewebe, das uns, Moment für Moment, mit der Welt und dem Leben verbindet. In der Melancholie gibt es diesen gemeinsamen Platz nicht mehr und er kann daher auch nicht mehr überschritten werden. Hierin liegt die einzigartige Eigenschaft der melancholischen Erfahrung. Der Zwischenraum steht als Treffpunkt nicht mehr zur Verfügung. Er ist stattdessen zu einem unüberwindlichen kosmischen Abgrund geworden. In so einem Zustand ist die Ich-Funktion womöglich auf null reduziert, in einen Zustand des Stupors, in dem nichts vor sich geht. Die Es-Funktion (die prä-reflexive Funktion, die uns vor dem Riss zwischen Selbst und Welt, Organismus und Umfeld, mit der Welt verbindet) nimmt stattdessen eine signifikantere Rolle ein. Es ist eine Störung beim Es der Situation (Robine 2011), dort, wo die Quelle schlechthin für Subjektivität, Zeit, Raum und Intentionalität – das Leben – geschaffen wird.

Die tiefgehende Störung der Es-Funktion bedeutet, dass es unmöglich ist, eine Kontaktfigur zu schaffen. Die Störung ist zentral bei der Schwierigkeit der Therapeut*innen, eine Verbindung mit ihren Patient*innen herzustellen, mit der das übliche Kommen und Gehen von Resonanzen, Konsonanzen und Dissonanzen gewährleistet wird, die den therapeutischen Raum und die therapeutische Zeit füllen sollten. Kurz gesagt, es gibt keinen Widerhall im therapeutischen Zwischenraum. Eine zentrale Facette der depressiven Erfahrungen ist das Fehlen jeglichen Interesses. Dies bedeutet nicht nur einfach, dass das Subjekt sich von nichts angezogen fühlt oder sich an nichts beteiligt. Es hat die noch radikalere Auswirkung, dass es nicht mehr im «inter» des «esse» ist, dass es in gewissem Sinn aus dem Im-Zwischenraum-Sein, aus dem Nervenzentrum, in dem all die unendlichen Stränge des Lebens verwoben sind, entfernt ist (Bonani, 2009). Das Gefühl der Leblosigkeit, was vielleicht das charakteristischste Merkmal der Depression ist, ist eindeutig eine Manifestation dieses Zustands. Für ein gesundes Wachstum des Selbst ist es nötig, dass der Organismus gleichzeitig von der Welt getrennt und mit ihr verbunden ist. Es ist diese Verbindung, die in der melancholischen Erfahrung fehlt, während es bei der schizophrenen Erfahrung die Entwicklung der Abtrennung und der Grenzen ist, die fehlt (Francesetti, 2011, 2014). Die depressive Erfahrung ist Ausdruck eines Beziehungsfelds. Zeit und Raum sind jene Bahnen, die wir auf unserem Weg zum Geliebten und Notwendigen selbst erschaffen. Sie sind beziehungsabhängige Variablen, die durch die Triebkraft der Reise per se generiert werden, die niemals nur eine einzige Bewegung ist, sondern immer auch eine Co-Bewegung. Fehlt diese Bewegung, erleben wir den Abgrund, der uns trennt. Diese affektive Brücke, auf der unser ureigenes Selbst gründet und der unserer Subjektivität entstammt, ist verloren gegangen. Depressive Erfahrungen sind der Ausdruck einer bestimmten relationalen Erfahrung in einer Person: der Unmöglichkeit des Erreichens des Anderen. Genauer gesagt: Depression ist die Art, in der das Subjekt das Aufgeben der Hoffnung angesichts dessen erlebt, dass seine Versuche, den Anderen zu erreichen, fehlschlagen. Depression kann als ko-konstruiertes Beziehungsphänomen gesehen werden, das drei intrinsische und wesentliche Merkmale hat: eine tiefgehende Verbundenheit, bei der das Andere geliebt wird und notwendig ist, das Fehlschlagen aller Bemühungen, das Andere zu erreichen, und die emotive Abwesenheit des Anderen in der Beziehung.

