Originalarbeit (Themenheft)

Hanspeter Lipp

Über die Organisation des Gedächtnisses: ein neurobiologisches Modell zum Verständnis der unbewussten Erinnerung

Zusammenfassung: Gedächtnis und Erinnerung umfassen viele Funktionsstufen, von molekularen Prozessen im Zellkern von Nervenzellen bis hin zu komplexen Netzwerkarchitekturen. Diese Funktionsstufen werden jedoch oft vermengt. Hier wird ein Modell präsentiert, das sowohl die zellulären Komponenten als auch die Netzwerkebenen umfasst. Man kann annehmen, dass bei neuen Erlebnissen und ihrer Speicherung viele Gebiete der Gehirnrinde simultan aktiviert werden. Diese komplexen Erregungsmuster werden aber schrittweise in den assoziativen Gehirnregionen reduziert, ähnlich wie ein komplexes digitales Bild durch Algorithmen auf das Wesentliche reduziert wird – Beispiele sind die Programm-Ikonen auf dem Computerbildschirm. Erinnerungen sind partiell wiederhergestellte Erregungsmuster, die zentral aus einfachen gespeicherten Mustern generiert werden und an den Knotenpunkten der zerebralen Netzwerke durch dort gespeicherte lokale Informationen verfeinert werden. Im Grosshirn von Säugetieren übernimmt der Hippocampus die Funktion der Codierung und Decodierung. Dessen Erregungsmuster wird aber auch entscheidend durch subkortikale Gebiete mit geprägt, zuvorderst olfaktorische Kerngebiete. Damit werden das basale Grosshirn und das Zwischenhirn zum Träger der letzten Reduktionsstufe, und die Aktivierung dieser Abschnitte generiert eine primitiv-abstrakte Erinnerung, die im Grosshirn schrittweise verfeinert wird. Dieser Wiederherstellungsprozess ist allerdings anfällig auf Fehler in der Netzwerkstruktur und kann grosse Erinnerungslücken aufweisen, andererseits können Gerüche sehr alte kindliche Erinnerungsmuster wecken. Dieses Konzept erlaubt sowohl psychotherapeutische Modifikationen von Erinnerungen als auch mechanistische Eingriffe.

Schlüsselwörter: Kortex, Hippocampus, Bildverarbeitung, Synapsen, epigenetische Tags, limbisches System, assoziativer Thalamus, subkortikales Gedächtnis, kortikale Verarbeitungshierarchie, Gedächtniskonsolidierung, Gedächtnisabruf, posttraumatische Stressreaktionen, visual priming.

About the organization of memories – a neurobiological model for understanding unconscious memory/recall

Summary: Memory and recall encompass many levels of functioning, from molecular processes in nerve cell nuclei, right to complex network architecture. These functional levels are often mixed. A model is presented here that covers both the cellular components as well as the network levels. One can accept that with new experiences and their storage, many areas of the brain cortex are simultaneously activated. These complex arousal patterns are reduced stepwise in the associative region of the brain, similar to a complex digital image that is significantly reduced through algorithms – examples are the program icons on a computer screen. Memories are partially reconstituted arousal patterns that are essentially generated from simple stored patterns and refined with locally saved information at intersections of the cerebral network.

In mammals’ cerebrum, the hippocampus takes over the function of coding and decoding. This excitation pattern is also co-decided through subcortical areas that are formed, first and foremost by the core olfactory areas. The basal cerebrum and the diencephalon are thereby the final reduction level structures and the activation of these sections generates a primitive abstract memory that is refined in the cerebrum in steps. This recovery process is admittedly susceptible to errors in the network structure and large gaps in memory can manifest, on the other hand smells can activate very old childhood memories. This concept allows psychotherapy modification of memories as well as mechanistic interventions.

Keywords: cortex – hippocampus – image processing – synapses – epigenetic tags – limbic system – associative thalamus – subcortical memory – cortical processing hierarchy – memory consolidation – memory recall – post traumatic stress reaction – visual priming

L'organizzazione della memoria: un modello neurobiologico per comprendere il ricordo inconscio

Riassunto: La memoria e il ricordo abbracciano numerosi livelli funzionali, dai processi molecolari nel nucleo cellulare delle cellule nervose fino a complesse architetture di rete. Questi livelli funzionali sono però spesso mescolati. Qui viene presentato un modello che comprende sia le componenti cellulari che i livelli di rete. Si suppone che nel corso di esperienze nuove e del loro immagazzinamento siano attivate simultaneamente molte regioni della corteccia cerebrale. Questi complessi modelli di eccitazione sono però scomposti gradualmente nelle aree cerebrali associative, nello stesso modo in cui un'immagine digitale complessa è ridotta all'essenziale attraverso algoritmi: basti pensare alle icone dei programmi sullo schermo del computer. I ricordi sono modelli di eccitazione parzialmente ricomposti, generati centralmente da modelli semplici immagazzinati, e poi perfezionati nei punti nodali delle reti cerebrali attraverso informazioni locali lì immagazzinate. Nel telencefalo dei mammiferi è l'ippocampo a svolgere la funzione di codifica e decodifica, il cui modello di eccitazione è però coniato in modo ugualmente decisivo dalle aree sottocorticali, in particolare dai centri olfattivi. In questo modo il telencefalo basale e il diencefalo sono i veicoli degli ultimi livelli di riduzione, e l'attivazione di questi settori genera un ricordo primitivo astratto, che è gradualmente perfezionato nel telencefalo. Questo processo di ripristino è tuttavia suscettibile di errore nella struttura di rete, e può presentare grandi vuoti di memoria; d'altro canto gli odori possono risvegliare modelli di ricordi infantili molto lontani. Questo concetto consente sia modifiche psicoterapeutiche dei ricordi che interventi meccanicistici.

