Originalarbeit (Themenheft)

Thomas Kesselring

Psychotherapie zwischen Wissenschaft und Philosophie

Zusammenfassung: Welches Zimmer hat die Philosophie im „Wissenschaftshaus“ der Psychotherapie-Wissenschaft belegt? Seit wann? Und wie lange noch? Spielt die Philosophie in der Psychotherapie-Wissenschaft nicht vielmehr, wie generell in der Psychologie, die Rolle eines Troglodyten und Poltergeistes im Kellergewölbe? Der subversive Tunnel in benachbarte Kellergewölbe gräbt? Der an den Fundamenten rüttelt, ihre Solidität auf die Probe stellt und wissen möchte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“? Die Prämissen, auf denen eine Wissenschaft aufbaut, sind wie die in weichen Boden geschlagenen Pfähle, die ein Gebäude tragen. Zu diesen Pfählen gehören bei der Psychotherapie-Wissenschaft: a) das Menschenbild und b) das Weltbild, die ihr zugrunde liegen, also eine bestimmte Anthropologie und Ontologie, c) ein Wissenschaftskonzept, das die Kriterien für richtig und falsch festlegt, und d) ein Berufsethos, dem sie sich verpflichtet fühlt.

Schlüsselwörter: Psychotherapie-Wissenschaft, Psychologie, philosophische Fragestellungen, Wissenschaftskonzept.

Psychotherapy between science and philosophy

Summary: Which room does philosophy occupy in the scientific house that psychotherapy science supports? Since when? And for how much longer? Does philosophy in psychotherapy science not rather play , as it generally does in psychology, the role of a troglodyte and poltergeist in a cellar vault digging a subversive tunnel into the adjoining cellar vault? That shakes the foundations, tests their soundness and wants to know “what holds this world together in its innermost part?” The premises on which science is constructed are like posts hammered into soft ground to support a building. Among those posts are (a) an image of man and (b) a view of the world, that is, a specific anthropology and ontology; (c) a concept of science which determines criteria for correct and false; and (d) a professional code of ethics that psychotherapy feels committed to.

Keywords: Psychotherapy science, psychology, philosophical questions, scientific concept

Psicoterapia tra scienza e filosofia

Riassunto: Che posto occupa la filosofia nelle scienze psicoterapeutiche SPT? Da quando e per quanto tempo ancora? - La filosofia nelle SPT, e in generale nella psicologia, non riveste piuttosto il ruolo di un troglodita, di un poltergeist in cantina che scava tunnel sovversivi verso cantine confinanti? Che scuote le fondamenta per metterne alla prova la solidità e vorrebbe sapere "cosa tiene insieme il mondo dall'interno"? – Le premesse sulle quali una scienza si basa sono come le fondamenta piantate in un terreno morbido che sorreggono un edificio. Nelle SPT queste fondamenta sono costituite: (a) dall'immagine umana e (b) dall'immagine del mondo che rappresentano la base, da una certa antropologia e ontologia dunque; (c) da un concetto scientifico che stabilisce i criteri di giusto e sbagliato; e (d) da un'etica professionale alla quale attenersi.

Parole chiave: scienze psicoterapeutiche, psicologia, domande filosofiche, concetto scientifico.

Zur Geburt der Psychologie

Mit 150 Jahren ist die Psychologie als Wissenschaft noch relativ jung. Sie ist zu einer Zeit aus der Philosophie herausgewachsen, als die Naturwissenschaften einen enormen Auftrieb erlebten. Die Psychologie hat sich an den Naturwissenschaften inspiriert, ist aber selbst keine Naturwissenschaft. Ihr Gegenstand ist der Mensch. Aber nicht sein Körper – dafür ist seit jeher die Medizin zuständig –, sondern seine „psyché“. Die Seele (psyché) ist immateriell und, so lesen wir in der Bibel, unsterblich. Geht es in der Psychologie also um Unsterblichkeit? Nein, das ist das Terrain der Theologie und allenfalls der Parapsychologie.

Was ist die Seele?

Aristoteles (384–322 v. Chr.) hielt die Seele für das Lebensprinzip. Er unterschied nicht weniger als drei Seelen: eine vegetative, die das Wachstum steuert – nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Pflanzen und Tieren –; eine sensitive Seele, in der Empfindungen und Gefühle ihren Ursprung haben und die also allen empfindungsfähigen Lebewesen eignet; sowie eine rationale Seele, die Quelle der kognitiven Fähigkeiten beim Menschen. In der Seele hinterlassen die Eindrücke der Aussenwelt ihre Spuren, wie ein Stempel im Wachs. Die Seele ist aber im Grunde das Aktivitätszentrum eines lebenden Organismus, sie reguliert das Wachstum, die Entwicklung, die Ratio (Aristoteles, 1983). Aristoteles war ein „Allrounder“ und dabei ein Pionier in der biologischen Forschung. Die Evolutionsbiologie sieht in der aristotelischen Seele einen Vorläufer des genetischen Programms.

Nach den bisherigen Ausführungen liegt das Gebiet der Psychologie offenbar irgendwo zwischen Medizin, Theologie und Biologie. Auch zur Philosophie unterhält sie eine nahe Beziehung , denn aus ihr ist sie ja herausgewachsen. In das von Aristoteles’ Seelenlehre abgedeckte Territorium teilen sich heute die Biologie und die Psychologie. Wenn jene die Seele als genetisches Programm versteht, was ist dann der Gegenstand der Psychologie? In erster Näherung kann man antworten: die Seele als Quelle der Gemütsregungen und des rationalen Denkens.