Die therapeutische Erfahrung

Im üblichen Aufbau des Beziehungsfelds wiederholt sich in aller Regel auch die therapeutische Situation. Therapeut*innen werden Teil der «depressiven Organisation» des Feldes. Die übliche Reaktion der Familie oder nahestehender Personen zum depressiven Zustand eines Menschen ist entgegengesetzt. Zunächst wollen sie Mut zusprechen: «Komm, das ist schon bald wieder in Ordnung. Lass uns was Schönes unternehmen. Das hilft Dir, da herauszukommen.» Später, wenn diese Bemühungen keine Früchte tragen und Erschöpfung einritt, versuchen sie, sich zu schützen und sich von einem depressiven Menschen zurückzuziehen (oftmals mehr oder weniger versteckt aggressiv).

Therapeut*innen finden sich im selben Beziehungsmuster wieder und spüren Impulse, die beschriebenen Reaktionen gegenüber dem depressiven Menschen zu wiederholen. Dank ihres Bewusstseins haben Therapeut*innen die Möglichkeit, aus diesem starren Beziehungsmuster herauszutreten – bleiben für einen Kontakt zugänglich, weisen weder sich noch Patient*innen Schuld zu, geben die Hoffnung nicht auf. Damit ändern sie den starren Feldaufbau und öffnen auch für ihre Patient*innen einen Raum für eine Veränderung.

Angst ist eine übliche erste Reaktion im Umgang mit schwer depressiven Patient*innen. Dies kann die Form eines undefinierten, aber kraftvollen Gefühls des Unbehagens oder eine intensive Angst um die Patient*innen annehmen. Manchmal mögen sich Therapeut*innen wünschen, Patient*innen zu entkommen oder sie zu jemand anderem zu schicken, der sich um ihn kümmert. Es ist wichtig, diese Erfahrungen in ihrem Feldkontext zu sehen. Alle diese Reaktionen spiegeln wider, dass Therapeut*innen das fehlende Fundament des Beziehungsfelds wahrnehmen. Aus diesem Grund stellt die Beteiligung eines Dritten einen wichtigen Anker dar (Francesetti & Gecele, 2009, 2010). Dies kann in Form einer pharmakologischen Unterstützung, einer Supervision, eines Treffens mit Kolleg*innen oder einer weiteren Schulung in Theorie sein (was hoffentlich auch die Lektüre dieses Aufsatzes einschliesst).

Ein anderer Aspekt der Gegenübertragung betrifft die Nebenwirkungen davon, dass sich Therapeut*innen in das depressive Feld begeben. Der depressive Zustand bewirkt, dass sie sich am Rande eines Abgrunds bewegen, sich fühlen, als zerre sie ein grosses Gewicht nach unten in den Abgrund, in ein Vakuum, in eine Einsamkeit, in eine Angst und in ein extremes Unvermögen, wo es keine Orientierung gibt. Dies kann zu Gefühlen von Zorn führen, und dieser wiederum zu einer Selbstentwertung: «Ich bin der Arbeit mit diesem Menschen nicht gewachsen.» Oder sie verlieren den Glauben an ihre Ausbildung und ihren Beruf: « Der von mir gewählte therapeutische Ansatz gibt mir nichts an die Hand, um mit diesem Menschen umzugehen.» «Psychotherapie hilft bei diesem Menschen überhaupt nicht; er braucht einfach nur Medikamente!»