Parole Chiave: Corteccia – ippocampo – elaborazione delle immagini – sinapsi – etichette epigenetiche – sistema limbico – talamo associativo – memoria sottocorticale – gerarchia dell'elaborazione corticale – consolidamento della memoria – richiamo della memoria – reazioni allo stress post-traumatico – priming visivo

Nichts ist lebendiger als die Erinnerung (Federico Garcia Lorca, 1898–1936)

 

Erinnerung ist unser Leben – so der Poet. Doch was heisst Erinnerung? Das luzide Bild eines längst entschwundenen Augenblicks? Isoliert-schwebende Fragmente von Bildern und Tönen aus den flaschengrünen Tiefen der Vergangenheit? Aufkeimende Panik bei unbewusst wahrgenommenen Reizen? Das Abrufen erlernter Tatsachen? Erkennen von Mustern? Biochemische Engramme der Umwelt im Epigenom? Eingeschliffene Verhaltensmuster ohne Reflektion? In Synapsen verteilte Proteine? Warum gibt es falsche Erinnerungen? Warum gibt es Amnesien, rückwirkend oder zukunftsgerichtet? Fragen über Fragen, aber auch viele Antworten zu Teilgebieten – allerdings fehlt eine integrative Sicht.

Erinnerungen sind aber auch das Arbeitssubstrat der Psychotherapie. Darf nun ein Neuroanatom und Verhaltensforscher als Fremdling in diesem Gebiet einen subjektiven Überblick wagen? Einen Versuch schien es mir wert. Durchgeführt habe ich ihn im Rahmen einer Vorlesung über das limbische System bei Medizinstudenten, wenn auch mit geteiltem Echo. Den Faktensammlern und Prüfungsvorbereitern war das Thema suspekt, weil zu komplex. Einer interessierten Minderheit gefiel es, weil es einen Überblick vermittelte, der ihnen erlaubte, eine Fülle von Informationen in ein verhältnismässig einfaches Schema zu gliedern.

Grundlagen

Ein nützlicher erster Schritt ist die Gliederung in Ebenen der Gedächtnisuntersuchung, deren jede sich wiederum auffächern lässt:

Klinische Beobachtungen

Ein klassisches Schema zur Gliederung von Amnesien zeigt Abbildung 1.

Abb. 1: Zeitachse mit Gedächtnisprozessen

Eine Auffälligkeit bei Patienten insbesondere mit retrograder Amnesie ist Konfabulation, das Ergänzen und Ausschmücken fehlender Erinnerungen mit aktuellen Ereignissen oder Orten ohne Bezug zur Erinnerungslücke. Dies deutet auf eine grundlegende Fähigkeit des Gehirns zur Rekonstruktion fragmentarischer Information. Allerdings erfordert das Verständnis der Grafik und des weiteren Textes zusätzliche Definitionen, die von der klassischen Psychologie geliefert werden.

Psychologische Formalisierung

 

Abb. 2: Formale Definitionen des Gedächtnisses. A Langzeitgedächtnis, deklarativ versus prozedural; B deklaratives Gedächtnis, episodisch versus semantisch; C prozedurales Gedächtnis (assoziativ versus nicht assoziativ)

Abbildung 2A zeigt eine übliche Gliederung des Langzeitgedächtnisses in deklarative und prozedurale Komponenten. Deklarativ ist, was man gemeinhin unter Gedächtnis versteht, nämlich das bewusste Erinnern an sensorische Eindrücke, die sprachlich vermittelt werden können. Prozedural umfasst hingegen alles, dessen man sich nicht bewusst ist. Dies kann Bewegungen umfassen, wie die Art sich an der Nase zu zupfen, oder Erinnerungen des vegetativen Nervensystems an schädliche Eigenschaften von Nahrungsmitteln. Offensichtlich ist aber auch, dass diese Prozesse oftmals zusammen aktiviert sind und damit auch interagieren.

Üblich ist weiterhin eine Unterteilung des deklarativen Gedächtnisses in semantisches und episodisches Gedächtnis (Abb. 2B). Semantisch bezieht sich auf Faktenwissen ohne Erinnerung an den Kontext des Erwerbs, als episodisch werden Gedächtnisinhalte bezeichnet, welche Bewegung, Sensorik und emotionalen Kontext verknüpfen. Diese erscheinen damit als hierarchisch höchste Stufe der bewussten Erinnerung, auch wenn sie wahrscheinlich prozedurale Komponenten beinhalten. Ein Ausfall des episodischen Gedächtnisses ist denn auch das Kennzeichen retrograder Amnesien und der Unfähigkeit, aus aktuellen Erlebnissen neue Erinnerungen zu fabrizieren.

Prozedurale Gedächtnisformen lassen sich in assoziative und nicht assoziative Komponenten gliedern (Abb. 2C). Unter assoziative Formen fallen die klassische Konditionierung, bei der zwei sensorische Reize gedächtnismässig miteinander verknüpft werden (Pavlov’sche Konditionierung), oder die operante Konditionierung, in welcher eine motorische Aktion mit einem Reiz verknüpft wird.

Für diesen Artikel aber relevanter sind nicht assoziative Gedächtnisformen, allen voran das sensorische Priming. Darunter versteht man die Fähigkeit des Gehirns, aus sensorischen Erinnerungsfragmenten ein ganzes Bild oder eine Melodie zu rekonstruieren. Ein bekanntes und klinisch oft verwendetes Bild ist dabei der Elefant mit Regenschirm, mit dem neuropsychologisch gemessen werden kann, ab welcher Fragmentanzahl ein Bild rekonstruiert werden kann (Abb. 3). Offensichtlich sind aber ähnliche Prozesse bei der Rekonstruktion episodischer Gedächtnisinhalte tätig, die dann aber als Konfabulation in Erscheinung treten.

Abb. 3: Sensory priming. a Ein Bild wird gezeigt und dann offensichtlich automatisch in kleinere Komponenten zerlegt (graue Bilder). b Beim Abruf werden ab einer bestimmten Stufe (abhängig von der Gedächtnisfähigkeit des Probanden) die Fragmente zu einem Bild rekonstruiert. Der Rekonstruktionsprozess bleibt im Normalfall über lange Zeit fast unauslöschlich.

So einfach die Aufgabe auch scheint, so versteckt sich darin ein verborgenes Problem. Offensichtlich erfolgt die Abspeicherung des Bildes im Gehirn in reduzierter Form. Nur so ist es möglich, dass aus einem Fragment aufs Ganze geschlossen werden kann. Wie das aber geschieht, ist weitgehend unbekannt, erscheint aber als allgemeines Funktionsprinzip des Gehirns.

