Rezension
Theodor Itten
Harlich H. Stavemann, Yvonne Hülsner: Der Blick hinter das Symptom – Problemorientierte Kognitive Psychodiagnostik (PKP) und abgeleitete Behandlungspläne
2014, Weinheim, Beltz-Verlag. 240 Seiten, EUR 34,95
In Joseph Hellers Roman „Catch 22“ ist der Bomberpilot John Yossarian in einer ganz schönen Zwickmühle: Wenn er einen Angriff fliegen will, ist er wahnsinnig und muss daher nicht fliegen. Aber wenn er den Bomber nicht fliegen will, ist er ja gesund und muss daher abheben. So eine frustrierende, ärgerliche und verhaltensverwirrende Problematik ist genau das Erfahrungsfeld, welches „Der Blick hinter das Symptom“ zu lösen sich vornimmt. Zusammen mit der Psychotherapeutin Yvonne Hülsner (Bielefeld) hat der emsige Autor von nunmehr elf Büchern Harlich Stavemann (Hamburg) eine neue problemorientierte kognitive Psychodiagnostik (PKP) geschrieben und präsentiert ihre abgeleiteten Behandlungspläne. Diese sind Handlungs- und Erlebnisrezepte, welche, wie im Lernen eines Musikinstrumentes, erst eingeübt und vertiefend gelernt werden müssen. Auf dem Umschlag des schönen und leserfreundlichen Buches des Beltz-Verlages ist eine mit Rissen im Verputz der Jahreswitterung trotzende Hauswand abgebildet. Ein Teil des Verputzes ist abgebrochen und gibt dadurch den Blick auf die Backsteinmauerung frei. Was wird hinter der putzigen Fassade von uns Menschen sichtbar, wenn diese zu bröckeln anfängt?
Das Buch, welches versucht, hier paar wichtige Antworten zu geben, kommt in zwei Teilen. Den ersten Teil mit schlanken drei Kapiteln hat Stavemann verfasst. Hier legt er dar, wie die Konzepte der PKP geschichtlich aus verschiedenen Strängen der sich vielseitig entwickelnden kognitiven Verhaltenstherapie entstehen konnten und wozu sie nützlicherweise –also kurativ – eingesetzt werden können.
Im zweiten Teil mit sechs Kapiteln geben die beiden Schreibenden die praktischen Anwendungen der PKP zum Besten. In ihren allgemeinen Betrachtungen von Einzelfällen in ihrem bestimmten psychotherapeutischen Fachgebiet der kognitiven Verhaltenstherapie schildern sie erst singuläre Probleme, welche immer schon parallele Probleme haben können, die oft in Problemketten verschweisst sind. Dazu können diese im hierarchischen Problemszenario ebenso erscheinen wie und, noch komplexer, mit den vertikalen und horizontalen Problemen gemischt vorkommen. Wenn Sie jetzt an die verzwickten Aufgaben von Gerüstbauern denken, liegt ihre Phantasie nicht im Argen. Schon unser Grossmeister aus Wien, Sigmund Freud, bekannte sich dazu, dass seine Konzepte (Ich, Überich, Unbewusstes) und Theorien der Psychoanalyse die Gerüste am Lebenshaus eines Menschen sind. Die praktischen Vorteile der PKP sind, dass diese eine komplexe Lebenssituation operativ auf drei hauptsächliche Schwierigkeiten des Lebens vereinfacht, welche oft als problematische Hindernisse zum eigenen und fremden Zufriedensein auftreten können. Wie ein Zahnarzt einen Eingriff operativ vereinfachen kann, falls er eine Abkürzungen findet, so ist diese problemorientierte, auf umfassende Prozesse des Wahrnehmens, Erkennens, Begreifens und Urteilens fokussierte, zum Handeln aufmunternde Psychodiagnostik eine tolle Erleichterung. Die drei Problembereiche, die uns alle – wenigstens in Europa – bedrängen, sind Selbstwert, Frustrationstoleranz und existentielle Situation. Obschon diese Dreiteilung im ersten Leseblick simpel erscheinen mag und dieses Anwendungsgebiet der PKP im diagnostischen Blick tatsächlich leichter lernbar ist als ICD-10, sind die Behandlungskonzepte bei Selbstwert-, Frustrationsintoleranz- und existentiellen Problemen jedoch nach wie vor komplex. In ihrer praktischen Anwendung, sei’s durch PatientIn oder BehandlerIn, liest sich das alles wie ein verdichtetes Gourmetkochbuch. Die Leitfäden, welche uns die beiden AutorInnen in die Hand geben, können, müssen ja erst mal ausprobiert werden. Diese ersten Erfahrungen helfen danach, sie in ihren Einsatzmöglichkeiten, welche zu unserer Hilfe genau umschrieben werden, auszutesten. Von den singulären Selbstwert-, Frustrationstoleranz- und existentiellen Problembereichen kommen wir in die Sphäre der parallelen Probleme. John Yossarian in „Catch 22“ leidet parallel an einem Selbstwertproblem und einem existentiellen Problem. Dieses Dilemma – gleichzeitig gezogen sein von zwei Seiten: gesund vs. gestört – sucht sich eine heilende Lösung in der Problemkettenanalyse. Da der Lebenskontext von Yossarian ein Krieg in Vietnam ist, lebt er eher in einem Problemnetz, welches auf mindestens drei ineinander verwobenen Strängen basiert. Hier eine hierarchische operative Übergangsordnung zu gestalten ist ein weiteres Angebot dieses kompetent aufgebauten Repertoriums. Zu jeder Sach- und Beschwerdelage wird eine Symptomatik reflektiert, dann folgt ein Modellbeispiel mit Explorationsdialogenmuster, die daraus aufgedeckten Anamneseerkenntnisse werden in psychische und organische Befundgruppen aufgeteilt. Danach werden die Problem- und Verhaltensanalysen verschiedenen Mikroanalysen unterzogen, damit wir schlussendlich eine ehrliche Diagnose erhalten, welche das Therapieziel und die Behandlungsprognose bestimmen werden. Hier geht nichts ohne abgesprochenen und vereinbarten Behandlungsplan. Ohne Menüplan, Kochrezeptabfolge gibt es das gewünschte Essen nicht auf dem Teller. Es empfiehlt sich erst mal den Leitfaden zum Erheben der psychischen Probleme anhand einer impliziten ABCZ-Erstellung (S. 73) – Anlass, Bewertung, Zusammenfassung, Identifikation und Zielformulierung – auswendig zu lernen, damit wir das nötige Basisrepertoire aufbauen können. Es ist alles da. Die Fragebogen zur Lebensgeschichte und Problematik, der Leitfaden fürs Erstgespräch und die hilfreiche Falldarstellungsstruktur. Was wir brauchen, wenn wir diese PKP und ihre Behandlungsform erfolgreich nutzen wollen, ist wie bei allem Neuen Zeit, Geduld und Interesse zum Einüben. PKP basiert axiomatisch auf der Hauptregel: Die psychoneurotischen Störungen sind durch lerngeschichtlich erworbene Muster und Konzepte begründet. Wir müssen das nicht glauben, es wirkt trotzdem. Erst danach können wir selber subjektiv einschätzen, ob dieser verlockende Blick hinter das Symptom, hin zum jeweiligen, leidverursachenden Lebensthema, uns weiter bringt. Versucht es.