Die Erfahrungen der Therapeut*innen mit depressiven Patient*innen können mit einer übergreifenden Metapher der «magnetischen Kraft der Depression» beschrieben werden (Roubal, 2010). Therapeut*innen fühlen sich von der Patient*innenerfahrung angezogen wie von einem Magneten. Sie wahren dann entweder einen sicheren emotionalen Abstand, indem sie sich hinter einer professionellen Haltung verbergen, die depressive Erfahrung nicht an sich heranlassen und dabei eine unangemessene Verantwortung für die gesamte Situation übernehmen. Oder sie kommen näher, indem sie die depressive Erfahrung der Patient*innen bis zu einem gewissen Grad teilen. Die therapeutischen Erfahrungen bestehen in einem Abstürzen, in Einsamkeit, Hilflosigkeit, Scham, Schwere. In diesem Fall kann es sein, dass Therapeut*innen sich der «depressiven Ansteckungsgefahr » ausgesetzt sehen, sie erfahren: «Das ist zu viel für mich!», und reagieren mit Selbstschutz und/oder Aggression gegenüber Patient*innen: «Sie/er ist unerträglich. Sie/er braucht mich, ich bin da und strecke meine Hand aus, aber sie/er kann sie nicht sehen!» «Nichts, was ich mache, ist von irgendeinem Nutzen, also kann sie/er machen, was sie/er will und mehr ist nicht drin!» Es kann sein, dass Therapeut*innen versucht sind, sich Patient*innen zu widersetzen oder sie herauszufordern: «Ok, dann schauen wir mal, was stärker ist: mein Engagement oder deine Unbeweglichkeit!»

Für Therapeut*innen ist es wichtig, sich ihrer Erfahrung bewusst zu sein und Patient*innen nicht dafür verantwortlich zu machen, denn das Verantwortlichmachen ist ein deutliches Merkmal eines depressiven Feldaufbaus. Therapeut*innen können die Metapher der «magnetischen Kraft der Depression» verwenden und ihre Erfahrung würde anzeigen, wie stark die «magnetische Kraft» der Depression und was ihre Position dazu ist.

Therapeut*innen selbst sind im depressiven Feldaufbau in Gefahr. Es kann sein, dass sie von der Depression eines Menschen «infiziert» und ebenfalls depressiv werden. Es gibt ein klinisch beobachtetes Phänomen, dass sich Gefühle im Zusammenhang mit einer Depression bei interpersonellen Kontakten verbreiten. «Die Ansteckungsfähigkeit der Depression» ist ein theoretisches Konzept, das als Hilfsmittel fungiert, um «Träger*innen» der Depression besser verstehen zu können, und das nicht dazu dient, ihm Schuld zuzuweisen. Dieses Konzept wird durch die Metaanalyse von 40 Forschungsprojekten (Joiner & Katz, 1999) gestützt, womit die Aussage: «depressive Symptome sind in engen Beziehungen ansteckend»5 hinreichend untermauert wird.

Die Aufgabe der Therapeut*innen ist es, anwesend zu bleiben, wo es so leicht wäre, abzutauchen, einzuschlafen oder die Beherrschung zu verlieren, nicht depressiv zu werden, wo es so leicht wäre, die Hoffnung zu verlieren. Solche Situationen stellen die mühevollsten Aufgaben für Psychotherapeut*innen dar: Sie stellen sich Patient*innen zur Verfügung, wobei ihre Es-Funktion einen Abgrund erfährt. Wie kann man so eine Höhle, so einen Abgrund bewohnen?

Sämtliche therapeutischen Erfahrungen sollten zu Bewusstsein gebracht werden, weil sie eine Art des Mit-dem-Anderen-Sein im Beziehungsfeld darstellen. Die Feldperspektive bietet Therapeut*innen in zweierlei Hinsicht Unterstützung: Sie ermöglicht ihnen, sich ihrer Emotionen zu erklären und gleichzeitig zu handeln. Allein dadurch, dass sie sich fragen: «Wie geht es uns jetzt in unserem gemeinsamen Niederdrücken?», können sie die Situation wieder einfangen.

Vorschlag für einen therapeutischen Ansatz6

Eine depressive Erfahrung ist wie ein Sumpf, für Patient*innen wie Therapeut*innen. Es ist sinnlos, in einen Sumpf zu springen, ehrgeizige therapeutische Ziele zu haben, Optimismus zu fordern. Je mehr Therapeut*innen Patient*innen zum Springen anspornen, desto tiefer versinken diese. Stattdessen braucht es kleine Bewegungen, die geduldig nach den kleinen Quellen für eine Unterstützung suchen. Therapeut*innen erzwingen keine Innenschau der Patient*innen, suchen nicht nach dem, was nicht funktioniert. Dieses rückwärtsgewandte und selbstkritische Muster bedeutet bereits eine zu starke Involvierung.

