Volker Tschuschke (2019). Psychische Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen. Eine kritische Bestandsaufnahme evidenzbasierter Diagnostik und Behandlung
Stuttgart: Kohlhammer ISBN 978-3-17-030845-9. 438 S., 49,00 EUR
Psychotherapie-Wissenschaft 10 (1) 84–85 2020
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https://doi.org/10.30820/1664-9583-2020-1-84
Volker Tschuschke, in der Schweizer Psychotherapie- und Psychologieszene bekannt als Forschungsleiter der PAP-S Studie, emeritierter Professor des Lehrstuhls für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum zu Köln und weiterhin als lehrender Psychoanalytiker und Gruppentherapeut in Berlin tätig, legt uns Glücklichen sein neustes grosses Werk vor. Um was geht es? Dreht man das Buch um, bescheibt der erste Satz auf dem Umschlag es so:
«Das Buch dokumentiert das aktuell verfügbare Wissen zur differenziellen Wirksamkeit unterschiedlicher psychotherapeutischer Verfahren bei 22 psychischen Krankheitsbilden. Gleichzeitig versucht es, eine Brücke zwischen klinischer Praxis und Forschung zu schlagen.»
Schauen wir mal, ob der Autor dieses Versprechen einlösen kann.
Wir alle wissen, dass seelische Krankheiten, psychische Störungen und psychosoziales Elend in Kindheit und Jugend nicht einfach so vom Himmel fallen. Die Not der kindlichen Psyche, deren Schreie zu Abertausenden gen Himmel hallen, wird von den sogenannten «erwachsenen Menschen», Männern und Frauen, weltweit millionenfach produziert. Die statistischen Zahlen, allein in Deutschland und der Schweiz, sind seit Jahren für alle Psychopherapeut*innen zum Mitheulen. Zehntausende Kinder wurden 2019 wieder Opfer von sexueller und körperlicher Gewalt, von Kriegstrauma (Flüchtlingskinder), von Vernachlässigung und von psychischem Terror. Ein Seelenmord vor unseren Haustüren. Wenn wir uns psychotherapeutisch um solche Opfer kümmern, wissen wir, für jedes einigermassen gut genug geheilte Kind kommen jedes Jahr wieder viel mehr andere hinzu, die keine psychotherapeutische Traumabehandlung bekommen können.
In Deutschland sind mindestens 40 Kinder pro Tag sexueller Gewalt ausgesetzt, circa 14.700 insgesamt pro Jahr (Quelle: BKA). Jedes Jahr werden zusätzlich bis zu 140 Kinder (darunter viele Kleinkinder) gewaltsam getötet. Jährlich steigen diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutschland und auch in der Schweiz, wo fast jedes dritte missbrauchte Kind körperliche Gewalt erdulden musste, jedes fünfte ein Opfer sexueller Gewalt wurde. Auch Vernachlässigungen und Misshandlungen nehmen zu (27 %). 10 % wurden absichtlich von ihren Eltern krank gemacht. Glücklich diejenigen Kinder, die solcherart nicht erleben mussten oder müssen. Ist es heute gefährlicher als vor 60 Jahren, ein Kind zu sein? E. M. Ciorans Buchtitel Vom Nachteil, geboren zu sein (1973) bekommt mit all diesen Statistiken eine neue Dimension.
Ich hatte einen Jungen in meiner Praxis, dessen Vater ihn schon mit acht Jahren zu einem Krieger abrichtete. Wie schlimm muss dies alles noch werden? Als junger Erwachsener hat dieser «Krieger», der nun ein Hooligan war, seinen Vater in einer Bierkneipe fast getötet. Welches Massaker an den Seelen der Zukunft wollen wir Praktizierende und Forschende der Heilkunst noch unwidersprochen tolerieren? Faktotum ist: Unsere Zivilisation ist krank! Der Alibimythos des Jungenmordes, vonseiten Herodes Antipas nach Jesu Geburt, der selbstverständlich nach geschichtlichen Quellen nie stattgefunden hat, diente lediglich über Tausende von Jahren als Narrativ des neu aufkeimenden, als Erlösung bedachten, christlich-griechischen Theologie-Ansatzes. Wie viele Kinder jedoch seit dem Zweiten Weltkrieg von sogenannten christlichen Priestern und Nonnen sexuell und mit körperlicher Gewalt missbraucht wurden, ist empörend. Zum Beispiel das Echo an die Moses-Geschichte, wo das Knäblein in einem Korb auf dem Nil ausgesetzt wurde (sorgsame Vernachlässigung), nachdem der damalige ägyptische König befohlen hatte, alle neugeborenen Israeliten zu töten. Wir wissen nicht, ob es so stattgefunden haben kann. Aber: Das, was hier und jetzt, tagtäglich an Kindsmissbrauch passiert, ist kriminalistisch empirisch erhärtet. Die Geschichten derer, die solches Leid erleben mussten, sind dramatisch und traumatisch.
Nun kommt Volker Tschuschke mit seinem grossartigen Kompendium daher. Es ist eine Wohltat, weil dieser Autor uns sein ganzes Wissen, en detail durch seine über 40 Jahre Berufserfahrung gesammelt, vor uns hinlegt. Allererst kümmert er sich genaustens, als sozialpsychologisch versierter Autor, um die verschiedenen Ausgangspunkte psychischer Störungen. Diagnose ist die Aktivität, sich einen Durchblick zu verschaffen. Was ist passiert und wieso? Wer hat veranlasst, was geschehen ist und in wessen Namen? Wie sieht die grosse Verwundung (griechisch: Trauma) aus? Erst wenn wir Praktizierenden der Heilkunst uns ein verlässliches Bild der Situation – Kontext und Content – gemacht haben, werden eine Prognose und ein adäquater Behandlungsplan möglich sein.
