Originalarbeit (Themenheft)
Peter Schulthess
Sozialisation und Emanzipation in der Politik – mit Bezug zur Psychotherapie
Zusammenfassung: Als Psychotherapeut und ehemaliger Kantonsrat beschreibt der Autor die Bedeutung einer Sozialisation mit dem Ziel der Emanzipation und Autonomieentwicklung in der Politik. Er zeigt, wie ambivalent die politische Praxis diesbezüglich ist. Er verbindet seine Ausführungen auch mit der Bedeutung des emanzipatorischen Aspektes der Psychotherapie und stellt die These auf, dass Psychotherapie von Politik nicht zu trennen ist. Wenn Psychotherapie Menschen verändert und emanzipatorisch wirkt, so hat das einen politischen Impakt. Er fordert die Psychotherapeuten auf, sich der politischen Bedeutung ihrer Arbeit bewusst zu sein und die eigenen Therapiekonzepte ideologiekritisch immer wieder auf unerkannte politische Einschlüsse aus dem Zeitgeist zu hinterfragen. Erkenntnisse der Therapeuten aus dem Sprechzimmer sollen auch in geeigneter Form öffentlich gemacht werden, nicht nur in Fachzeitschriften.
Schlüsselwörter: Psychotherapie, Politik, Emanzipation, Menschenrechte
Socialization and Emancipation in Politics – with reference to Psychotherapy
Summary: The author, in his role as psychotherapist and former member of the Cantonal Council, describes the meaning of socialization with the goal of emancipation and the development of autonomy in politics. In this regard he shows how ambivalent political practice is. He also links his submissions to the meaning of the emancipatory aspects of psychotherapy and puts forward the thesis that psychotherapy cannot be separated from politics. If psychotherapy changes people and works in an emancipatory way, then it has a political impact. He calls upon psychotherapists to be aware of the political meaning of their work and to be ideologically critical of their therapy concepts and to constantly question unknown political inclusions emerging from the spirit of our times. Therapists’ insights from the consulting room should be made public in an appropriate form, and this should not just be in professional journals.
Keywords: Psychotherapy, Politics, Emancipation, Human rights
Socializzazione ed emancipazione nella politica con riferimento alla psicoterapia
Riassunto: L’autore, psicoterapeuta ed ex-membro del Gran Consiglio, descrive il significato di una socializzazione finalizzata all’emancipazione e allo sviluppo dell’autonomia in politica, mostrando come sia ambivalente a questo riguardo la pratica politica. Collega le sue argomentazioni anche al significato dell’aspetto emancipatorio della psicoterapia e basa questa tesi sull’inseparabilità di psicoterapia e politica: se la psicoterapia cambia le persone e agisce in modo emancipatorio, ciò ha un impatto politico. L’autore esorta gli psicoterapeuti a essere consapevoli del significato politico del proprio lavoro e ad analizzare sempre criticamente rispetto all’ideologia i propri concetti terapeutici, considerando le implicazioni politiche dello spirito del tempo. Le cognizioni che il terapeuta sviluppa nella pratica all’interno del suo studio devono essere, in forma idonea, rese anche pubbliche non solo sulle riviste specializzate.
Parole chiave: Psicoterapia, Politica, Emancipazione, Diritti humani
Es ist nicht so häufig, dass sich ein Psychotherapeut auch auf dem Feld der Parteipolitik bewegt und in einem Parlament mitwirkt. Die Einladung, das Tagungsthema mit Bezug zur Politik zu beleuchten, gibt mir Gelegenheit, es so zu behandeln, dass auch auf die Wechselwirkung zwischen Politik und Psychotherapie hingewiesen werden kann.
Normierung als Bedrohung in der Politik
Politik meint im Kern ihrer Bedeutung die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch verbindliche Entscheidungen. Es geht um die öffentlichen Angelegenheiten, mithin also auch um die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Menschen und Subsysteme eines Gemeinwesens aufwachsen, partizipieren und mitgestalten können, darin reifen oder leiden. Der Soziologe Hans Peter Dreitzel (1972) hat einst hervorragend die Wechselwirkung der Leiden der Gesellschaft und des individuellen Leidens an der Gesellschaft herausgearbeitet. Ein Thema, das mich als Psychotherapeuten besonders ansprach und mich wohl auch motivierte, mich auch als Politiker dieser Wechselwirkung anzunehmen, nicht bloss als Psychotherapeut. Ein Politiker ist dem Sinne nach jemand, der sich der öffentlichen Angelegenheiten annimmt und in seiner politischen Tätigkeit an der Gestaltung der Bedingungen gesellschaftlichen Lebens mitwirkt.