Bei der Arbeit mit depressiven Menschen müssen Therapeut*innen eine besondere Betonung auf Sicherheit, Struktur und Lernen legen. Das Prinzip des Ansatzes der Therapeut*innen liegt auf Unterstützung und Wertschätzung der Bemühungen und nicht der Frustration, weil sich depressive Menschen permanent selbst frustrieren (Roubal, 2007). In der Therapie lernen Patient*innen als Erstes, Unterstützung aus ihrer Umgebung anzunehmen und schaffen dann selbst ein System der Eigenunterstützung. Die Arbeit konzentriert sich darauf, dass die erste Aufgabe das Schaffen einer sicheren Umgebung ist, eines sicheren Beziehungsfelds, in der die Selbstheilungskräfte der Patient*innen aktiviert werden können.

Therapeut*innen gehen auf die tatsächlichen Fähigkeiten der Patient*innen ein. Erfahren sie Phänomene einer schweren Depression, dann ist es das Wichtigste, einfach präsent zu sein und Hoffnung zu geben. Sie unterstützen Patient*innen dabei, Distanz zur aktuellen Erfahrung zu halten, ein paar Gedanken dazu zu äussern. Später, wenn Patient*innen von der depressiven Erfahrung nicht mehr völlig überwältigt sind, sind sie vielleicht in der Lage, die Bedeutung der depressiven Erfahrung im Kontext ihres Lebens und ihrer Beziehungen zu erforschen.

Die Zukunft mit einzubeziehen ist eine wichtige therapeutische Aufgabe. Therapeut*innen müssen ganz besonders darauf achten, dass das therapeutische Gespräch auch immer Spalten offen lässt, durch die künftige Möglichkeiten ein Licht werfen können. Wenn Patient*innen sagen: «Ich sehe keine Zukunft – nur Schwärze», können Therapeut*innen die Aussage umformulieren, um einen grösseren Horizont aufzuzeigen, in der die Zukunft präsent sein kann (z.B. «Im Moment können Sie nicht über die schwierige Phase hinaussehen, die Sie gerade durchleben.»). In der therapeutischen Beziehung sind Therapeut*innen Hüter der Hoffnung, aber auch, radikaler, von Zeit und Raum. Dies gilt nicht nur für eine einzelne Sitzung, sondern von Sitzung zu Sitzung, wo Therapeut*innen die Fäden zusammenhalten, die Schritt für Schritt im Laufe der therapeutischen Beziehung gemeinsam zusammengefügt werden. Die therapeutische Zeit und der therapeutische Raum werden loci, in der die Zeit und der Raum der Erfahrung allmählich wieder beginnen zusammenzulaufen.

Es ist wichtig, Verstärkungen bei der Beschreibung depressiver Erfahrungen zu vermeiden. Therapeut*innen sollten bei der Verbalisierung oder Umformulierung der Erfahrung der Patient*innen sehr vorsichtig sein. Sie sollten sie auf einen spezifischen situativen Rahmen begrenzen, da eine Übertreibung der Phänomene eine Intensivierung der Erfahrung bedeuten könnte, die bereits dazu tendiert, die Grenzen zu überschreiten. Weil die depressiven Erfahrungen komplett vom Leben der Patient*innen abgetrennt scheinen, ist es die oberste Aufgabe der Therapeut*innen, diese wieder zu verbinden und damit auf nachvollziehbare Erfahrungen und Ereignisse zu begrenzen. Zum Beispiel könnte man auf die Beschwerde: «Ich spüre ein schreckliches Gewicht, das auf meine Brust drückt …», mit der Frage antworten: «Wie verändert dies Ihre Atmung? Gibt es Momente, wo der Schmerz geringer scheint? Können Sie mir sagen, wie sich dies im Laufe der Sitzung verändert?»