Schliesslich sollten auch noch kurz die Definitionen zum Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis dargestellt werden, weil diese Prozesse in der molekularen Hirnforschung eine dominierende Rolle spielen (Abb. 4).

Zwei „z“ in Kurzzeitgedächtnis

Abb. 4: Definitionen zum Kurz- und Langzeitgedächtnis

Lokalisation von Gedächtnisfunktionen im Gehirn

Die Zuordnung bestimmter Gedächtnisfunktionen zu Gehirnfunktionen hat eine lange Tradition. Begründet wurde sie als Phrenologie am Ende des 18. Jahrhunderts durch Franz Joseph Gall, der nicht nur Gehirnanatom war, sondern, weniger bekannt, auch Ethologe, erfolgreicher Arzt und Gesprächstherapeut (Lesky, 1979). Die Zuordnung bestimmter Gedächtnisfähigkeiten (etwa Wort- und Zahlengedächtnis) zu Gehirnarealen erfolgte bei Gall durch eine skurrile Mischung neuropathologischer Befunde und zeitgemässer Einteilung psychologischer Prozesse. Anfänglich von der Wissenschaft abgelehnt, entwickelte sich daraus eine Lokalisationslehre, die in den letzten 50 Jahren durch die Neuropsychologie erheblich erweitert wurde. Mitentwickelt wurde dabei auch eine unkritische „Zentren“-Lehre, die komplexe kognitive Funktionen vorzugsweise in Arbeiten mit bildgebenden Verfahren wenigen Hirnstrukturen zuordnet. Allerdings sah sich auch die Lokalisationslehre gleich zu Beginn mit einer Art Netzwerklehre konfrontiert, welche klare funktionelle Zuordnungen ausser zu grossen Hirnregionen wie dem Kleinhirn in Abrede stellte. Heute müssen funktionelle Lokalisationsversuche mit der Schwierigkeit kämpfen, diese in Verbindungsnetzwerke zu integrieren, welche konzeptuell durch die Informatik vorgegeben sind. Auch wenn auf diesem Gebiet erhebliche Fortschritte gemacht werden, sind doch viele allzu leicht akzeptierte Lokalisationen durchaus umstritten. Die folgende Aufstellung vermittelt deshalb nur die einigermassen experimentell geprüften Zuordnungen.

Das episodische und deklarative Gedächtnis wird beim Menschen dem inneren Schläfenlappen (Temporallappen) zugeordnet. Dieser umfasst den Hippocampus und seine benachbarten Anteile der Grosshirnrinde, die man auch als entorhinalen Kortex bezeichnet. Nach Gedächtniskonsolidierung finden sich auch Teile in andern Gebieten der Grosshirnrinde. Der Hippocampus wird dabei nicht nur als Zentrum des episodischen Gedächtnisses gesehen, sondern auch als Struktur, welche im Traum Gedächtnisfragmente innerhalb der Grosshirnrinde (Neocortex) kombinatorisch konfiguriert oder auch löscht.

Beim prozeduralen Gedächtnis lassen sich nur wenige Gehirnanteile klar zuordnen. Der Mandelkern (Amygdala), ebenfalls im inneren Temporallappen, spielt eine zentrale, wenn auch nicht die alleinige Rolle bei angstgebundenem Gedächtnis, möglicherweise interaktiv mit dem Hippocampus und dessen stressregulierenden Verbindungen zum Zwischenhirn (Hypothalamus). Wahrscheinlich werden auch Gedächtniskomponenten positiver Emotionen gespeichert. Sensorisches Priming wird dem Neocortex zugeschrieben, motorische Geschicklichkeiten dem Kleinhirn (Cerebellum). Für die Gewohnheitsbildung (letztlich motorische Erinnerungen) werden meist die sogenannten Basalganglien verantwortlich gemacht. Diese Strukturen umfassen subkortikale Kerngebiete und ein kompliziertes Schleifensystem zur Abstimmung motorischer Abläufe, welches auch das Kleinhirn einbezieht.

Zur Funktion des basalen Vorderhirns und des oberen Hirnstammes

Verglichen mit dem inneren Temporallappen weitgehend aus dem Blickfeld der psychologisch orientieren, aber auch tierexperimentellen Gedächtnisforschung verschwunden sind Hirnstamm, Zwischenhirn und die vorderen tiefen Anteile der Hemisphäre sowie deren direkte und indirekte Verbindungen zur Hirnrinde. An sich wären alle diese Strukturen zu Gedächtnisbildung auf molekularer Ebene befähigt, doch entziehen sie sich bildgebenden Verfahren und experimentellen Ansätzen, zumindest beim Menschen. Andererseits bilden diese Strukturen seit vielen hundert Jahrmillionen das fundamentale Betriebssystem des Wirbeltiergehirns. Dieses wird gebildet aus einer gegenläufig verbundenen Kette von Kerngebieten, die sich von den olfaktorischen Kernen bis hin zum Mittelhirn erstreckt. Die tiefen Schichten des Mittelhirns verblieben während der Evolution als Kommandozentrale, die alle motorischen Vorgänge und alle sensorischen Eingänge kontrolliert und in artspezifische Bewegungsmuster umsetzt. Die Steuerung erfolgt dabei über zwei parallele motivationale Fasersysteme, welche ablaufende Verhaltensweisen nach Belohnungs- oder Bestrafungsvalenz verstärkt oder vermindert – im Fachjargon sind dies das Medial Forebrain Bundle zur positiven Verstärkung und das dorsale Bündel von Schütz zur Mediation aversiver Motivationszustände. Darin eingeschlossen finden sich auch Fasersysteme, mittels derer das Mittelhirn direkt oder via Thalamus den Aktivitätszustand der ganzen Hirnrinde steuert, beispielsweise bei Wach oder Schlafzustand, aber auch gesondert einzelne Areale der linken oder rechten Grosshirnrinde aktivieren oder deaktivieren kann. Neuroanatomisch umfassen diese Systeme das cholinerge aufsteigende „Arousal“-System und die zahlreichen für die Psychopharmakologie so attraktiven dopaminergen, adrenergen und serotonergen Systeme, um nur einige zu nennen.