Die Seele ist die Innenseite unseres Lebens. Weil immateriell, ist sie ortlos, ein „noumenon“. Als solches entzieht sie sich unseren Sinnen und entfällt deshalb als möglicher Gegenstand einer empirischen Wissenschaft – so jedenfalls argumentierte Kant (1724–1804; 1976). Dennoch verselbständigte sich die Psychologie nach seinem Tode zu einer Wissenschaft – in einer Zeit, zu der eine ganze Reihe neuer Wissenschaften entstanden: die Geologie, die Biologie, die Soziologie und (innerhalb der Mathematik) die Wahrscheinlichkeitstheorie. Hatte Kant also unrecht, wenn er der Psychologie den Status einer Wissenschaft absprach? Ja und nein!

Wie die Psychologie zu einer Wissenschaft wird

Ja, Kant hatte unrecht, denn die Psychologie ist heute eine Wissenschaft. Nein, Kant hatte mindestens teilweise recht, denn diese Wissenschaft entwickelte sich ziemlich genau so, wie es Kant diagnostiziert hatte: als Teil der Physiologie und als „Erfahrungswissenschaft vom Menschen“. Die wissenschaftliche Psychologie in Deutschland wurde von Wilhelm Wundt (1832–1920) begründet. Dieser begann kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts die Intensität von Sinneswahrnehmungen zu messen. Etwa zur selben Zeit machte Francis Galton (1822–1911) in England den Gebrauch des Fragebogens und statistischer Methoden salonfähig. Bereits in den 1840er Jahren hatte der Belgier Adolphe Quetelet (1796–1874) statistische Methoden in den Sozialwissenschaften angewandt („Sozialphysik“), die Geburtenstatistik eingeführt, die erste Volkszählung (1846) initiiert und die durchschnittliche Lebenserwartung der Belgier errechnet. Für Quetelet war klar: Die Mathematik bildet auch die Grundlage der Sozialwissenschaften. So erforschte er beispielsweise den Prozentsatz krimineller Bürger oder jener mit einem Hang zum Schriftsteller. 1897 publizierte der französische Soziologe Émile Durkheim (1858–1917) eine auf Statistiken gegründete Arbeit über die Häufigkeit von Suiziden bei Männern und Frauen, Katholiken und Protestanten, in Kriegs- und in Friedenszeiten.

Als Wundt und Galton ihre wegweisenden Untersuchungen vorlegten, arbeitete Darwin (1819–1882) an seiner Evolutionslehre. Die entscheidende Veröffentlichung („On the Origin of Species“, 1859) revolutionierte das Bild des Menschen. Dieser hat sich, wie alle Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien usw., in der Evolution herausgebildet. Für alle menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten muss es also eine natürliche Erklärung geben – eine Erklärung, die in den Bereich der Naturwissenschaften fällt. Diese Überzeugung stärkte das Vertrauen in den Gebrauch naturwissenschaftlicher Methoden im Humanbereich.

Für die Pioniere des 19. Jahrhunderts bildete die Psychologie einen neuen Zweig der mathematischen Naturwissenschaften. In der Psychologie des 20.Jahrhunderts spielte der Rekurs auf Messungen und statistische Erhebungen eine zunehmend wichtige Rolle. In den USA gründete John Watson (1878–1958) den Behaviorismus, der menschliches wie tierisches Verhalten nach dem Schema der Beziehung von Reiz zu Reaktion, also rein mechanisch, zu erklären und Erziehung auf operantes Konditionieren zurückzuführen versuchte. Aus behavioristischer Sicht „funktionieren“ Menschen und Tiere wie physikalische Apparate: Was passiert, wenn ich eine Murmel gegen eine andere lanciere? Wie reagiert die angestossene Murmel? Wie reagiert ein Hund, der immer dann einen Gong hört, wenn er sein Fressen erhält? Wie reagiert ein Kind, wenn es das Schulgebäude erblickt, in dem es oft geschlagen wurde? Die Psychologie als „harte“ Wissenschaft im naturwissenschaftlichen Sinn zu etablieren war der Traum der Behavioristen.

Doch dieser Traum erwies sich als unerfüllbar: Es gibt da einen Stolperstein, an dem der Naturwissenschafts-Anspruch der Psychologie zerschellt. Dieser Stein des Anstosses ist das Bewusstsein. Das Nachdenken über das Bewusstsein führte immer wieder, von Dschuang Dsi im 4. Jahrhundert vor Christus bis zur Gegenwart, zu tiefer Irritation und Verwirrung. Daran änderte sich auch nichts, als im 19. Jahrhundert (durch die Arbeiten etwa G. Th. Fechners, „Elemente des Psychophysik“ [1860] und „Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht“ [1879], oder E. von Hartmanns, „Philosophie des Unbewussten“ [1869]) das Unbewusste zunehmend in den Fokus wissenschaftlichen Interesses rückte.

Das Bewusstsein – ein vielgestaltiges Rätsel

Im Jahr 1872 hielt Emil Du Bois-Reymond, ein Mediziner und Mitbegründer der Elektrophysiologie, in Berlin eine berühmte Rede. Er wagte eine Voraussage darüber, welche Fragen längerfristig einer Klärung durch die empirischen Wissenschaften zugänglich sein würden und welche nicht. Sein Fazit: Es gibt zwei Fragen, die die empirischen Wissenschaften nie würden beantworten können: Was ist das Wesen von Materie und Kraft, und wie entsteht Bewusstsein? Die Genese des Lebens hielt Du Bois-Reymond (1974) bezeichnenderweise für wissenschaftlich erklärbar. Die Genese des Bewusstseins hingegen nicht. Sie bleibt trotz aller Fortschritte in der Gehirnforschung bis heute weitgehend ein Rätsel – eine Leerstelle in unserem Verständnis. Dieser Umstand macht verständlich, weshalb Kant eine Wissenschaft vom Bewusstsein für unmöglich hielt. Die Behavioristen behandelten das Bewusstsein als eine Blackbox, zu der die wissenschaftliche Psychologie einen Sicherheitsabstand wahren sollte. Diese Tabuisierung trug dazu bei, dass die Philosophie im 20. Jahrhundert gegenüber der Psychologie in der Rolle eines Poltergeistes schlüpfte. Descartes, Leibniz, Kant, Hegel und die Phänomenologen von Husserl bis Merleau-Ponty hatten sich mit dem Bewusstsein auseinandergesetzt und dabei ein paar Knacknüsse für die empirischen Wissenschaften freigelegt. Hier ein kurzer Rückblick in vier Punkten (Brüntrup, 2012; Bieri, 2001).