Es kann auch hilfreich sein, das, was Patient*innen in allgemeinen Begriffen äussern, in einen Kontext zu stellen, um die Erfahrung auf spezifische Situationen zu begrenzen. Wenn Patient*innen also sagen: «Ich fühle mich leer und ohne Energie», können Therapeut*innen folgende Fragen stellen: «In welchen Situationen empfinden Sie diese Leere stärker und in welchen weniger stark? Wann haben Sie dies diese Woche am stärksten empfunden? Wer war bei ihnen und was haben Sie gemacht?» Kurz gesagt, Therapeut*innen sollten die inneren Erfahrungen der Patient*innen nicht vergrössern. Die Retroflexion wird nicht verstärkt, dies würde nur die Isolation intensivieren; vielmehr führen Therapeut*innen die Erfahrung zurück an die Kontaktgrenze, zum Ort der Wiederbelebung und des inter-esse.

In der Behandlung depressiver Menschen ist die Arbeit mit der Retroflexion sehr spezifisch. Depressive Patient*innen richten Gefühle und Neigungen – zum Beispiel Wut oder Kritik –, die sie an ihre Umgebung richten müssten, gegen sich selbst. Therapeut*innen untersuchen diese Beziehungsmuster direkt in ihrer aktuellen Beziehung mit den Patient*innen. Und in dieser Beziehung experimentieren sie auch mit neuen Arten des Verhaltens und des in Beziehungtretens. Die Aufgabe der Therapeut*innen ist es, Patient*innen, und sei es in winzigen Schritten, dazu zu befähigen, die Energie, die diese in sich spüren, auszudrücken. Es ist wichtig, auch nur kürzeste Momente zu finden, zu betonen und zu würdigen, in denen Patient*innen ihre Energie für eine Handlung mobilisieren, die zu einem interpersonellen Kontakt führt, zum Beispiel, wenn sie einer anderen Person direkt in die Augen sehen oder ihre Meinung äussern. Therapeut*innen weisen auf diese Momente hin und leitet Patient*innen dann dahin, dass ihnen der Prozess bewusst wird. Wie hat sie/er diese Energie in diesem Moment mobilisiert? Was war nötig, dass dies geschehen konnte? Patient*innen können eine neue Erfahrung machen: »Diese kleine Sache war etwas, mit dem ich zurechtgekommen bin. Ich bin nicht komplett handlungsunfähig.» Langsam und Schritt für Schritt finden sie ihren Weg, wie sie sich bestätigen können die Energie zu mobilisieren, um eine Handlung vorzunehmen. Sie lernen, den Ausdruck ihrer Energie zu mässigen. Dennoch müssen Therapeut*innen in der Arbeit mit der Retroflexion vorsichtig sein. Patient*innen müssen erst über ausreichend Selbstunterstützung verfügen, um die retroflexiven Impulse (z.B. Wut), die möglicherweise in der Therapie freigesetzt werden, handhaben zu können.

Der depressive Mensch muss lernen, wie er sich anders als durch Isolation schützen kann. Er muss lernen, wie er seine Erfahrung in einen Kontakt mit seinem Umfeld dirigieren kann. Wenn wir auf diese Weise mit Retroflexion arbeiten, können wir den starren Kontaktstil der Patient*innen in die entgegengesetzte Richtung lenken; wir richten sie nach aussen. Die Kontaktfolge, die vor der Handlung mittels der Retroflexion feststeckte, kann jetzt wieder fortgesetzt werden. In der sicheren Beziehung mit Therapeut*innen lernen Patient*innen die Fähigkeit neu, Kontakt flexibel aufzunehmen und sich davon zurückzuziehen. Später nutzen sie die Unterstützung durch die therapeutische Beziehung, diese neuen Fähigkeiten auch in anderen Beziehungen auszuprobieren. Ziel ist es, die Fähigkeit wiederherzustellen, sich gestalterisch an die jeweiligen Bedürfnisse des Organismus anpassen, flexibel Kontakt aufnehmen und sich davon zurückziehen zu können.