Die zur Steuerung benötigten Informationen erhält das Mittelhirn – geordnet von vorne nach hinten – aus den Eingangsgebieten des Geruchsnervs (olfaktorisch), aus dem Hypothalamus im Zwischenhirn (einer Hirnregion, die im Wesentlichen den physiologischen und hormonellen Zustand des Organismus erspürt und via Hormonausschüttung und Faserverbindungen zum vegetativen Nervensystem auch kontrolliert), aus ablaufenden motorischen Vorgängen und deren Rückmeldung aus der Peripherie direkt und via Kleinhirn sowie aus visuellen, auditorischen und geschmacklichen (chemoceptiven) Informationen, Letztere aus Zunge, Gaumen, Verdauungstrakt und Blutbahn. Für das Mittelhirn spielt es an sich keine Rolle, ob die Informationsvermittlung aus komplexen übergelagerten Systemen wie einer Grosshirnrinde oder einem Neopallium wie bei Vögeln erfolgt, denn alle Wirbeltiergehirne werden in der gleichen Weise gesteuert. In einer technischen Analogie: Autos sind im Prinzip gleich aufgebaut. Für den Fahrer ist es im Prinzip gleichgültig ob er einen Ford T oder einen Rolls Royce steuert. Letzterer besitzt zahlreiche technische Gadgets zur Informationsverarbeitung und Kontrolle der Fortbewegung, welche dem Ford T fehlen. Gleichermassen ist es dem Mittelhirn und seinen internen Meldesystemen letztlich gleichgültig, ob es einen Frosch oder einen Menschen kontrolliert. Aus dieser etwas unüblichen Sicht geht aber hervor, dass in diesen „primitiven“ Systemen auch Informationen gespeichert werden müssen, die vielleicht rudimentär, aber für die Grobkontrolle von Gedächtnis und Verhalten essentiell sind. Interessierte Leser finden eine schematische Darstellung dieser nicht unkomplizierten Beziehungen anderswo (Lipp & Wolfer, 1998).

Zelluläre und molekulare Ebene

Nahezu alle Zellen des Nervensystems sind zu Speicherung und Abruf von Informationen befähigt. Die Teilvorgänge der Gedächtnisbildung gehören zu den experimentell am besten dokumentierten Prozessen und bilden eine Hauptrichtung in der Gedächtnisforschung. Zusammengefasst lassen sich folgende Schritte unterscheiden:

Eine ausführliche Darstellung dieser Vorgänge würde den Rahmen des Artikels sprengen. Ein gut lesbarer Übersichtsartikel ist die Darstellung von Takeuchi et al. (2014). Die meisten Konzepte gehen davon aus, dass bei Lernen zwei zellgebundene Prozesse stattfinden. Eine schwache molekulare Aktivierung des Systems im Alltagsbetrieb (beispielsweise Trinken an einem bestimmten Ort) fällt mit einem plötzlichen stark emotionalen Reiz zusammen. Dabei verursacht ein System zur Emotionsanalyse (wie die Amygdala) ein heftiges Signal über ein spezielles Alarmsystem (zum Beispiel das intralaminare System des Thalamus, siehe unten). Dabei wird eine molekulare Marke, ein „Tag“ gesetzt, der zusammen mit dem eher zufälligen aktuellen Aktivierungsmuster verknüpft wird: Ein Teil der molekularen Maschinerie, der bei der Ortserkennung aktiv ist, induziert in der Folge eine für Angst und Stress typische Signalkaskade zum Zellkern, der wiederum Stress-relevante Gene aktiviert. Molekulares „Tagging“ kann auch durch Wiederholung schwacher Reize erzeugt werden.

Für die Bildung von motivationsabhängigen Gedächtniskomponenten hat sich in letzter Zeit ein auch psychotherapeutisch interessantes molekulares Teilgebiet in den Vordergrund geschoben, die neuronale Epigenetik. Darunter versteht man die Vorgänge, bei denen markante Umweltänderungen in einem Individuum das Ablesen von Genen zur Gedächtnisbildung blockieren oder fördern, dies ohne Veränderung der DNS-Struktur, nur durch Bildung von Markierungsstellen im Chromatin, der Hülle des DNS-Stranges (Sweatt et al., 2013). Dabei scheint Stress in allen Formen eine fundamentale Rolle zu spielen – vorgeburtlich bei der Mutter, während der intra oder extrauterinen Gehirnentwicklung, aber auch im adulten Lebewesen. Darüber hinaus wird auch eine väterliche Übertragung dieser Stress-induzierten epigenetischen Chromatinveränderungen über 2–3 Generationen zunehmend diskutiert (Gapp et al., 2014).

Für die folgenden Betrachtungen ist aber relevant, dass alle obigen molekularen Prozesse in einem gigantischen Netzwerk von Nerven- und auch Gliazellen im Wesentlichen gleich ablaufen, selbst wenn es lokalspezifische Variationen gibt. Die Nervenzelle weiss nie, was sie tut, die Auswirkungen hängen von den Systemebenen und deren Interaktionen ab.

Simulationsebene

Ein wachsendes Forschungsgebiet zur erhofften Erhellung von Gedächtnisbildung entwickelt sich in der Informatik. Dies beinhaltet künstliche Intelligenz, lernende Roboter und gigantische Ansätze zur Simulation des Gehirns mittels mathematischer Modelle. Der ambitiöseste (und teuerste) Ansatz darunter ist sicher das Human Brain Projekt der EU mit Sitz in Lausanne, das in letzter Zeit auch massiver Kritik ausgesetzt war, nicht zuletzt weil es weitgehend auf den Einbezug bisheriger Erkenntnisse aus Psychologie und Kognitionsforschung verzichtete. Ob der Einsatz von massiver Rechenleistung zu besserer Erkenntnis führen wird, bleibt offen.

