Psychotherapie-Wissenschaft 10 (1) 5–6 2020
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https://doi.org/10.30820/1664-9583-2020-1-5
Philosophie und Psychotherapie sind untrennbar miteinander verbunden. Für Wilhelm Wundt, einem der «Gründungsväter» der wissenschaftlichen Psychologie, bildet die Psychologie den Übergang von den Natur- zu den Geisteswissenschaften. «Übergang» bedeutet, dass sie beiden «Welten» angehört: Als individuelle (d. h. «experimentelle») Psychologie tritt sie den Naturwissenschaften als «ergänzende empirische Wissenschaft» zur Seite. (Benetka & Werbik, 2018, S. 9; mit Verweis auf Wundt, 1896, S. 3).
Heutzutage hat die Psychologie und insbesondere die Psychotherapieforschung unter dem Einfluss neuropsychologischen und mathematisch-statistischen Denkens oft die philosophische Hinterfragung ihrer Forschungsmethoden und -grundlagen verloren. Wissenschafts- und Erkenntnistheorie sind an den meisten Universitäten kein Teil des Psychologiestudiums mehr. Psychotherapie und Psychologie sind auch Kulturwissenschaften – ja: Wissenschaft selbst ist ein Kulturphänomen, das philosophisch zu reflektieren ist.
In diesem Heft wird in den verschiedenen Beiträgen gezeigt, wie wichtig die Philosophie für die Psychotherapie ist und wie untrennbar verbunden sie sind, in ihren theoretischen Konzeptionen, in der Forschung und in der Praxis.
Bernd Rieken und Omar Carlo Giacomo Gelo haben in ihrem Beitrag jene Stränge aus der europäischen Wissenschafts- und Philosophiegeschichte wieder ausgegraben, die seit der Frühen Neuzeit infolge der Dominanz des mechanistischen Denkens vergessen worden sind. Sie beleuchten die Sonderstellung der Psychotherapiewissenschaft als selbstständiger Disziplin im Spannungsfeld zwischen nomothetischem und idiografischem Wissenschaftsverständnis. Beides sehen sie als gleichermassen legitim an und plädieren daher für einen dialogischen Pluralismus. Sie liefern damit einen sehr lesenswerten geschichtlichen Abriss der psychotherapierelevanten Wissenschafts- und Philosophiegeschichte.
Dan Bloom, ein amerikanischer Gestalttherapeut, widmet seinen Beitrag Archimedes («Gebt mir einen Punkt, wo ich hintreten kann, und ich bewege die Erde.») und bezieht sich auf Martin Heideggers Aussage, dass jede Wissenschaft Philosophie ist, egal ob sie es weiss und will oder nicht. Er postuliert, dass die Trennung von Philosophie und Psychotherapie eine künstliche sei, rekurriert auf die abendländische Philosophiegeschichte und zeigt, welche Bedeutung die Philosophie für die Psychotherapie auch in der klinischen Praxis hat. Er sieht die Philosophie der Psychotherapie als unverkennbar humanistische Wissenschaft. Psychotherapeut*innen seien im Sinne von Heideggers Aussage immer auch Philosoph*innen, ob sie es wissen und wollen oder nicht.
Der Artikel von Gianfranco Basti beschreibt zusammenfassend die jüngsten Entdeckungen auf dem Gebiet der Mathematik und Quantenphysik und deren Relevanz im Bereich der Neurowissenschaften: Ausgehend von den Nambu-Goldstone-Bosonen zeigt er, wie das Gehirn darauf spezialisiert ist, sich dynamisch an die Komplexität der objektiven und intersubjektiven Realität anzupassen. Obwohl aus redaktionellen Gründen die Ausführungen naturwissenschaftlicher Grundlagen reduziert wurden, glauben wir, dass die Vertiefung vor allem des zweiten Aspekts – die dynamische Anpassung des Gehirns an die Komplexität der Realität und der intersubjektiven Beziehungen – die Reflexion von uns «Praktizierenden der therapeutischen Beziehung» anregen kann. Eine duale – weder dualistische, noch reduktivistische oder mechanistische – Vision kann uns in unserer klinischen Praxis dazu anregen, bestimmte Aspekte zu erfassen und zu kultivieren, anstatt andere: Die Epistemologie oder «Philosophie der Psychotherapie», die der Theorie und Praxis eines jeden von uns zugrunde liegt – mehr oder weniger implizit –, wirkt jedoch in wichtiger Weise auf uns, unsere Patient*innen und die Praxis selbst zurück.
Der Artikel von Hamid Reza Yousefi begreift sich als ein Versuch, das Konzept einer gewaltfreien Hermeneutik der Identität in Anlehnung an die Psychotherapiewissenschaft zu entwerfen. Die gewaltfreie Hermeneutik der Identität betrachtet Selbstkonzepte als «offene Ganzheiten mit vielfältigen Prädikaten, die sie miteinander ins Gespräch bringen möchte». Grundlagen der gewaltfreien Hermeneutik der Identität sind die Akzeptanz von Diversität als allgemeines Gut, die Verzichtleistung auf jede Form von Selbstverabsolutierung und Universalisierung eigener Theoriebildung sowie – als dritte Säule – die Kontextualität und Variabilität der Selbstbetrachtung. Dadurch entsteht ein offener Diskursraum, in dem unterschiedliche Identitätspositionen mit ihren jeweils eigenen Fragestellungen und Lösungsansätzen vertreten sind. Der gewaltfreien Hermeneutik der Identität ist eine dialogsuchende Anschauung immanent. Sie nimmt den Konstruktivismus ernst, nach dem der Einzelne eine eigene Repräsentation der Welt erschafft, und geht von einer dialogischen Ontologie des Menschseins aus.
Paolo Migone weist, wie in unserer Zeitschrift üblich, auf Forschungsarbeiten zum Heftthema hin, die im italienischen Journal Psicoterapia e Scienze Umane («Psychotherapy and the Human Sciences») veröffentlicht wurden.
Ergänzt wird das Heft durch eine Originalarbeit. Esther Rhyn und Agnes von Wyl untersuchten Verliebtheitsgefühle und damit assoziierte Phänomene gegenüber Patient*innen sowie entsprechende Erklärungsmuster schweizweit bei Psychotherapeut*innen. Die Antworten der 409 Teilnehmenden wurden anhand quantitativer und qualitativer Methoden ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass Verliebtheitsgefühle und viele der damit assoziierten Phänomene relativ häufig gegenüber Patient*innen vorkommen und dass dabei der Genderaspekt eine bedeutende Rolle spielt. Bezüglich Erklärungsmuster ist insbesondere hervorgegangen, was die die Befragten unter Verliebtheitsgefühlen im therapeutischen Setting verstehen, wie sich ihnen Verliebtheitsgefühle gegenüber der Klientel gezeigt haben und weshalb diese Empfindungen entstehen können oder verhindert werden. Die Ergebnisse bieten eine breite Diskussionsbasis und regen zur Reflexion über ein heikles und oft tabuisiertes Thema an.
Den Abschluss bilden Buchbesprechungen, einige mit Bezug zum Heftthema.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!
Nicola Ganinazzi & Peter Schulthess
Literatur
Benetka, G. & Werbik, H. (2018). Einführung. In dies. (Hrsg.), Die philosophischen und kulturellen Wurzeln der Psychologie (S. 7–14). Gießen: Psychosozial-Verlag.
Wundt, W. (1896). Grundriss der Psychologie. Leipzig: Engelmann.