Die extreme Müdigkeit, unter der Patient*innen mit Depressionen oft leiden, ist nicht die Folge von etwas, das sie aktiv getan haben, sondern ihrer Abkehr von jeglichen Situationen. Sie stammt nicht aus Engagement und Bemühungen – vielmehr nimmt sie deren Platz ein. Depressive Müdigkeit ist ein Paradoxon. Sie ist morgens am stärksten, verstärkt sich mit Inaktivität und nimmt mit körperlicher Betätigung ab. Aus diesem Grund ist der Einsatz körperlicher Energie, sich zu bewegen, sich körperlich zu verausgaben, eine positive Erfahrung für Menschen, die unter einer Depression leiden. In der Therapie sollten wir jede Gelegenheit ergreifen, Patient*innen in dieser Hinsicht anzuspornen, sie auch zu körperlichen Aktivitäten zu ermuntern. Diese Körperarbeit kann auf unterschiedliche Weise und in diversen Rahmen vorgenommen werden. Wie wir bereits beschrieben haben, können Therapeut*innen einfach versuchen, Patient*innen in Bewegung zu bringen. Sie können versuchen, ein Bewusstsein in den Patient*innen zu fördern, die dann die sensorischen und motorischen Möglichkeiten ihres Körpers verbessern. Therapeut*innen unterstützen Patient*innen dabei, einen Schritt aus der Mobilisierung der Energie in eine Handlung zu tun. Zu diesem Zeitpunkt wird nicht nur der Körper der Patient*innen mobiler und leistungsfähiger, er wird sich auch lebendiger, freier und kreativer fühlen. Hier liegt der Schwerpunkt darauf, wie sich Patient*innen fühlen, wenn sie sich bewegen.

Dann gibt es noch einen weiteren Ansatz, der spezifisch für den Gestaltansatz ist und dessen Ziel letztendlich die Exploration der Kontaktphänomene ist (Frank, 2001). Der Schwerpunkt liegt hier auf den Gefühlen der Patient*innen und Therapeut*innen, wenn sich Patient*innen zu Therapeut*innen hin oder von ihnen weg bewegen (oder dies nicht tun). Die Arbeit in Bezug auf die körperlichen Erfahrungen der Patient*innen zielt auf die Unterstützung für die Reise zur Überquerung des Raums zwischen Patient*in und Therapeut*in. Hier korrespondiert der relationale Raum nicht mit dem Euklidischen: Einige wenige Zentimeter körperlicher Entfernung können Lichtjahren bei der relationalen Entfernung entsprechen. Die Gesamtwirkung dieser Arbeit ist nicht nur ein erhöhtes Bewusstsein der Patient*innen für ihren Körper. Sie kann den Körper auch im Feld des Kontakts ins Spiel bringen und dabei die Fähigkeiten der Person bei Begegnungen und mit anderen zu sein verbessern. Das Endresultat ist nicht so sehr ein fein gestalteter Muskeltonus als eine andere Art von Schönheit: die tiefgehend reelle und dennoch flüchtige Schönheit, die aus dem Moment kommt, in dem man Anderen voll und ganz begegnet ist:

Wenn Erinnerungen an ihren Vater auftauchen, friert Ada ein, eingeschlossen in ihre versteinerte Haltung. Ich bat sie, sich zu mir zu bewegen, aber es ist zu viel, da ist keine Kraft für diese Bewegung. Ich frage sie, welchen Teil meines Körpers sie vielleicht mag. Nach einer Weile sagt sie ‹Ihre Wange›. Ich schlage vor, dass sie den Raum zwischen uns mit ihrer Hand überquert, um zu meiner Wange zu gelangen. Sie versucht es, zitternd, und langsam erreicht sie meine Wange, es gibt einen Schrei in der eingefrorenen Stille und sie beginnt zu weinen. Es ist das erste Mal, dass sie so eine Geste gegenüber einem Mann freisetzen kann: Bis zu diesem Moment war dies eine unvollständige und vergessene Geste, die sie in Bezug auf ihren Vater in Ehren gehalten hatte.