Im Zusammenhang hier ist ein Problem von Interesse. Wie erfolgt eine effiziente Reduktion einer komplexen Information und deren Wiederherstellung? Am leichtesten lässt sich dies am Beispiel der Bildverarbeitung nachvollziehen. Die Datenspeicherung eines Bildes selbst aus einem Smart Phone verbraucht viel Speicherplatz. Es wird nicht nur die Position jedes Bildpunktes gespeichert, sondern auch dessen Informationsgehalt als Farbe. Der älteste Algorithmus zur Kompression und Wiederherstellung von Bildern ist der wohlbekannte JPEG, abgeleitet von Joint Photographic Expert Group. Dabei wird im Prinzip der Bildaufbau verschlüsselt. Eine Zeile, die nur gleichfarbige Punkte enthält, wird mit Zeilenlänge und Farbcode gespeichert, während einem Punkt der von verschiedenfarbigen Punkten umgeben ist, in der Regel die Information über den Durchschnittswert der umliegenden Punkte zugeordnet wird. Der Informationsgehalt der zugeordneten Punkte hängt dabei von der gewünschten Präzision der Rekonstruktion ab und variiert damit. Die Kompression kann auch schrittweise erfolgen, und damit kann ein komplexes Bild in eine rudimentäre Form überführt werden, die nur bei Kenntnis des Kontexts erkennbar bleibt. Beispiel sind die Ikonen auf Computerbildschirmen (Abb. 7).

Abb. 5. Kompression und Rekonstruktion eines digitalen Bildes durch schrittweise Verringerung der Auflösung und deren Wiederaufbau durch im Kompressionsalgorithmus gespeicherte Informationen.

Die Analogie zur Zerlegung eines Bildes in rekonstruierbare Fragmente wie beim Elefanten und Regenschirm ist offensichtlich. Sie bildet die Grundlage zu einem ähnlichen Konzept der abgestuften Ver- und Entschlüsselung von Erinnerungsmustern im Gehirn.

Anforderungen an ein Konzept

Ein brauchbares Konzept zur Einordnung von Wissen zum Gedächtnis erfordert die Integration verschiedener Ansätze. Zum Ersten sollte es den Wissensstand sowohl der beschreibenden Psychologie als auch der funktionellen Neuroanatomie und der läsionsbedingten Funktionsausfälle enthalten. Zum Zweiten muss es die Kodierung und Reduktion von Aktivitätsmustern zumindest der Grosshirnrinde einbringen und diese in Bezug zum Hippocampus setzen. Zum Dritten soll es einen Einbezug der subkortikalen Strukturen erlauben. Weiterhin müssen die lokalen zellulären und molekularen Prozesse vernünftig eingebaut sein, und man muss ersehen können, wie Kurz und Langzeitgedächtnis zustande kommen. Schliesslich sollte es eine logische Grundlage zur Entstehung und Rolle unbewusster „primitiver“ Erinnerungen liefern, aber auch fehlerhafte Erinnerungen erklären. Dies soll im Folgenden erläutert werden.

Die stufenweise Verschlüsselung und Entschlüsselung kortikaler Aktivitätsmuster

Neuroanatomische Grundlagen

Man kann sich die Grosshirnrinde des Menschen, im Speziellen den Neocortex, als eine Projektionsleinwand vorstellen, die sich aus gleichbleibenden Modulen aus Zellen aufbaut, die als kortikale Säulen bezeichnet werden. Diese Säulen bestehen aus neuronalen Kollektiven, die weitgehend gleichartig eintreffende Erregungen intern verarbeiten und mit benachbarten und entfernten Säulen über meist kurze Fasersysteme kommunizieren und damit ein grosses Netzwerk bilden. Im Gegensatz zu einer Kinoleinwand ist aber dieses modulare Netzwerk dynamisch und kann eintreffende Informationen in Form, Farbe und Ausdehnung verfeinern. Als Projektor im Gehirn dient der Thalamus, der Informationen aus verschiedenen Sinnessystemen, aber auch Informationen aus dem Hypothalamus zum Neocortex projiziert, und zwar flächenhaft parzelliert. Leicht verständlich ist dies für das visuelle System, bei dem das Erregungsmuster in der Retina recht genau im visuellen Kortex reproduziert wird – man spricht von Retinotopie, oder auch im somatomotorischen Kortex, wo eine Somatotopie in Form eines auf dem Kopf stehenden Homunculus mehrfach abgebildet erscheint. Aufgrund der Vorbearbeitung in der Hörbahn werden auch Töne als flächenhafte Erregungsmuster abgebildet, desgleichen Geschmacksempfindungen und sogar Motivationszustände, wobei Letztere die Position der Informationsquelle aus basalem Vorderhirn und Zwischenhirn abbilden. Diese über den Thalamus projizierten Erregungsmuster bilden vermutlich das Substrat für das menschliche „Kopfkino“ im Wachzustand und Traum. Eine Ausnahme vom Prinzip der sensorischen Übertragung via Thalamus bildet das olfaktorische System. Geruchsinformationen erreichen die Grosshirnrinde unter Umgehung des Thalamus direkt im Riechkortex und in limbischen Kortexgebieten. In Abbildung 6 ist der Thalamus nur teilweise dargestellt, vor allem seine weniger bekannten Projektionsstrukturen. Diese beinhalten Kerngebiete, welche Fasern zu „assoziativen“ Kortexregionen entsenden (assoziativer Thalamus), Kerne mit Fasern zum limbischen Kortex (limbischer Thalamus) und Fasern zur Regulation des Aktivitätszustandes der Zielregion (intralaminare Kerne). Letzteres System kann man sich als neuronales „Dimmer“-System vorstellen, mit dem der Thalamus Teile seiner Kortex-Leinwand gezielt erhellt oder verdunkelt.