Tschuschke zeigt, wie die Psyche aufwachsender junger Menschen gestört werden kann und wird. In acht Abschnitten beschreibt, bespricht und reflektiert er Missbräuche, Misshandlungen, Vernachlässigung und beschreibt ausführlich die Traumatisierung als «grosse Risikofaktoren und Prädikatoren für Störungen!» Danach folgt, für ältere Semester ein Repertorium, für neu Lernende eine Wucht von Lehrbuch. Im dritten Abschnitt widmet er sich einer Störung nach der anderen. Am Schluss sind es 62 seelische Verletzungsbereiche, die sich jeweils als psychische Störung manifestieren lassen. Es ist grässlich, worunter ein Kind bzw. junger Mensch leiden muss, respektive wie sie oder er zum Leiden geschlagen und missbraucht wird. Bei jedem Kind oder jedem Jugendlichen, wo solch eine Störung auftritt, ist unser helfender Blick jeweils auch auf Eltern, Familie und Erziehungsanstalt zu richten.
Jedes von insgesamt 22 Störungsbildern – Zwangsstörungen, PTBS, Süchte, Depression usw., und ja, auch ADHS, Psychosen und Ängste sind mit dabei – wird umfassend behandelt. Jedes Kapitel ist professionell, gekonnt und lehrreich aufgebaut. Erst kommt die Historie, das klinisches Bild, die Epidemiologie und die Prävalenz, gefolgt von der Ätiologie, der Pathogenese, umsichtig ganzheitlich mit psychischen und biologischen Faktoren, Diagnostik und, falls nötig einer Differenzialdiagnostik. Bei Tschuschke bekommen wir die relevante Studienlage zu den jeweils vorgeschlagenen empirisch kontrollierten Behandlungsansätzen, dezent zusammengefasst, mit dazu. Manchmal vertieft der umsichtige Autor eine strittige Begriffserklärung, schaut sich die Komorbidität an und beschreibt die Folgeschäden, wie bei Substanzmissbrauch, dessen Beginn oft ein Selbstmedikationsversuch gewesen ist. Zum besseren Verständnis und als Lernhilfe (Repetitionshilfe) fasst Tschuschke sein grosses Wissen tabellarisch zusammen.
Im vierten Teil dieses Kraftaktes bekommen wir sein insistierendes Plädoyer für eine wissenschaftlich fundierte Effizienz- und Effektivitätsforschung in der Kinder und Jugendlichenpsychotherapie/-psychiatrie dargelegt. Er beschreibt, was alles schon gemacht wurde und somit evidenzbasiert schon da ist. Hier ist ein Sozialwissenschaftler und Humanist am Werk, der nach einem langen Forscher- und Praxisleben eine differenzierte und ermunternde Kritik wagt. Er fragt sich und uns Lesende, was im Duett von Forschungspraxis und Praxisforschung positiv verbessert werden könnte. Was für Ergebnisse haben wir? Welchen Statistiken ist zu vertrauen? Was für alternative Forschungsansätze helfen, nervige Probleme zu beheben? Die politische Ökonomie des Gesundheitswesens mit dem verdeckten und trotzdem offenen Geheimnis der Gewinnmaximierung der Pharmaindustrie wird in seiner Komplexität nicht aussen vor gelassen.
Der fünfte und letzte Teil, der, von mir bevorzugt, auch zuerst gelesen werden kann, ist der Meinungsmache, der Manipulation im Kontext gesellschaftlicher Hintergründe von Störungen im Kindes- und Jugendalter gewidmet. Ganz der Hegelianer weiss dieser Autor, dass nichts ohne sein Gegenteil war ist. Darum beobachtet er, wie die Sozialpolitik und das dabei benutzte Kommunikationsverhalten in den diversen Medien der Moderne unsere «normale» und alltagsmenschlich hilfreiche Moral und Ethik verschwinden lassen. Wie und warum, wozu und in wessen politisch-wirtschaftlichen Interessen ist das Scheitern der Familie als Hort der Geborgenheit ein Ziel? Unsere Menschennatur ist immer schon im kollektiven Verbund angelegt, was der primären, unentfremdeten Sozialisation hilft. Die Industrialisierung, Normierung der Erziehung, die politische korrekte Erziehung als freier Markt beeinflussen unsere Gemeinschaft, eingebettet in die jeweilige Gesellschaft, enorm. Heute wo das Individuum als Konsument*in hochgelobt, weil gebraucht wird, ist die Diagnose: Narzissmus auf dem Weg zur Normalität.
Leider hat mir dieses Buch vor 40 Jahren gefehlt. Glücklich die jungen Kolleg*innen, die jetzt solch ein kritisches und bereicherndes Werk in ihre Hände nehmen können. Es hilft und wirkt gegen Machtlosigkeit und Ohnmacht der Psychotherapeut*innen angesichts des immer schlimmer werdenden Elends unserer Kinder und Jugendlichen. Und es hilft uns sehr, die psychischen Störungen und Probleme unserer erwachsenen Patient*innen besser zu verstehen. Wie geht doch der weise Talmudspruch, der zu Tschuschkes hoffentlich nicht letztem Buch passt: «Wer auch nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.»
Theodor Itten