Erstens, das Leib–Seele-Problem. Wie verhalten sich körperliche und geistige (oder psychische) Prozesse zueinander? Welche Wirkungen haben leibliche Vorgänge auf die Psyche, und welche Wirkungen hat die Psyche auf den Körper? Analoge Fragen stellen sich in der Gehirnforschung. Wie sieht der Zusammenhang zwischen Hirnaktivitäten und Gedanken oder Empfindungen, Wünschen usw. aus? Wer den Gehirn-Scan einer Person analysiert, die einem Lichtspiel aus Regenbogenfarben beiwohnt, sieht dadurch nicht ebenfalls Regenbogenfarben. Entspricht die Unterscheidung zwischen Leib und Seele oder zwischen Gehirn und Bewusstsein der Unterscheidung zwischen Hardware und Software, oder ist dieser Vergleich unzutreffend? Ist das überhaupt eine empirische Frage oder eher eine philosophische?

Zweitens, welchen Zugang haben wir zu fremden Bewusstseinszuständen? Wir schreiben ihnen gewöhnlich keinen geringeren Wirklichkeitsgrad zu als unseren eigenen. Und doch erleben wir sie nicht selbst. Ein Forscher kann das „Funken“ der Neuronen im Gehirn noch so genau beobachten und beschreiben, die damit korrespondierenden Erlebnisse der betreffenden Person bleiben ihm verschlossen. Der Psychologe und der Psychiater können ebenso wenig in das Bewusstsein ihrer Klienten hineinkriechen; sie müssen sich deren mentale Entsprechung anhand ihrer Aussagen und ihres beobachtbaren Verhaltens erschliessen. Die Basis von Fremdverstehen ist die Fähigkeit zur Empathie. Diese wird heute mit der Existenz von Spiegelneuronen in Verbindung gebracht, aber in ihrer Entstehung bleibt sie weiterhin ein Rätsel. Ein noch so hoch entwickeltes Empathievermögen schliesst im Übrigen nicht aus, dass wir praktisch nie ganz sicher sein können, ob wir uns nicht täuschen.

Drittens, was liegt der Identität meiner Person zugrunde? Bin ich derselbe Mensch, der vor x Jahren bei der Lehrerin y in die Schule gegangen ist? Bin ich derselbe wie einst, obwohl ich heute ganz anders aussehe, ein anderes Körpergewicht, andere Interessen und andere Fähigkeiten habe? Hat sich in der Zwischenzeit nicht meine ganze Zellsubstanz ausgetauscht? Wie bildet sich meine Identität in meinem Bewusstsein ab? Spiegelt sich in meiner Biographie eine einheitliche Geschichte oder vielmehr ein Patchwork nicht zusammengehörender Episoden? Worin besteht dann aber das eine Bewusstsein, in dem sie sich alle zu einer Art Einheit verbinden? Kann ich meinen Erinnerungen Glauben schenken? Kant sah in der Frage nach den Bedingungen der Ich-Identität in Raum und Zeit ein Schlüsselproblem der Psychologie.

Viertens, habe ich wirklich einen freien Willen, und bin ich für meine Taten selbst verantwortlich? Die Naturwissenschaften gehen von der Voraussetzung aus, dass jedes Ereignis Ursachen hat, die es völlig bestimmen und die ihrerseits als Wirkungen vorhergehender Ursachen zu betrachten sind. Menschliche Handlungen sind ebenfalls solche Ereignisse. Wieso schreiben wir einander trotzdem die Fähigkeit zu freier Entscheidung zu? Wenn wir uns gegenseitig wie Marionetten betrachteten, die an den Fäden der Kausalität zappelten, so könnten wir uns die Unterscheidung zwischen moralisch legitimem und nicht legitimem Handeln ersparen. Regungen wie Dankbarkeit oder Übelnehmen wären dann sinnlos. Denn wenn wir auf jemanden „sauer sind“ oder mit Empörung reagieren, unterstellen wir, dass er sich auch zu einer anderen Handlungsweise hätte entscheiden können. Was gilt also: Sind wir in unserem Verhalten durchgängig determiniert, so wie wir das von physikalischen Ereignissen annehmen, oder sind wir in unseren Entscheidungen frei, wenigstens bis zu einem gewissen Grad? Wenn wir nicht frei sind, welchen Sinn hat dann eine Psychotherapie? Und wenn wir es sind, wie passt diese Freiheit in unser naturwissenschaftliches Weltbild?

Da die Psychologie (in all ihren Verzweigungen und Spielarten) diese Rätsel nicht auf Dauer ignorieren kann, bleibt sie wohl oder übel auf eine enge Kooperation mit der Philosophie angewiesen, selbst wenn dies bedeutet, dass die Grenzen zwischen den beiden Disziplinen diffus bleiben.