Es ist wichtig, noch einmal zu betonen, dass Gestalttherapeut*innen depressive Patient*innen nicht als Objekte sehen, die sie studieren und auf die sie therapeutische Verfahren anwenden. Die therapeutische Aufgabe ist es, sich zu fragen: Wie kann ich bei der Schaffung der gegenwärtigen Form unserer Beziehung mit Patient*innen kooperieren? In Bezug auf depressive Patient*innen fragen sich Therapeut*innen: Wie trage ich zu dem Umstand bei, dass die Patient*innen, die vor mir sitzen, retroflexiv werden und sich selbst vor einer Handlung stoppen? Wie drücken wird uns zusammen nieder? Therapeut*innen untersuchen dann diese Muster zur Beziehung in der therapeutischen Beziehung im Hier und Jetzt. Darüber hinaus experimentieren sie in dieser Beziehung mit neuen, ungewöhnlichen Arten von Verhalten und Sich-in-Beziehung-Setzen.

Das Akzeptieren des aktuellen emotionalen Status der Patient*innen kann als Beispiel dienen. Therapeut*innen nehmen sämtliche Beschwerden bzgl. einer niedergeschlagenen Stimmung, einer Leistungsschwäche und eines niedrigen Selbstvertrauens ernst. Sie trösten aber nicht und resignieren auch nicht. Soweit dies möglich ist, wiederholen sie die Reaktionen, die Patient*innen aus ihrer Umgebung kennen und die sie wieder und wieder in einer fixen Gestalt der Depression unterstützt haben. Familien der Patient*innen versuchen, diese zu trösten: «Es ist nicht so schlimm, wie Du sagst. Mach Dir keine Sorgen, es ist alles bald wieder in Ordnung.» Wenn aber ein depressiver Mensch weiterhin retroflexiv ist und sich dem Kontakt entzieht, resignieren die ihm Nahestehenden und schicken ihn zu Spezialist*innen. Damit verstärken sie erneut sein starres depressives Muster.

Therapeut*innen vermeiden die Wiederholung dieser Muster. Natürlich werden sie im Therapieverlauf von Patient*innen dazu verleitet, zu trösten oder zu resignieren. Sie können sich aber aufgrund ihres Bewusstseins davon frei machen, automatisch auf Patient*innen zu reagieren, und schaffen einen Freiraum, der das Potenzial hat, dass anders aufeinander Bezug genommen werden kann. Dies befähigt Patient*innen, aus starren depressiven Mustern herauszutreten. Therapeut*innen eröffnen die Möglichkeit zu Aktivität über ein Bewusstsein, dass Klient*in und Therapeut*in zusammen, je wie es sich ergibt, Ereignisse schaffen. Wenn dies erreicht ist, kann die Handlung, die vorgenommen wird, so etwas Einfaches sein wie wach bleiben, das Wahren des Denkvermögens oder dass Unterstützung bei einem Dritten gesucht wird, wenn Therapeut*innen nahe an den depressiven Abgrund kommen. Auf diese Weise verlieren Therapeut*innen nicht die Hoffnung, dass sie Patient*innen letztendlich erreichen werden und weiter zu deren Verfügung bleiben. Diese fortgesetzte Fähigkeit des Hoffens und des Anwesendseins (trotz der durch den Abgrund bedingten Abwesenheit des Anderen) ist die Grundlage schlechthin für die Therapie beim Umgang mit schweren Depressionen.

Literatur

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L’approccio della terapia della Gestalt alle esperienze depressive

Riassunto: L’esperienza del lutto e l’esperienza depressiva si distinguono per evidenziare il nucleo della sofferenza delle persone che soffrono di depressione. Nell’esperienza del lutto, una persona o una situazione specifica diventa irraggiungibile, e in essa risiede la perdita subita. L’esperienza della depressione malinconica è diversa: quello che viene perso è ciò che lega il soggetto alla struttura che lo collega al mondo. Si introduce un approccio radicalmente relazionale alla depressione, in cui il cliente e il terapeuta sono visti come depressivi qui e ora nella situazione della terapia.

Parole chiave: terapia della Gestalt, depressione, dolore, psicopatologia, funzioni del sé

Die Autoren

Gianni Francesetti, Dr., ist Psychiater, Gestalttherapeut, Assistenzprofessor für den Phänomenologischen und Existenziellen Ansatz, Abteilung für Psychologie, Universität Turin, Internationaler Ausbilder und Supervisor. Er ist Präsident des Internationalen Instituts für Gestalttherapie, Psychopathologie und Psychotherapie (IPsiG) – Klinisches Zentrum für Gestalttherapie Turin.