Traditionellerweise wird die Grosshirnrinde auch in primär sensorisch-motorische Areale, und Assoziationsregionen eingeteilt. Die ursprüngliche Abgrenzung des Assoziationskortex bezog sich auf Gebiete, bei denen man nach Läsionen keine unmittelbaren Empfindungsstörungen oder motorische Defekte erkennen konnte, wurde in der Folge aber auf alle Kortexregionen ausgeweitet, bei denen man eine interaktive Verarbeitung verschiedener Funktionsmodalitäten erkennen konnte. Als primär modalitätsspezifischer Assoziationskortex werden Gebiete bezeichnet, in denen beispielsweise das aus der Retina eintreffende Bild im primären visuellen Kortex in Komponenten zerlegt wird: Einzelne kortikale Säulen verarbeiten Farbinformationen, andere geometrische Informationen. Gebiete der Hirnrinde, welche Informationen aus verschiedenen Modalitäten verarbeiten, etwa aus Körpersensorik und auditorischer Verarbeitung, werden als multimodaler Assoziationskortex bezeichnet. Die fortlaufenden Verarbeitungsprozesse entfernen sich dabei von den primär sensorischen und motorischen Kortexregionen in Richtung Temporallappen und vorderem Frontallappen (präfrontaler Kortex) und werden auch als paralimbischer Assoziationskortex bezeichnet. Dessen Läsionen sind neurologisch oft diskret, werden aber neuropsychologisch erfasst und klassifiziert. Letztlich mündet das verarbeitende assoziative Netzwerk in wenige Regionen entlang der Innenseite der Hemisphären, dem cingulären Kortex (auch Cingulum) und dem Gyrus parahippocampalis, der auch als entorhinaler Kortex bezeichnet wird. Diese in Form eines Halbringes angeordneten Strukturen empfangen hochverarbeitete Informationen sowohl aus motorischen als auch aus sensorischen Rindengebieten und bilden damit ein Teilsubstrat für episodisches Gedächtnis, weil sie alle gegenläufig verbunden sind. Ein läsionsbedingter Ausfall, wie etwa nach einer Virusencephalitis mit Zerstörung des ganzen Cingulums, führt denn auch zu schweren und irreversiblen Amnesien selbst bei erhaltenem Hippocampus. Das Verarbeitungsnetzwerk auch aller anderen assoziativen Kortexregionen ist nie einseitig gerichtet, sondern stets gegenläufig. Im Prinzip erhält jede kortikale Säule in etwa gleich viele Fasern aus Nachbarsäulen, wie sie dorthin entsendet.

Dieses Prinzip wird im Hippocampus durchbrochen. Diese Struktur, auch Ammonshorn (Cornu ammonis) genannt, ist im menschlichen Gehirn etwa 5 cm lang und 1 cm breit. Er repräsentiert die hierarchisch oberste Stufe der assoziativen Kortexareale, auch wenn er einen phylogenetisch alten Aufbau aufweist. Die im Cingulum und entorhinalen Kortex entspringenden Fasern enden topographisch von vorne nach hinten geordnet im Gyrus dentatus, werden dort auf sogenannte Moosfasern umgeschaltet und bilden im eigentlichen Hippocampus ein überwiegend unidirektionales Schleifensystem („trisynaptic loop“ oder Lamellarschleife), das mittels Axon-Abzweigungen der dortigen Nervenzellen (Schaffer-Kollaterale) wieder im entorhinalen Kortex endet. Dadurch entsteht im Hippocampus eine stapelförmige (lamellare) Anordnung von Schleifen, in denen Erregungen aus verschiedenen Abschnitten des parahippocampalen limbischen Kortex in einer Richtung kreisen können. Bei Synchronisierung der Aktivität in hippocampalen Schleifen resultieren rhythmische Veränderungen in den Hirnwellenaktivitäten des Grosshirns, die im Elektroencephalogramm als Thetawellen mit einer Frequenz von circa 7–10 Hz erscheinen. Dieses Arrangement ermöglicht dem Hippocampus das kortikale Assoziationsnetzwerk zeitlich zu steuern und komplexe Assoziationsmuster temporär zu halten. Die kreisende Aktivität in diesen Schleifen wird aber auch durch querverlaufende Schaffer-Kollateralen in Längsrichtung des Hippocampus abgestimmt und modifiziert (Abb. 8). Damit wird die Hippocampusformation zu einer Matrix, in welcher die gesamte Aktivität der Grosshirnrinde – zum Kleinformat reduziert – parallel abgebildet wird und die parallelen Abbildungen miteinander kommunizieren können. Er ist damit eine der beiden Regionen, welche die Grosshirnoberfläche en miniature reproduzieren; die andere liegt in den tiefen Schichten des Mittelhirns. Die dynamisch abgestimmte Aktivität in den Hippocampusschleifen wird aber nicht nur in die Grosshirnrinde zurückgespeist, sondern auch über ein dickes Faserbündel, den Fornix, in verschiedene Strukturen des basalen Vorderhirnes übermittelt. Zuvorderst in die olfaktorischen Kerngebiete, dann in den Nucleus accumbens, in die Kerne der Septalregion, und in verschiedene Zonen des Hypothalamus. Zusammengefasst werden diese Kerngebiete als subkortikale Anteile des limbischen Systems bezeichnet. Typischerweise erhalten die gleichen Gebiete auch Fasern aus der Amygdala.

Diese limbischen Kerngebiete sind aber Teil von Schleifensystemen, weil sie die aus Hippocampus und Amygdala erhaltenen Impulse über Umwege wieder in die kortikalen Anteile des limbischen Systems zurückprojizieren – ein Beispiel dafür ist die oft genannte Papez-Schleife aus dem Hypothalamus zum limbischen Thalamus und von dort wieder zum entorhinalen Kortex. Ihre Unterbrechung, etwa nach Alkoholvergiftung, führt denn auch zu Teilamnesien wie dem Korsakoff-Syndrom.

Kompression und Kodierung

Abbildung 6 zeigt eine auf den Kopf gestellte Verarbeitungshierarchie der assoziativen Hirnregionen und parallel dazu den Verlauf der Informationsreduktion in Form kortikaler und gegenläufig verbundener Module, deren Farbe verschiedene Aktivitätszustände widerspiegelt. Dabei entnimmt die hierarchisch höhere Stufe wie im JPEG-Algorithmus nur einige Informationen, die genügen, um den Zustand der Nachbarmodule zu kodieren. Hier wird das durch Farbcodes symbolisiert: Zur Kodierung zweier verbundener Module in Rot und Gelb genügt zum Beispiel der Farbcode Orange. Knoten im assoziativen Netzwerk sind durch offene Punkte symbolisiert, die synaptischen Kontaktstellen entsprechen.