Die Philosophie befindet sich in einer komfortableren Situation als die Psychologie: Sie kann sich damit begnügen, knifflige Fragen zu stellen. Zu beantworten braucht sie sie nicht – sie stellt ja nicht den Anspruch, eine echte Wissenschaft zu sein … Und die Psychologie? Die Psychotherapie? Trotz allen empirischen Erfolgen, die sie vorzuweisen haben, bewahren sie eine besondere Nähe zur Philosophie. Das inzwischen 140 Jahre alte Statement von Du Bois-Reymond, das Bewusstsein entziehe sich den Erklärungen durch die empirischen Wissenschaften, ist bis heute unwiderlegt geblieben.

Psychologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaften

Die Psychologie ist also keine reine Naturwissenschaft. Längst können wir zwar manche kognitiven Leistungen messen, testen und statistisch erfassen: Wahrnehmung, Empfindungen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Lerngeschwindigkeit usw. Dennoch erscheint der Graben, der die Psychologie von den Naturwissenschaften trennt, unüberwindlich: Tests mit Menschen unterscheiden sich grundsätzlich von denen mit Kanonenkugeln. Indem ein Ballistiker die Bahn einer Kanonenkugel prognostiziert und misst, beeinflusst er diese Bahn nicht im Geringsten. Wenn hingegen ein Pädagoge die Lernleistungen eines Schülers voraussagt oder misst, beeinflusst er diese durchaus. Fällt der Lernerfolg eines Schülers der Prognose gemäss aus, so liegt dies in der Regel nicht an der korrekten Bezugnahme auf irgendein Naturgesetz, sondern am Charakter der Prognose, die zur Selffulfilling Prophecy wird (Kesselring 2012). Wie sie sich im Einzelnen auf den Lernprozess auswirkt, ist nicht naturgesetzlich festgelegt. Ungünstige Prognosen und schlechte Testresultate demotivieren gewöhnlich die Betroffenen. Sie können sie aber auch zu besseren Leistungen anspornen. Menschen reagieren unter (nahezu) gleichen Bedingungen oft unterschiedlich – entweder weil sie sich in ihrer Lebensgeschichte und ihrem Charakter voneinander unterscheiden oder weil sie (nahezu) gleiche Ereignisse unterschiedlich erleben und bewerten oder einfach weil der Spielraum ihrer Entscheidungsfreiheit nicht gegen null tendiert. Damit wären wir wieder bei den Fragen nach dem Bewusstsein und der Willensfreiheit. In den klassischen Naturwissenschaften haben sie beide keinen Platz.

Psychologie als Hermeneutik

Verhalten lässt sich beobachten. Die es begleitenden Bewusstseinsprozesse müssen wir erschliessen. Das ist ein hermeneutischer Prozess. Um herauszufinden, welche Absichten eine Person verfolgt, beobachten wir ihre Handlungen im jeweiligen Kontext. Fremde Absichten und Ansichten, Überzeugungen usw. begegnen uns nicht wie Blumen am Wegrand, die wir pflücken, anschauen, riechen können. Wir müssen sie interpretieren und deuten. Dabei können wir mehr oder weniger richtig liegen. Wir können uns aber auch irren. Letzte Gewissheit darüber gibt es nicht.

Eine wesentliche Voraussetzung allen Fremdverstehens ist die Einfühlung, die Empathie (Adam Smiths „The Theory of Moral Sentiments“ von 1759 lohnt die Lektüre bis heute). Sich in eine Person einzufühlen, ist etwas anderes, als ihr Verhalten zu beobachten. Wenn wir mit jemandem reden oder von Angesicht zu Angesicht kooperieren, tun wir beides: Wir fühlen uns, zumindest bis zu einem gewissen Grade, in ihn ein und haben ihn im Auge (beobachten ihn). Einfühlung und Beobachtung bilden auch die Basis dafür, dass wir unsere Gefühle, Gedanken und Absichten auf diejenigen der anderen abstimmen. Wir erfassen gewöhnlich intuitiv, wie weit die andere Person ähnlich empfindet oder denkt wie wir – auch wenn es eine letzte Sicherheit darüber nie geben kann.

Die Psychologie und ihre Teildisziplinen arbeiten auf derselben Basis, der Basis von Empathie und Beobachtung. Alles Beobachtbare lädt uns grundsätzlich dazu ein, die naturwissenschaftliche Brille aufzusetzen. Alle Wesen hingegen, die wir uns zu empathischen Reaktionen einladen, animieren uns dazu, sie durch die geisteswissenschaftliche Brille zu betrachten. Naturwissenschaftliche und geistes- sowie humanwissenschaftliche Methoden ergänzen sich, jene will „erklären“, diese „verstehen“ (Wright, 1991).

Zwischenmenschliches Verstehen bildet die Basis unseres Weltverstehens. Es geht jeglichem Naturverstehen voraus. Ein Indiz dafür liegt in der Tatsache, dass das animistische oder mythologische Denken dem naturwissenschaftlichen vorhergeht. Animistische Denkweisen haben sich bis in die Gegenwart erhalten, und sie werden während der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen selten völlig abgestreift. Naturvölker bringen Wetterkapriolen mit dem Wirken von Geistern in Verbindung; in ähnlicher Weise schreiben auch viele Zeitgenossen Schicksalsschläge göttlichem Willen zu. Wir neigen eher dazu, psychische und geistige Prozesse in Naturphänomene hineinzuprojizieren, als uns umgekehrt gegenseitig wie geist- und seelenlose Roboter zu behandeln. Die prähistorische Forschung fasziniert uns nicht so sehr wegen ihrer objektiven Messdaten als vielmehr wegen der Identifikationsmöglichkeiten mit frühmenschlichen Lebensformen, die sie uns bietet. Und die von der Psychoanalyse aufgedeckten Fehlleistungen interessieren uns nicht so sehr wegen ihrer relativen statistischen Häufigkeit, sondern vielmehr deswegen, weil sie etwas zum Verständnis unserer selbst und unserer Mitmenschen beitragen.