Jan Roubal, Dr., ist Psychotherapeut, Psychiater und ausserordentlicher Professor an der Masaryk Universität in Brünn, Tschechische Republik, wo er auch im Zentrum für psychotherapeutische Forschung arbeitet. Er begründete ein Trainingsprogramm für Integration der Psychotherapie und für Gestaltstudien in der Tschechischen Republik. Er arbeitet zudem international als Ausbilder für Psychotherapie und Supervisor.

Kontakt

Gianni Francesetti
E-Mail: gianni.francesetti@gmail.com
Jan Roubal
E-Mail: jan.roubal.cz@gmail.com

Anmerkungen

1 Dieser Aufsatz basiert auf unserem Kapitel in Francesetti et al. (2013). Wir empfehlen dieses sowie Francesetti (2014) zur weiterführenden Lektüre.

2 Siehe Galimberti (1987, 2003); Borgna (1988, 1992, 1994, 2008); Blankenburg (1971); Kimura (2000, 2005); Callieri (2001); Rossi Monti (2002); Minkowski (1933); Binswanger (1960); Stanghellini (2006); Maldiney (1991); Gozzetti (2008); Salonia (1989, 2001a, b, 2005, 2008, 2010); Melnick & Nevis (1998); Greenberg et al. (1998); Amendt-Lyon (1999); Spagnuolo Lobb (2001a, b, 2005, 2007); Staemmler (2004); Vázquez Bandín (2005); Van Baalen (2010); Bloom (i.V.).

3 Einige spezifische (psychotische) Phänomene tauchen bei der Melancholie auf. Wir können uns das Kontinuum der depressiven Erfahrung als Wasser vorstellen, das kälter und kälter und schliesslich zu Eis wird.

4 Hier verlassen wir die psychoanalytische Perspektive, gemäss der die Melancholie in einem unbewussten Verlust eines Objekts besteht, der auf das Ich übertragen wird – und hierin liegt der Unterschied zur Trauer, bei der der Verlust auf die äussere Welt übertragen wird (Freud, 1925 [1917]).

5 Es gibt diverse Hypothesen zur Erklärung des Mechanismus, zum Beispiel exzessive Suche nach Unterstützung, exzessive Selbstenthüllung, emotionale Übertragung, Belastung, assortative Paarung, Attributionstheorien, gemeinsame Geschichte, Selbstbestätigung, Nachahmung.

6 Es gibt nicht viele Studien zur Gestalttherapie bei Depressionen. Es scheint, dass die Gestalttherapie ähnlich wirksam ist wie andere therapeutische Methoden, wie etwa die kognitive Verhaltenstherapie (Rosner et al., 1999; Beutler et al., 1991). Die Wirkung einer Therapie, die auf einer unterstützenden therapeutischen Beziehung basiert, kann unter Umständen durch den Einsatz von spezifisch auf Emotionen fokussierte Interventionen gesteigert werden, die in der Gestalttherapie genutzt werden (Greenberg & Watson, 1998). Greenberg präsentiert die Nachweisbasis für emotionsfokussierte Therapie (EFT, die er als eine Verflechtung der Gestalttherapie mit dem personenzentrierten Ansatz beschreibt. In drei separaten Versuchen wurde eine manualisierte Form der EFT bei Depressionen als genauso wirksam befunden bzw. wirksamer als eine rein relationale empathische und eine kognitiv-verhaltensbezogene Behandlung. Die EFT war bei der Reduzierung interpersoneller Probleme wirksamer als beide und begünstigte mehr Veränderung bei den Symptomen. Die EFT war auch sehr wirksam bei der Verhinderung von Rückfällen (Greenberg & Watson, 2005). Andere Studien zeigen, dass der Gestaltansatz besonders wirksam ist bei der Therapie von internalisierenden Patient*innen, die mit der Depression intrapunitiv umgehen (Beutler et al., 1991).