Zu beachten sind verschiedene Aspekte. Menschen sind nicht einfach normierbare Einheiten einer Gesellschaft. Es gibt eine historisch gewachsene Vielfältigkeit der Menschen, nicht nur hierzulande, sondern in allen Kulturen und Gesellschaften. Es ist eine Frage der Normen und Werte einer Gesellschaft, ob die Verschiedenartigkeiten gewürdigt und gepflegt werden, oder ob ein Druck zur Normierung besteht, der auch krank machen kann. Aus dem Weltbild der humanistischen Psychologie wissen wir, dass jeder Mensch einzigartig ist und in seiner Einzigartigkeit einen Wert für die Gesellschaft bedeutet. In ihr soll er die Entwicklungsbedingungen erhalten, die ihn in seiner Einzigartigkeit fördern, um für die Gesellschaft nützlich sein zu können und in ihr Zugehörigkeit finden zu können. In jeder Gesellschaft findet sich auch eine durch Migration entstandene Vielfalt der Menschen, Kulturen, mit unterschiedlichen religiösen und kulturellen Werten. Diese können in Konflikt miteinander stehen. Wie gross ist die Integrationskraft einer Gesellschaft und wie gross die Kraft zur Aussonderung von Andersartigkeit, wie hoch der Druck nach Konformität und Gleichartigkeit? Was sind die Bedingungen, die Fremdes als gefährlich erscheinen lassen und nicht als etwas Bereicherndes? Die Angst vor Überfremdung ist verbunden mit der Angst des Verlusts der eigenen Identität, mit Orientierungsverlust und Wertbedrohung. Dies steigert sich, je vielfältiger eine Gesellschaft wird und je schneller durch Migrationsströme Veränderung erfolgt. Ein hochaktuelles Thema nicht nur in der Schweiz.
Vielfalt als kultureller Wert in einer Gesellschaft
In der Schweiz haben wir eine Vielfalt in der politischen Parteienlandschaft. Dies entfaltet einen Wettbewerb, eine Konkurrenz zwischen den Parteien um Macht und Einfluss. Das politische Parteienspektrum spiegelt die gesellschaftlichen Haltungen und Gegensätzlichkeiten, welche teils aber auch parteiintern in der Form von Flügelkämpfen in Erscheinung treten. Jedes politische System mit einer Parteienvielfalt öffnet das Feld für Polarisierung und Projektionen auf die jeweils anderen. Statt dass man das Ganze in seiner Widersprüchlichkeit und Polarität sieht und nach Lösungen sucht, bedienen Parteien oft nur einzelne Aspekte des Ganzen, um sich damit gegenüber den anderen Parteien zu profilieren. Dem wirkt in der Schweiz das Konkordanzsystem entgegen, das auf allen politischen Ebenen (Gemeinde, Kanton, Bund) die grösseren Parteien in die Regierung einbindet. Das ist ein markanter Unterschied zu Demokratieformen in anderen Ländern, in denen die grösste Partei jeweils Regierungspartei wird. Das Konkordanzsystem zwingt zum Diskurs beim Erlass von Regelungen wie auch bei deren Umsetzung.
So hart und plakativ der Polarisierungskampf zwischen den Parteien manchmal geführt wird, so konsensorientiert ist man hingegen in Sachkommissionen des Parlamentes im Hinblick auf die Mehrheitsfähigkeit von Regelungen. Dort ist dank des Kommissionsgeheimnisses (die Verhandlungen sind nicht öffentlich, im Unterschied zu den Parlamentsdebatten) eine bessere Möglichkeit gegeben, auch über Parteigrenzen hinweg Lösungen zu finden, da niemand „für die Presse“ reden muss.
Diese Aspekte schweizerischer Politik zeigen auf, wie sehr man darauf bedacht ist, dass Politik nicht zu einer Normierung über das Ganze führt. Kennzeichnend für die schweizerische Politik sind in der Regel ihr Pragmatismus und die Respektierung von Minderheiten in der Gesellschaft. Würde man diesen Umgang mit Minderheiten nicht pflegen, die Schweiz wäre in ihrer Gesamtheit als Staat und kohärente Gesellschaft über die Sprachregionen hinweg gefährdet. Was die Schweiz ja kennzeichnet und zusammenhält, ist unter anderem eine Gemeinsamkeit, dass man nicht zum jeweiligen grossen Nachbarn gehören will: Die Tessiner sind stolz, nicht Italiener, sondern Schweizer zu sein, die Romands nicht Franzosen, sondern Schweizer, und die Deutschschweizer nicht Deutsche, sondern Schweizer. Die Schweiz kann so als Oase derjenigen gesehen werden, die sich dem kulturellen und politischen Normierungsdruck der grossen Nachbarn entzogen haben und sich hierbei in einem föderalistischen System unterstützen. Geschichtlich gesehen: Bedeutet die Bildung der Schweiz einen emanzipatorischen Akt im Sinne einer Befreiung von Abhängigkeit und Wahrung oder Wiedergewinnung einer Autonomie in kleinerem Rahmen? Vor diesem Hintergrund muss wohl auch das Verhältnis der Schweiz zur EU gesehen werden. Eigentlich ja merkwürdig, dass inmitten Europas ein wirtschaftlich mit den benachbarten Ländern eng verflochtenes Land es sich leistet, nicht zur EU zu gehören, mit ihr aber über bilaterale Verträge verbunden zu sein. Der Preis für diese Wahrung von „Unabhängigkeit“ ist, dass man in der Europäischen Gesetzgebung nicht mitbestimmen kann, wohl aber diese nachzuvollziehen hat.