Die zeitgenössische Psychologie (hier und im Folgenden in offener und allgemeiner Bedeutung begriffen) ist vielfältig diversifiziert – in Entwicklungspsychologie, Kinderpsychologie, kognitive, Lern-, Wahrnehmungs- und Gedächtnispsychologie, Gestalt-, humanistische und Sexualpsychologie, Individual- und Sozialpsychologie, Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychotraumatologie sowie in den ganzen in sich weiter differenzierten Bereich der Psychiatrie. In zweierlei Hinsichten berühren sich alle diese Disziplinen mit der Philosophie. Zum einen weil sie nicht nur mit je spezifischen Methoden arbeiten, sondern auch von spezifischen Welt- oder Menschenbildern, also einer bestimmten Ontologie und Anthropologie, ausgehen. Zum anderen weil sie alle in dieser oder jener Form ethische Fragen aufwerfen. Im Folgenden sollen beide Aspekte kurz erläutert werden.

Jede Wissenschaft arbeitet mit ihren je spezifischen „Gegenständen“ (Fischer, 2011, S. 34): Die Quantenphysik mit Wellen, Massepunkten, Quarks usw., die Neuropsychologie mit neuronalen Netzen, Spiegelneuronen u. a., die Psychoanalyse mit der Libido, dem Ödipuskomplex u. a., die Psychotherapie mit Traumata, intentionalen Systemen usw. Jede Wissenschaft entwickelt ein je eigenes Methodenrepertoire und wendet es auf je eigene Gegenstände an. Sie baut sich so gleichsam ihre eigene „Nische“ im wissenschaftlichen Universum und stattet diese mit je eigenen Requisiten aus.

In der konstruktivistischen Sprache Fischers (2011, S. 35): „Die Methode überführt den vorwissenschaftlichen in den eigentlichen, den wissenschaftlichen Gegenstand. […] Experimentelle Psychologie, biologische Psychiatrie und Psychotherapie haben einen gemeinsamen ‚vorwissenschaftlichen‘ Gegenstand“.

Ob man, wie Fischer vorschlägt, „Erleben und Verhalten“ den Status dieses vorwissenschaftlichen Gegenstands zuschreiben will oder ob Erleben und Verhalten selbst schon „wissenschaftliche Gegenstände“ darstellen, kann man hier offenlassen. Wo genau Wissenschaft beginnt, ist eine heuristische Frage. Studiert man, wie sich kleine Kinder beim Primärsprachenerwerb die zugrundeliegenden Aussprache-, Semantik-, Grammatik-, Satz- und Wortbildungsregeln aneignen, so zeigt sich, dass sie intuitiv ziemlich genau so vorgehen, wie dies laut der späten Popper-Schule (insbesondere Lakatos und Kuhn) Wissenschaftler tun: Sie bilden intuitiv Regelhypothesen, die sie allerdings nicht schon verwerfen, wenn sie den ersten Fall antreffen, der sie falsifiziert (wie Popper meinte), sondern erst, wenn sie eine besser passende Regelhypothese gefunden haben. Und doch würde man zwei- bis dreijährige Kinder vermutlich noch nicht für Wissenschaftler halten. Sogar schon einjährige Kinder stellen – oft mit grosser Ausdauer – Experimente an: Sie werfen z. B. alles Mögliche zu Boden und beobachten, was passiert. So „erforschen“ sie die Eigenschaften der materiellen Gegenstände – oder besser gesagt, sie „konstruieren“ das Konzept dessen, was Piaget das „objet permanent“ bzw. „Objektpermanenz“ nannte (1974, Kap. 1, bes. S. 98; sowie a.a.O. S.269, 284, 297). All den „Gegenständen“, denen wir eine physikalische Existenz zuschreiben, von Elektronen über Kieselsteine bis hin zu sogenannten Fixsternen, liegt das Schema der raumzeitlichen Permanenz zugrunde, das unsereiner in den ersten anderthalb Lebensjahren durch Koordination von Handeln (Manipulieren) und Wahrnehmen (Schauen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) „aufbaut“. Das wissenschaftliche Weltbild unterscheidet sich vom vorwissenschaftlichen durch seine Spezialisierung. Dies zumindest ein heuristischer Vorschlag. Mit der Schwerkraft machen wir alle, z. B. wenn wir Klimmzüge üben oder uns beim Hinfallen die Knie aufschürfen, konkrete Erfahrungen. Die Tücken der Gravitation kennt aber nur der Physiker, während der Anhänger der allgemeinen Relativitätstheorie sich an den Bewegungsgesetzen entlang „geodätischer Linien“ orientiert. Mit den Menschen, die bei einer Naturkatastrophe ihr Dach über dem Kopf verloren haben, fühlen wir mit. Das Wort „Empathie“ gehört zum Sprachgebrauch nicht nur, aber doch vor allem von Akademikern und insbesondere Geisteswissenschaftlern. Die „Spiegelneuronen“ schliesslich sind Gegenstand noch weiter spezialisierter Wissenschaften, z. B. der Psychotherapie.