Abb. 6: Verarbeitungsschritte der Hirnrindenaktivität entlang bekannter funktioneller Cortexregionen, die aber auch eine Reduktion des Informationsgehalts mit sich bringt (oder nach sich zieht). Der Hippocampus (Ammonshorn) als hierarchisch höchste Verarbeitungsregion bildet auch eine Schnittstelle zwischen subkortikalen limbischen Kerngebieten im basalen Vorderhirn (Telenecephalon) und Zwischenhirn (Diencephalon). Die Reduktion des Informationsgehaltes erfolgt nach dem Prinzip der JPEG-Bildkompression (siehe Text). ACS, Nucleus accumbens; CA1, CA3, Unterabschnitte des Hippocampus; SUB, Subiculum, der Ursprung des Fimbria/Fornix-Faserbündels zum basalen Vorderhirn und Zwischenhirn. Leere Kreise, synaptische Knotenpunkte im Netzwerk; rote Kreise, synaptische Knotenpunkte mit molekularen „Tags“ nach Eingang eines moderat emotionalen Signals.

Im Normalfall ergibt sich damit ein rhythmisch waberndes Aktivitätsmuster ohne dominante Konstellationen, das von den subkortikalen Ebenen bis zum primär motorisch-sensorischen Kortex den Ablauf von Verhalten oder mentalen Mustern widerspiegelt. Eine extrem reduzierte Komponente des Gesamtbildes erscheint wie eine Computerikone auf dem Hippocampus. Dieser hat als einzige Struktur im Grosshirn die Fähigkeit, dass sämtliche Informationen aus Neocortex und subkortikalen Strukturen simultan interagieren können, allerdings geschieht dies wegen der räumlichen Reduktion nur auf relativ undifferenzierte Weise.

Was geschieht nun, wenn ein Mensch ein moderat emotionales Erlebnis hat? Ein Beispiel findet sich im Anhang 1, der einen kurzen Film mit unvergesslichem Inhalt zeigt. Über emotionsanalysierende Strukturen wie die Amygdala wird ein kräftiges Alarmsignal ausgelöst, welches in verschiedenen Kortexarealen eine molekulare Tagging-Reaktion auslöst. Nach dem Zufallsprinzip kann diese mit schwachen Tagging-Prozessen kombiniert werden (als rote Knotenstellen symbolisiert). Damit wird die emotionale Information molekular in den assoziativen Verarbeitungsprozess eingeschleust, und je stärker das Alarmsignal ist, umso mehr Knotenpunkte werden markiert. Allerdings bleiben diese molekularen Tags unbemerkt eingebettet.

Bei Abspielen desselben Films auch nach vielen Jahren genügen jedoch bereits die ersten Bild und Tonsequenzen, um sofort zu wissen, was geschieht. Analog zum Bild mit Elefant und Regenschirm wird über die wenigen molekularen Tags in den subkortikalen und kortikalen limbischen Strukturen ein Muster aufgebaut, das sich in die angrenzenden Gebiete der visuellen und akustischen Assoziationsgebiete ausbreitet und so zur Erinnerung an Bild und Ton führt (Abb. 7). Wie genau die Reproduktion des Bildes und seines ehemaligen Kontexts ist, hängt von der Zahl der molekularen Tags ab. Sind es viele, wird das Bild präzis, sind es wenige, weiss man nur noch, worum es geht und in welchem groben Kontext man es registriert hat. Beispielsweise im Hörsaal, aber wer daneben sass, ist nicht mehr deutlich.

Abb. 7. Wiederaufbau einer Erinnerung aus Hippocampus und subkortikalen limbischen Regionen nach Wahrnehmung eines moderat emotionalen Signals. Der Wiederaufbau eines kortikalen Aktivitätsmusters wird durch molekulare Tags im Netzwerk gegliedert, fehlende Informationsteile werden extrapoliert. ACS, Nucleus accumbens; CA1, CA3, Unterabschnitte des Hippocampus; SUB, Subiculum, der Ursprung des Fimbria/Fornix-Faserbündels zum basalen Vorderhirn und Zwischenhirn. Leere Kreise, synaptische Knotenpunkte im Netzwerk; rote Kreise, synaptische Knotenpunkte mit gespeicherten molekularen „Tags“.

Aus Abbildung 7 wird aber auch ersichtlich, dass die Schüsselrolle zum Abruf und Wiederaufbau von Erinnerungen in den Verbindungen und Schleifen des limbischen Systems und den darin eingebetteten molekularen Tags liegt. Im Unterschied zu vielen Theorien über die Funktion des Hippocampus wird dabei keine spezielle Gedächtnisfunktion angenommen, die über die Fähigkeiten anderer Hirnregionen hinausgeht. Die Hauptfunktion des Hippocampus in diesem Modell ist die Stabilisierung und das zeitliche Halten von Aktivitätsmustern, zuerst im limbischen System und seinen subkortikalen Anteilen. Dies erlaubt die Rekrutierung und Aktivierung weiterer molekularer Tags, die weitgestreut in der Grosshirnrinde liegen können. Deutlich wird auch, dass über den Hippocampus und seine Schleifen frühkindliche Erinnerungen, die in primitiver Form als molekulare Tags in Hirnstamm, Zwischenhirn und basalem Vorderhirn abgespeichert werden, wieder in die neokortikale Assoziationsmaschinerie eingespeist und zum Leben erweckt werden können. Dabei geht es nicht nur um negative Erlebnisse – auch positive Erlebnisse und geordnete Abläufe hinterlassen neuronale Spuren, die vom Gehirn wieder rekonstruiert werden können.

