Gerhard Benetka & Hans Werbik (Hrsg.). (2018). Die philosophischen und kulturellen Wurzeln der Psychologie. Traditionen in Europa, Indien und China
Gießen: Psychosozial-Verlag. ISBN: 978-3-8379-2746-7.320 S., 44,90 EUR, 59,90 Sfr
Psychotherapie-Wissenschaft 10 (1) 79–80 2020
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https://doi.org/10.30820/1664-9583-2020-1-79
Das Buch bietet eine Sammlung von Referaten, die 2016 an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien anlässlich der Tagung «Traditionelle Psychologie in Europa, Indien und China» gehalten wurden. Die Herausgeber wollten damit «eine Gegenbewegung zur heute das Fach dominierenden neurowissenschaftlichen Psychologie anstossen» (S. 7f.). Sie sehen eine Grundlage für die Psychotherapie-Wissenschaft in einer Kulturpsychologie. «Um eine wirkliche Alternative zur Mainstream-Psychologie zu sein, bedarf die Kulturpsychologie also zweierlei: einer wissenschaftlichen Grundlegung ebenso wie ihrer emanzipatorischen-praktischen Bewährung» (S. 12). Die Aufsätze im Band verstehen sich als Sammlung von Beiträgen zu einer Grundlegung der Kulturpsychologie. Beginnend bei Aristoteles bis hin zu Edmund Husserls Phänomenologie sind davon elf der abendländischen Philosophie gewidmet. Daran schliessen ein Beitrag zur indischen Psychologie und zwei zu chinesischen Traditionen an.
Durchgehend ist die Darstellung der verschiedenen Sichtweisen des Verhältnisses von Seele und Leib. Während manche Philosophen den Leib als beseelten Körper verstehen, Leib und Seele als etwas untrennbar Verbundenes, wurde auch der Versuch unternommen, den Begriff der Seele aus der Psychologie herauszunehmen, um eine entseelte Psychologie zu fundieren, die ihren Ausdruck in der positivistischen modernen Psychologie fand, oft neuropsychologisch begründet, dies im Bemühen, die Psychologie als Naturwissenschaft zu positionieren und der Philosophie als Grundwissenschaft zu entziehen, statt die Psychologie als Übergang von den Natur- zu den Geisteswissenschaften zu verstehen, wie Wilhelm Wundt dies wollte. «Übergang» meint, beiden Welten anzugehören.
Marcus Knaupp beleuchtet die Seelenlehre des Aristoteles als Entelechie (etwas, das aus sich heraus sein Ziel verwirklicht). Er verweist auf den Einfluss dessen Denkens auf spätere Philosophen (Brentano, Lewin, Gadamer, von Aquin) wie auch auf die Physik. Aristoteles wurde im arabisch-islamischen Kulturraum kommentiert.
Ralph Sichler widmet seinen Beitrag Seneca unter dem Titel: «Lebenskunst und Politikberatung auf dem Weg zur Psychotherapie». Seneca steht in der philosophischen Tradition der Stoa. Diese versucht, durch Rationale Überlegungen Affekte zu verstehen und zu regulieren, und philosophiert in einer kontemplativen Weise, die mehr Gelassenheit entstehen lässt. In moderner Zeit haben sich einzelne Verhaltenstherapeut*innen auf die stoische Tradition berufen, etwa Albert Ellis mit seiner rational-emotiven Therapie.
Maximilian Forschner schreibt über «Einsicht und Leidenschaft: Thomas von Aquin über die Gefühle des Menschen». Der Begriff der «Passio» ist bei Aquin zentral.
«Die Seele als Form des Leibes hat Passionen, zum einen insofern Körperveränderungen bestimmter Art (Berührungen, Schläge, Verletzungen, Erkrankungen) in massiver Weise auf die Seele zurückwirken; zum anderen, insofern die Seele mittels des Leibes sich äussert, ihre Tätigkeiten ausübt und in dieser Ausübung behindert oder beeinträchtigt wird» (S. 62).
Nadia Moro trägt zum Buch mit einer Arbeit über «Musik und Sprache in der Psychologie Johann Friedrich Herbarts» bei. Dieser kritisierte Kant, verband Philosophie, Psychologie, Ästhetik und Musikwissenschaft und wies die Untrennbarkeit von Wahrnehmung und Urteil nach.
Horst-Peter Brauns schreibt über «Ernst Heinrich Weber in der Kultur seiner Zeit» und arbeitet heraus, wie Werturteile in wissenschaftstheoretischen Konzeptionen von Wissenschaftler*in zu Wissenschaftler*in variieren, da Persönlichkeitsmerkmale, die je besondere fachliche Erfahrung, aber auch ausserwissenschaftliche Überzeugungen religiöser, sozialer, philosophischer und sogar nationaler Art eine Rolle spielen.
Peter Zekert beschreibt die Arbeiten von Gustav Theodor Fechner über «Psychophysik, Panpsychismus und ‹experimentelle Ästethik›». Sein Werk strahlt in die unterschiedlichsten Bereiche zwischen Natur- und Geistwissenschaften aus.
Uwe Wolfradt trägt zum Buch mit einem Beitrag «Zur Konzeption der Psychologie bei Hermann Lotze» bei. Lotze bewegte ich in seiner geistigen Entwicklung von der Pathologie zur Physiologie, von der Physiologie zur Psychologie und von der Psychologie zur Philosophie und Anthropologie. Sein Denken beeinflusste Carl Stumpf, Erich Becher Georg Elias Müller, aber auch Wilhelm Wundt, Franz Brentano und Wilhelm Dilthey.