Die ethische Dimension ist in der Psychologie, wenn auch oft verdeckt, fast allgegenwärtig. Das gilt sowohl für die empirische Forschung als auch für die therapeutische Tätigkeit. Die Kriterien, nach denen moralische Fragen zu beurteilen sind, stammen nicht aus der Psychologie, sondern aus der Ethik – einem Zweig der Philosophie. Für die psychologische Forschung gilt ein ethisches Caveat ebenso wie für jede andere Art sozialwissenschaftlicher Forschung: Um die Wirkung einer Massnahme zweifelsfrei festzustellen, müssen Forscher mit Vergleichsgruppen arbeiten. Säuglinge beispielsweise, mit denen die Mutter und die Familienangehörigen viel sprechen, entwickeln sich anders als Säuglinge, mit denen wenig gesprochen wird. Ein wissenschaftliches Experiment mit einer Kontrollgruppe von Säuglingen, mit denen niemand spricht, verbietet sich aber aus ethischen Gründen.

Psychologie als Therapeutik

Die Psychologie will aber nicht nur erklären und verstehen, sie will auch heilen und helfen: seelische Traumata zu überwinden, geistige Verwirrungen zu klären, Deprimierten Sinn zu vermitteln. Sie hat therapeutische Aufgaben. Dabei bedient sie sich zum Teil ähnlicher Verfahren und Instrumente wie die Medizin – Konsultationen, Medikamente, therapeutische Übungen. Doch steht sie den klassischen Geisteswissenschaften näher als die Medizin. Entsprechend spielen Bewusstmachung, Selbstreflexion, Analyse (Psycho-Analyse!) in der Psychotherapie eine grössere Rolle als in medizinischen Therapien. (Die folgenden Ausführungen verdanken vieles den Schriften Gottfried Fischers.)

Ist die Psychotherapie eine „Anwendung“ der Psychologie? Die Unterscheidung zwischen einer Wissenschaft und ihrer Anwendung beruht in den meisten Fällen auf einem tiefen Missverständnis. Folgendes einfaches Beispiel verdeutlicht den Fehler.

Ist der Maschinenbau eine „Anwendung“ der Mechanik? Nein, denn die Thermodynamik – eine wissenschaftliche Theorie – ist erst durch das Studium der Dampfmaschine möglich geworden. Die Dampfmaschine ihrerseits ist ein Kunstwerk des Maschinenbaus. Vor dem Bau der Dampfmaschine gab es keine sinnvolle Möglichkeit, Wärme und Arbeit miteinander in eine theoretische Beziehung zu bringen. Häufig entstehen Theorien, wie das Beispiel zeigt, durch Reflexion auf eine zuvor schon erfolgreiche Praxis oder werden angestoßen im Bemühen um eine verbesserte Praxis. Das ist insofern nicht erstaunlich, als die Theorie so gut wie immer aus einer Praxis herauswächst, nicht umgekehrt. Das Wort „Theorie“ stammt aus dem Griechischen: „Theón-horein“ heisst „Gott anschauen“. Nach diesem Verständnis ist „Theorie-Treiben“ eine Art des Schauens oder Betrachtens. Oder eben: der Reflexion auf eine zuvor schon (mehr oder weniger) erfolgreiche Praxis. Das trifft auch auf das Verhältnis von Psychologie und Psychotherapie zu, insofern grosse Teile der Psychologie aus der Reflexion über therapeutische Prozesse entstanden sind. Die Psychoanalyse ist dazu wohl das Paradebeispiel.

Aus Gründen, die keiner Erläuterung bedürfen, steht die Psychotherapie der Medizin natürlich wesentlich näher als dem Maschinenbau. Chirurgie und Orthopädie orientieren sich stärker an den Naturwissenschaften, die Psychotherapie stärker an den Geisteswissenschaften. Bei einem geplatzten Blinddarm oder einem offenen Beinbruch ist der operative Eingriff des Arztes für den Heilprozess wichtiger als das genaue Diagnoseverständnis des Patienten. Bei psychischen Leiden liegt der Schlüssel für den Heilungsprozess umgekehrt darin, dass der Patient sich Natur und Ursache seines Leidens bewusst macht. Sobald unbewusstes und vorbewusstes „Wissen“ ins Bewusstsein gehoben wird, klingen Symptome ab und das Verhalten verändert sich.

Ethische Fragen in der Psychotherapie

Die Psychotherapie ist in noch stärkerem Mass mit ethischen Fragen konfrontiert als die empirische Psychologie. Therapeutische Gespräche kreisen zwangsläufig um wesentliche Themen menschlicher Kooperation und Kommunikation: Liebe und Hass, Sympathie und Antipathie, Fürsorge und Verantwortung, Verbindung und Trennung, Macht und Machtasymmetrien, Dominanz und Unterwerfung, Suggestion und Anpassung, Befehlen und Gehorsam, Minderwertigkeits- und Allmachtgefühle, den Wettbewerb und das Streben nach höherem Rang, Neid und Missgunst, Sexualität, Aggressivität, Diskriminierung, Kränkung usw. Die Grundlage jeder Psychotherapie ist die Beziehung zwischen dem Arzt oder Psychologen und dem Klienten oder Patienten. Zwischenmenschliche Beziehungen gestalten sich nicht im luftleeren Raum: Wir beurteilen sie oft nach moralisch-ethischen Kriterien, auch wenn wir sie uns nicht immer systematisch bewusst machen. Solche Kriterien sind etwa die wechselseitige Achtung (begründet in der Würde der Person) oder die Goldene Regel („Was du nicht willst, dass man dir tue, das füge keinem andern zu!“). Zum Berufsethos des Psychotherapeuten gehört aber noch mehr, nämlich die Garantie, dass das Vertrauen der Klienten nicht missbraucht oder enttäuscht wird: Gegenübertragungen sind strikt zu vermeiden, desgleichen jede Form von Machtmissbrauch – sei es in emotionaler oder finanzieller Hinsicht oder durch sexuelle Übergriffe (Fischer, 2011, S. 18). Die therapeutischen Berufe sind der Ethik stärker verpflichtet als der Wissenschaft: Das Patientenwohl steht im Vordergrund. Therapeuten haben aber auch gegenüber der Gesellschaft insgesamt eine Verantwortung: Das kollektive Wohl steht höher als die Gelüste eines sadistischen oder gewaltbereiten Klienten.

