Editorial

Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 5–6 2020

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2020-2-5

Depressive Erkrankungen nehmen in den letzten Jahren weltweit zu. Die WHO geht davon aus, dass sie im Jahr 2020 die zweithäufigste Erkrankung darstellen. Galten sie bislang als gut behandelbar, zeigt sich nun, dass viele schwere Depressionen chronifizieren können und dass die Anzahl chronifizierter Depressionen steigt. Das war uns Grund genug, ein Heft zum Thema der Therapie depressiver Prozesse zu machen, in dem die Thematik vielseitig ausgeleuchtet wird, von aktueller Forschung bis hin zur Darstellung besonderer Ansätze der Therapie.

Marianne Leuzinger-Bohleber stellt die LAC-Studie vor (Langzeit-Studie chronischer Depressionen), in der Therapieverläufe psychoanalytischer Langzeitbehandlungen und solche mit Kognitiver Verhaltenstherapie untersucht und verglichen wurden. Beide Verfahren erwiesen sich als erfolgreich. Es liessen sich keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Verfahren finden bzgl. Symp­tomreduktion. Ebenso ergaben sich keine Unterschiede im Outcome, wenn man die Gruppe mit randomisierter Verteilung der PatientInnen gegen die Gruppe verglich, in der PatientInnen mit ihrer Wunschtherapie behandelt wurden. Dieses Ergebnis überrascht, da bisher die Kognitive Verhaltenstherapie psychoanalytischen Behandlungsmethoden als überlegen ausgewiesen wurde. Zudem konnte belegt werden, dass nach drei Jahren bei jenen PatientInnen die depressiven Symptome am deutlichsten zurückgingen, die die grössten strukturellen Veränderungen zeigten. Diese PatientInnen waren mit psychoanalytischen Methoden behandelt worden.

Stefan Müters, Lars E. Kroll, Julia Thom und Jens Hoebel untersuchten in der DEGS1_MH-Studie (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland) die Bedeutung von sozialen Faktoren für die Entstehung und den Verlauf depressiver Krankheitsbilder. Konkret beschränkten sie sich auf die Wirkung von Arbeitslosigkeitserfahrung und sozialer Unterstützung im Hinblick auf depressive Erkrankungen. Frauen und Männer mit Arbeitslosigkeitserfahrung sind etwa doppelt so oft von Depressionen betroffen wie Erwerbstätige ohne Arbeitslosigkeitserfahrung in den letzten fünf Jahren. Die Analysen betonen die Bedeutung sozialer Ressourcen für den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Depressionen.

Gianni Francesetti und Jan Roubal beschreiben einen gestalttherapeutischen Ansatz zum Verständnis und zur Therapie depressiver Erfahrungen. Sie verfolgen einen radikalen dialogischen Ansatz und verstehen depressives Erleben als kokreiert in Beziehungen eines sozialen Systems. In der Therapiesituation zeigt sich, wie die Kommunikation zu depressivem Erleben führt, das beide erfasst, PatientIn und TherapeutIn. Im Besprechen dieses Phänomens bietet sich die Chance für die Therapie, das depressive Muster gemeinsam aufzubrechen. Dieser Beitrag wird im englischen Original wie auch in deutscher Übersetzung wiedergegeben.

Günter Schiepek beleuchtet die Ergebnisse verschiedener Depressionsstudien am Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung in Salzburg. Im Gegensatz zum Ansatz mit manualisierten Therapievorgehen präferiert er eine personalisierte Psychotherapie. Er sieht depressive Prozesse als systemische Prozesse, zu denen sich in der Forschung bestimmte Muster abzeichnen. Bei Ordnungsübergängen zeigt sich eine kritische Instabilität, die prädikativ für einen besseren Therapieerfolg ist. Seine Forschungsgruppe hat eine spezielle App entwickelt, die tägliche Befindlichkeitsmessungen erlaubt. Neben klinischen Verbesserungen konnten auch Veränderungen der funktionellen Konnektivitätsdynamik neuronaler Netze aufgezeigt werden. Zum Schluss erläutert der Autor die Möglichkeit, nichtinvasive Stimulierungen der Gehirnaktivitäten mit Psychotherapie zu verbinden.

Holger Himmighoffen und Heinz Böker stellen die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) als Teil einer multimodalen Behandlung depressiver Störungen vor. Das Verfahren war früher unter dem Namen Elektroschocktherapie bekannt und unter Verruf geraten wegen seiner schweren Nebenwirkungen. Die Autoren beschreiben die heutige EKT als ein Verfahren mit auf Dauer relativ wenig Nebenwirkungen, das seinen sinnvollen Platz bei chronifizierten Therapieverläufen hat, bei denen weder Psychotherapie noch Pharmakotherapie helfen. Dazu legen sie Forschungsresultate vor. EKZ ist keine Psychotherapie, sondern eine biologische, medizinische Therapie. Die Autoren zeigen, wie sich Psychotherapie und EKT ergänzen können. Die Redaktion publiziert diesen Beitrag, weil sie es als relevant erachtet, dass PsychotherapeutInnen davon wissen, dass die EKT in einigen Schweizer psychiatrischen Kliniken regelmässig praktiziert wird. Ausserhalb der Kliniken wird im öffentlichen Raum kaum darüber berichtet und diskutiert. Gern nehmen wir allfällige Lektürereaktionen und Diskussionsbeiträge in einem nächsten Heft auf, um eine Plattform für eine fundierte Debatte zur EKT anzubieten.

Den Abschluss des thematischen Teils bildet wie immer der Beitrag von Paolo Migone mit Literaturangaben und Abstracts aus der Zeitschrift Psicoterapia e Scienze Umane.

In Heft 2-2019 wurde ein Beitrag von Markus Erismann zum Wissenschaftsbegriff in der Psychotherapiewissenschaft von Kurt Greiner und Gerhard Burda kommentiert. Markus Erismann schrieb nun eine Entgegnung, die wir unter der Rubrik «Debatte» abdrucken. Diese Diskussion wurde von den damaligen HeftherausgeberInnen, Rosmarie Barwinski und Mario Schlegel, ausdrücklich gewünscht. Gern drucken wir auch weitere Diskussionsbeiträge aus der Leserschaft in künftigen Heften.

Zur Diskussion um die Psychotherapiewissenschaft passt auch der Beitrag von Gerhard Burda mit dem Titel «Medium und Mediat in Psychotherapie und Psychotherapiewissenschaft». Der Text vergleicht einen starren und einen dynamischen Zugang zur Wirklichkeit anhand der beiden Begriffe Mediat und Medium. Medien werden nicht als Wesen oder Identitäten, sondern als Selbst-Differenzen bzw. Verbindungs- und Trennungsverhältnisse in einem ontologischen Sinn aufgefasst. Unsere Wirklichkeit(en) kommen dieser medialistischen Auffassung nach dadurch zustande, dass selbst-differente Medien einander permanent mediatisieren. Beispiele aus der Psychotherapie verdeutlichen, wie der Veränderungsprozess Inter- und Intrapsychisches umgreift. Die Idee, dass der Medienbegriff als Klammer für sämtliche Psychotherapieformen dienen kann, wird in Richtung Psychotherapiewissenschaft weitergeführt.

Mehrere Buchbesprechungen runden dieses Heft ab. Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Rosmarie Barwinski & Peter Schulthess