Rolle des olfaktorischen Systems

Jeder kennt das Phänomen: Betritt man das alte Schulhaus und riecht das vielleicht immer noch verwendete Bohnerwachs, erwachen die Erinnerungen und werden umfassender, vom übellaunigen Schulabwart bis zum Klang der Pausenglocke und dem ewig feixenden Pultnachbar. Andererseits ist der Klang auch derselben Glocke ohne geruchlichen Kontext offenbar weniger geeignet, ein Panorama von Erinnerungen zu generieren. Das Schema in Abbildung 7 kann auch darauf eine (mögliche) Antwort geben, auch wenn diese nicht direkt eingezeichnet ist. Ein möglicher Schlüssel sind die direkten Eingänge olfaktorischer Informationen in den limbischen Kortex und die subkortikalen Strukturen. Molekulare Tags zur Generierung von visuellen und auditorischen Erinnerungen bedürfen primär der Aktivierung der Grosshirnrinde, die über den Thalamus zustande kommt. Anschliessend werden die Aktivitätsmuster in Richtung limbisches System und Hippocampus reduziert, müssen aber dabei zur Rekonstruktion eine minimale Menge molekularer Tags in den verschiedenen Assoziationsgebieten und im limbischen System hinterlassen. Fehlt diese molekulare Spur, kann das Gehirn kein kohärentes Gedächtnismuster aufbauen. Durch Umgehung des Thalamus kann aber das olfaktorische System Tags im Hippocampus und in limbischen Strukturen setzen, welche mit andern versprengten molekularen Tags einen Aufbau von komplexen Erinnerungen ermöglichen.

Falsche Erinnerungen

Die Psychotherapie kennt es: Erinnerungen sind nicht immer erfreulich, werden verdrängt oder durch neu erfundene ersetzt, ohne dass sich der Betroffene darüber klar ist. Gleichermassen sind Augenzeugen häufig unzuverlässig und können zu revidierten Erinnerungen manipuliert werden. Auch hier bietet das Modell zumindest eine Erklärungsmöglichkeit. Sowohl die Kompressionsvorgänge als auch die Rekonstruktion von mentalen Bildern sind fehleranfällig. Sogar bei der gewöhnlichen Bildverarbeitung können kleine Fehler auf der letzten Reduktionsstufe zu unerwarteten Rekonstruktionen führen (Abb. 8). Das wären dann die Schwachpunkte der immanenten Extrapolationsfähigkeit des Gehirns.

Abb. 8. Reduktion und falscher Wiederaufbau bei schlecht definierten Knotenpunkten

Fazit

Kann dieses extrem biologistische Modell für die Psychotherapie nützlich sein? Die Frage muss offen bleiben und hängt wohl von individuellen Ansichten und theoretischen Positionen ab. Zudem kann das Modell zwar einen heuristischen Nutzen aufweisen, aber doch in wesentlichen Punkten falsch sein – als Emeritus kann man das gelassen nehmen. Andererseits kann vorausgesagt werden, dass die molekulare Neurowissenschaft rasante Fortschritte macht. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Pharmakologen einen Weg finden, epigenetische Marker, die posttraumatische Stress- und Angstzustände lebenslang durch Fehlregulationen im limbischen System perpetuieren, durch medikamentöse Methylierung oder Demethylierung der Schaltstellen für hyper- oder hypoaktive Gene zu korrigieren. Aber damit würden sie nur molekulare Tags entfernen, und das Gehirn würde sofort beginnen, neue Muster und Konstellationen von Erinnerungen zu generieren. Das wäre aber der Zeitpunkt, bei welchem die Psychotherapie als uralte Heilform ihre Erfahrung zum Tragen bringen kann: Wenn altes, festgefressenes Gedächtnis aufgeweicht werden kann, muss jemand vorhanden sein, der die neuen Formen vorspurt und lenkt …

Anmerkung der Redaktion

Im Text zu den vorstehenden Abbildungen wird auf Farben Bezug genommen. In der Print Ausgabe konnten die Abbildungen nur in Grauabstufungen wiedergegeben werden. In der Online Ausgabe sind die Bilder farbig.

Autor

Hans-Peter Lipp, Dr. rer. nat. (Anthropologie und Neuroethologie) Universität Zürich. Postdoc-Ausbildung an der ETH Zürich (Verhaltensphysiologie), Universität Lausanne (Neuroanatomie), Massachusetts Institute of Technology (Neuroanatomie und Verhalten). Karriere vom Abteilungsleiter zum ordentlichen Professor am Anatomischen Institut der Universität Zürich, Spezialgebiet Neuroanatomie und Verhalten. Forschungsgebiete: Gehirn- und Verhaltensgenetik, Evolutionstheorie, computergesteuerte Verhaltensapparaturen, ökologische Hirnforschung, Navigation bei Brieftauben. Mitbegründer der International Behavioural and Neural Genetics Society, Leiter eines Kompetenzzentrums zur Analyse genetisch modifizierter Nager und Gründer eines Spin-off-Unternehmens (NewBehavior) für computergesteuerte Verhaltensanalyse von Mäusen im Sozialverband, aktuell Teilzeitprofessur an der University of Kwazulu-Natal in Durban, Südafrika. Publikationen im Jahr 2014 in den Zeitschriften „Journal of Experimental Biology“ (Gravity anomalies without geomagnetic disturbances interfere with pigeon homing: a GPS tracking study, mit N. Blaser u. a.), „Die Brieftaube“ (Warum Brieftauben verloren gehen: Gravitationsanomalien als Orientierungsfallen?), „Frontiers in Behavioral Neuroscience“ (A novel automated behavioral test battery assessing cognitive rigidity in two genetic mouse models of autism, mit A. Puscian u. a.) und „PLOS One“ (Temporal and contextual consistency of leadership in homing pigeon flocks, mit C. D. Santos u. a.).

Korrespondenz

E-Mail: hplipp@hispeed.ch

Literatur

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Lesky, E. (Hrsg.) (1979). Franz Joseph Gall, 1758–1828: Naturforscher und Anthropologe. Bern: Hans Huber.

Lipp, H.-P., & Wolfer, D. P. (1998). Genetically modified mice and cognition. Current Opinion in Neurobiology, 8, 272–280.

Sweatt, J. D., Meaney, M. J., Nestler, E. J., & Akbarian, S. (2013). An overview of the molecular basis of epigenetics. In: Sweatt, J. D., Meaney, M. J., Nestler, E. J., & Akbarian, S. (Hrsg.), Epigenetic regulation in the nervous system: basic mechanisms and clinical impact (S. 14–45). New York: Academic Press.

Takeuchi, T., Duszkiewicz, A. J., & Morris, R. G. (2014). The synaptic plasticity and memory hypothesis: encoding, storage and persistence. Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Series B, Biological Sciences, 369, 20130288.

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