Eine grundsätzliche ethische Frage, der sich jeder Psychologe, jeder Psychotherapeut stellen muss, betrifft das leitende Menschen- und Weltbild. Sehe ich im Menschen eher den rationalen Nutzenmaximierer oder eher ein soziales, kooperatives Wesen? Sollen Psychoanalyse und Psychotherapie aus ihren Klienten tendenziell „normale“ Menschen machen? Das Wort „normal“ kann sich auf Verschiedenes beziehen – die statistische Norm (der Massstab für Normalität ist die Nähe zum Scheitel der Gauß’schen Glockenkurve), die funktionelle Norm (funktionell normal ist eine Person, die ihre Ziele erreicht und den ihr gestellten Aufgaben gewachsen ist) oder die Idealnorm (wer der Idealnorm entspricht, kann als Vorbild oder Muster für andere gelten). Soziale Normen können ebenso gut ideologisch wie ethisch begründet sein, was auf die Bedeutung von „normal“ abfärbt.

Eine wertfreie Psychologie und Psychotherapie sind nicht möglich. Mit jedem Ziel, das wir uns setzen, legen wir Wertmassstäbe für unser Handeln fest. Das gilt erst recht für therapeutische Tätigkeiten: Die Erwartungen, die eine Fachperson in sich und andere setzt, sind normativ aufgeladen. Das gilt auch für die Erwartung, dass die Patientin gesund wird.

Für den Erfolg einer Therapie ist ein wesentlicher ethischer Grundsatz ausschlaggebend: Der Patient oder Klient ist in seiner Autonomie anzuerkennen. „Auto-nomie“ bedeutet wörtlich, sich selbst (autós) sein Gesetz (nomos) geben. Wenn Patienten sich mit der Natur und den Ursachen ihres Leidens vertraut machen wollen, zählt vor allem ihre Eigentätigkeit. Damit beispielsweise Personen, die als Jugendliche sexuelle Übergriffe erlebt haben, erfolgreich therapiert werden können, müssen sie zur Einsicht gelangen, Opfer eines Missbrauchs auch im ethischen Sinne geworden zu sein (Fischer 2011, S. 137). Sie müssen einen selbstgesteuerten Bewusstseinsprozess durchlaufen. Suggestive Interventionen durch den Psychotherapeuten führen nicht zum Ziel. Dieser leistet lediglich „Geburtshilfe“. Basis der Psychotherapie ist – ähnlich wie z. B. im Philosophieunterricht – ein „maieutisches“ Verfahren (von griech. „maieutiké“ – Geburtshilfe).

Eine letzte philosophische Frage: Was ist Wissenschaft?

Was vermittelt einer Disziplin die höheren Weihen einer Wissenschaft? In erster Näherung könnte man sagen: Sie wird zu einer Wissenschaft, indem sie an der Universität gelehrt wird. Dieses Kriterium ist aber ähnlich oberflächlich wie das Kriterium, demzufolge Religion alles umfasst, was in einem Tempel stattfindet. Wissenschaft kann auch ausserhalb einer Universität stattfinden, und nicht alles, was in Universitäten gelehrt und geforscht wird, ist deswegen schon wissenschaftlich sakrosankt.

Ob eine Tätigkeit wissenschaftlich ist oder nicht, hängt eher davon ab, ob sie sich an einer Methode orientiert, wie weit sich diese Methode an bestimmten Erkenntniszielen orientiert, und ob sie oft genug kritisch hinterfragt wird. Wissenschaft sollte in der Lage sein, kontinuierlich neue Erkenntnisse zu liefern und diese in einen kohärenten Sinnzusammenhang einzuordnen. Dem entsprechen zwei Phasen der wissenschaftlichen Tätigkeit, die der Entdeckung (context of discovery) und die der Beweissicherung (context of proof; Fischer, 2011, S. 33). Diese Zweiteilung trifft allerdings nicht auf alle Wissenschaften zu. Nach Thomas Kuhn (2012) wechseln Phasen der „Normalwissenschaft“ mit jenen „wissenschaftlicher Revolutionen“. Letztere gleichen einem Gestalt-Switch, mit dem sich sowohl das Weltbild als auch die Wissenschaftssprache ändern, in der allein sich Begründungen formulieren lassen. Zielgerichtete Forschungsarbeit ist im Übrigen nicht die einzige mögliche Quelle wissenschaftlicher Durchbrüche. Diese verdanken sich oft eher einer spielerischen Suche, wenn nicht überhaupt dem Zufall (Flexner, 2014).

Angesichts der Schwierigkeit, allgemeine Kriterien anzugeben, die auf sämtliche Wissenschaften und nur auf sie zutreffen, sollen im Folgenden einige Tätigkeiten genannt werden, die in ihrem Ensemble (oder in geeigneten Kombinationen) für Wissenschaft typisch sind. Die Liste ist nicht erschöpfend. Trotzdem mag sie sich fürs Erste als Checkliste eignen, mit deren Hilfe sich ermitteln lässt, ob und wieweit ein bestimmtes Fachgebiet oder ein bestimmtes Muster von Tätigkeiten wissenschaftlichen Charakter hat.