Gerhard Benetka schreibt über «Franz Brentano – revisited». Brentano entwarf eine deskriptive Psychologie mit einer neuen Klassifikation psychischer Phänomene. Benetka hält ihn für bedeutend für die Fundierung einer Kulturpsychologie.
Margret Kaiser-el-Safti widmet sich in ihrem Beitrag «Carl Stumpfs Seelenbegriff». Stumpf setze sich lebenslang auf logisch-erkenntnistheoretischer Basis mit dem Seelenbegriff auseinander. Er war Phänomenologe, grenzte sich aber von Husserl ab, indem es ihm stets um das sinnliche Wahrnehmen, um den empirischen Nachweis in der Lebenswelt ging.
Lars Allolio-Näcke stellt Wilhelm Wundt als «Zwischen Philosophie und Psychologie» stehend dar. Er vertrat die These, dass historische und gesellschaftliche Ereignisse in psychologischer Hinsicht beschrieben werden müssten und dass sie nur so verstanden werden und erklärt werden könnten. Er vertrat eine integrative Sicht auf die Philosophie als zusammenhaltende Wissenschaft, ohne deren Expertise Psychologie und Soziologie nicht auskämen.
Jagna Brudzińska beschreibt «Edmund Husserls Psychologie in neuem Licht». Husserl war Mitbegründer der Phänomenologie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die aufblühende Philosophie des Bewusstseins war und sich zum Ziel setzte, durch die Untersuchung der Leistungsstruktur des Bewusstseins die subjektiven Bedingungen objektiver Erkenntnis auszuweisen. Er ging mit seiner Phänomenologie als radikaler Kritiker der Psychologie in die Geschichte ein und forderte letztere heraus, ihre erkenntnistheoretischen Fundamente neu zu überdenken.
Pradeep Chakkarath beschreibt die «Grundzüge indischer Psychologie» anhand buddhistischer und hinduistischer Aspekte. Die Bandbreite der klassischen Schulen der indischen Philosophie entspräche so ziemlich der klassischen europäischen und beinhalte unter anderem idealistische, materialistische, realistische, antirealistische, hedonistische, nihilistische, atheistische, agnostische, dualistische und monistische Positionen. Der Autor macht auf eine ziemlich offen ausgedrückte Frustration in der indischen psychologischen Community aufmerksam über die Umsetzung westlicher Psychologie im Osten. Der immer wieder neu erhobene Universalitätsanspruch der westlichen Psychologie gehöre hinterfragt.
Doris Weidemann bietet mit «Youwei und wuwei» einen «psychologischen Blick auf daoistische Handlungstheorien». Sie beschreibt einleitend kurz die Geschichte der chinesischen Akademischen Psychologie, die auf westlicher Psychologie beruht. Davon zu unterscheiden ist die traditionelle chinesische Psychologie, die auf dem Daode jing (Tao Te King) beruht. Youwei steht für aktives, zielgerichtetes Handeln, wuwei für Handeln durch Nicht-Eingreifen bzw. für «zur Wirkung gelangen lassen des Nichts». Die Autorin plädiert für eine «globale Psychologie», die nur im Zusammenwirken sämtlicher indigener und westlicher Psychologien entstehen könne.
Gerlinde Gild beschreibt «Schlüsselthemen chinesischer Kulturpsychologie». Sie arbeitet auf verständliche Weise typische chinesische Denkweisen und Begrifflichkeiten mit deren Bedeutung in der chinesischen Kultur heraus.
In einem Abschlussartikel diskutieren die beiden Herausgeber die Ergebnisse dieser Tagung. Sie halten fest, dass die Abtrennung der Psychologie von der Philosophie ein schwerer historischer Fehler war. «Sie hat Fehlentwicklungen, wie die neuropsychologische Leugnung der Willensfreiheit und das theorielose Datensammeln erst möglich gemacht» (S. 313). Was in der Psychologie Not tue, sei kritisches Denken.
Man kann mit dieser Einschätzung einig gehen, auch mit der Forderung, dass eine Kulturpsychologie aufzubauen sei, da Psyche und Kultur nicht voneinander zu trennen sind.
Es ist verdankenswert, dass man in einem Buch so etwas wie die Geschichte der abendländischen Philosophie und deren Beiträge zur Psychologie erhält. Ich gehe da allerdings mit Doris Weidemann einig, dass das Unterfangen einer fundierten Kulturpsychologie als Grundlagenwissenschaft einer Psychotherapie-Wissenschaft nur gelingen kann, wenn man Philosoph*innen, Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen aller Weltkulturen einbezieht. So hatten für mich die abendländischen Ansätze ein zu grosses Übergewicht. Es fehlen Denktraditionen aus dem arabischen, lateinamerikanischen, neuseeländischen Kulturraum, aber auch anderer indigener Gesellschaften. Und auch Asien besteht nicht nur aus China und Indien. Da gibt es noch einiges zu tun. Es verbleibt dem Schreibenden aber die Freude, dass hier ein wichtiger Neuansatz unternommen wurde, der natürlich und sicher weitergeführt werden wird und muss.
Peter Schulthess