Einige dieser Tätigkeiten sind elementarer als andere. Die Merkmale 1 bis 4 reichen weder allein noch in Kombination als Kriterien für Wissenschaftlichkeit aus. Sie bilden aber die Grundlage für viele Wissenschaften. Eine Disziplin (z. B. die Psychotherapie oder die Philosophie) nimmt erst wissenschaftliche Züge an, wenn sie sich in den Bereich der Merkmale 5, 6 oder 8 hineinbewegt. Der Umgang mit Werten (5) fällt vielleicht gänzlich aus der Wissenschaft heraus – falls es keine allgemein verbindlichen Werte geben sollte. Solche dürften sich aber wahrscheinlich durchaus finden lassen – Schmerzfreiheit zum Beispiel. In jedem Fall aber sollten ethische Reflexionen jede wissenschaftliche Tätigkeit begleiten.

1. Sammeln, Vergleichen und Klassifizieren von Gegenständen, z. B. Pflanzen, Insekten, Knochen, Keramikscherben oder psychischen Symptomen; Finden von Analogien (z. B. in Archäologie, Geologie, Botanik, Zoologie, Psychologie)

2. Messen, quantitativ Vergleichen, statistisch Einordnen; z. B. natürliche oder soziale Bewegungen und Veränderungen, quantifizierbare Eigenschaften aller Art (Natur- und Sozialwissenschaften)

3. Fortschreiten von der Klassifikation und/oder Statistik zur inneren Systematik; Erkennen von Mustern (z. B. in Biologie, Sprachwissenschaft, Kunstgeschichte, Medizin, Psychologie)

4. Bilden von Hypothesen über kausale Zusammenhänge oder Bedeutungszusammenhänge (gilt für Geistes- ebenso wie für Naturwissenschaften)

5. Argumentieren, Begründen (z. B. enthält jede Erklärung [6, 7] eine Begründung); Werte-Reflexion mit entsprechender Begründung (v. a. in Mathematik, Logik, naturwissenschaftlichen Theorien generell; ggf. Philosophie und Ethik)

6. Testen von Hypothesen; Beweisen oder Widerlegen hypothetischer Zusammenhänge (vgl. 3) (die Naturwissenschaften gewinnen so z. B. Kausalerklärungen, die auch Voraussagen erlauben); Vollzug logischer Ableitungen (v. a. in Mathematik, Logik, den mathematischen Naturwissenschaften und in der Philosophie)

7. Erklären, wie ein bestimmtes Ereignis D möglich ist (z. B. dass sich das Universum beschleunigt ausdehnt oder dass im Juli 2002 über dem Bodensee zwei Flugzeuge kollidierten); Suche nach einer Ursachen-Kombination A, B, C (als notwendige Bedingung für das Eintreten von D oder A, B, C … können auch dafür stehen, dass bestimmte Hinderungsgründe für das Ereignis D nicht gegeben waren; Natur- und Sozialwissenschaften)

8. Verstehen von Handlungen, Interpretieren der leitenden Motive (diese beziehen sich auf Handlungsziele: Er tat A, um das Handlungsziel B herbeizuführen); Verstehen von Nachrichten, Symbolen, Kulturzeugen vergangener Zeiten (Human- und Sozialwissenschaften, Psychologie, Theologie)

9. Sichern von Widerspruchsfreiheit und Nachvollziehbarkeit und Plausibilität, Vereinfachen übermässig komplexer Sachverhalte oder Theorien; für die Akzeptanz einer Theorie können auch ästhetische Aspekte dienen, z. B. Symmetrien (v. a. in Mathematik, Logik, Physik, Philosophie; Widerspruchsfreiheit ist in allen Wissenschaften zwingend)

10. Testen und systematisches Verbessern therapeutischer oder technischer Methoden; Suche nach Ausschluss unerwünschter Nebenfolgen; hier überschneiden sich wissenschaftliche und ethische Kriterien (Therapiewissenschaften, auf Technologien ausgerichtete Wissenschaften)

Wie ist die Psychotherapie im Lichte dieses Kriterien-Katalogs zu beurteilen? Wer sich ihre Entwicklung während der letzten zwei, drei Dekaden vor Augen führt, dem wird die Antwort nicht schwerfallen: Die Psychotherapie ist eine an einem Ethos – dem Heilerfolg – orientierte Wissenschaft, die aus ihrer Nähe zur Philosophie keinen Hehl macht.

Autor

PD. Dr. Thomas Kesselring, Universität Bern, Institut für Philosophie, und Professor convidado an der Universidade Pedagógica von Mosambik. Diverse Buchpublikationen: Entwicklung und Widerspruch (1981), Die Produktivität der Antinomie ( 1984), Jean Piaget (1988, 1999), Ethik der Entwicklungspolitik (2003), Handbuch Ethik für Pädagogen (2009, 2012), Ethik und Erziehung (2014).

Korrespondenz

E-Mail: thomas.kesselring@philo.unibe.ch

Literatur

Aristoteles (1983). Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag.

Bieri, P. (2001). Das Handwerk der Freiheit. München: Hanser.

Brüntrup, G. (2012). Das Leib-Seele-Problem: eine Einführung, 4. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer.

Du Bois-Reymond, E. (1974). Über die Grenzen des Naturerkennens. In: Du Bois-Reymond, E., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft (S. 54-77). Hamburg: Meiner.

Fischer, G. (2011). Psychotherapiewissenschaft: Einführung in eine neue humanwissenschaftliche Disziplin. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Flexner, A. (2014). Die Nützlichkeit unnützen Wissens. In: Ordine, N., Von der Nützlichkeit des Unnützen (S. 211–242). München: Graf.

Kant, I. (1976). Kritik der reinen Vernunft (Werkausgabe, Bd. 3). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Kesselring, T. (2012). Handbuch Ethik für Pädagogen, 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Kuhn, T. S. (2001). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Piaget, J. (1974). Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. Stuttgart: Klett.

Wright, G. H. v. (1991). Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main: Hain.