Wie wird man Politiker?
Zuvorderst ist wohl sicher das Interesse am Mitgestalten des grösseren Rahmens im gesellschaftlichen Leben. Oft beginnt eine Politikerkarriere auf Gemeindeebene, zum Beispiel in der Schulpflege oder in einer Sachbehörde, etwa der Sozialbehörde. Motiv ist oft die Bereitschaft, sich auf dem überschaubaren Gebiet der Gemeinde an ihrer Gestaltung zu beteiligen und nicht bloss in Vereinen. Meist führt der Weg dann zur nächsthöheren Ebene, in die man vordringen kann oder manchmal auch von Kollegen und Parteien etwas geschubst wird: Gemeinderat (Exekutive), kantonale Politik und später nationale Politik.
Ist ein Gemeindemandat noch ohne Parteizugehörigkeit möglich, so geht das nicht mehr auf kantonaler oder nationaler Ebene. Da braucht es eine Parteizugehörigkeit, um Wahlchancen zu haben. Und um von einer Partei aufgestellt zu werden, muss man sich einer Parteisozialisation unterziehen: Empordienen in einer Balance von Anpassung (Normierung durch die Partei) und Autonomie. Wer sich so bewähren kann als jemand, der die Partei auch prägt, nicht nur von ihr geprägt wird, kann damit rechnen, Beachtung und Rückhalt zu finden. Es ist ein feiner Prozess zwischen Anpassung und Emanzipation in dieser parteiinternen Sozialisation. Das spiegelt sich auch auf der sprachlichen Ebene: Man lernt, sich in der Begrifflichkeit der Partei auszudrücken, nutzt diese Begrifflichkeiten aber auch in einer Weise, die dehnbar wird und eigene Meinungen und Kritik zulässt. Wer sich als Politiker etablieren will, muss einerseits als Parteimitglied identifizierbar bleiben und andererseits ein Profil einer eigenständig denkenden Person aufweisen, die auch Brücken zu politisch Andersdenkenden schlagen kann. Gewählt wird man in der Regel nicht nur aufgrund von Stimmen aus der eigenen Partei, sondern mit den Stimmen von Wählern anderer Parteien, die einen trotz fremder Parteizugehörigkeit unterstützen wollen. Das fordert in gewisser Weise auch eine politische Mehrsprachigkeit.
Ob es wirklich jene Personen sind, die sich am besten emanzipiert haben und autonom sind, die unsere Geschicke bestimmen, oder manchmal eben doch die stromlinienförmigen Parteigänger, die sich durch Anpassung emporgedient haben?
Menschenrechtsdeklaration
Politik ist in einer Demokratie auch eingebettet in den grösseren Rahmen der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen. Diese wurde von der UNO-Generalversammlung am 10. Dezember 1948 beschlossen, im Nachgang zu den Geschehnissen während des zweiten Weltkrieges. Diese Deklaration umfasst 30 Artikel. (OHCHR, 1948)
Ich erlaube mir, daraus einige wenige, aber bedeutsame zu zitieren:
Diese Deklaration kann als metatheoretische Ethik des interkulturellen gesellschaftlichen Lebens verstanden werden, die den Rahmen dafür gibt, wie sich politische Systeme im Interesse einer Vielfalt und zum Schutz von Minderheiten in ihren nationalen Gesetzgebungen zu organisieren haben. Bemerkenswert ist, dass diese Deklaration über alle Grenzen von Kulturen und Grenzen von Nationen (soweit sie in der UNO vertreten waren) hinweg konsensual erlassen wurde. Eine grosse Leistung, die wohl nur unter dem Eindruck der weltweiten Kriegsgeschehnisse möglich war. Der besondere Wert dieser Deklaration ist, dass die Verletzung dieser Menschenrechte neu einklagbar wurde.
Ist es nicht eindrücklich, wie nahe diese zitierten Artikel den Werten der humanistischen Psychologie sind? Als Psychotherapeuten sind wir oft mit Menschen konfrontiert, deren Menschenrechte missachtet wurden. Unsere Arbeit besteht dann meist in der Verarbeitung der Erlebnisse auf individueller persönlicher Ebene und der Wiederherstellung von Würde. Die Politik hingegen kümmert sich um die gesellschaftliche Makroebene und hat im besten Fall zur Aufgabe, mit entsprechender Gesetzgebung und anderen politischen Interventionen dafür zu sorgen, dass solche Menschenrechtsverletzungen nicht straflos bleiben und sich im besten Fall nicht wiederholen können.
Demokratie
Was ist Demokratie? Dem Worte nach die Herrschaft des Volkes. Wie kann man sich das aber vorstellen? Wer ist das Volk? Wie ist „das Volk“ als Begriff zu fassen? Wer bestimmt, was der Wille des Volkes ist? Die sogenannten „Volks“parteien? Es gibt wohl wenige politische Begriffe, die so amorph und ideologisch ausbeutbar sind.
Gemäss Menschenrechtsdeklaration ist es ein Recht, dass sich alle Mitglieder einer Gesellschaft am politischen Prozess beteiligen dürfen, ungeachtet ihres Geschlechtes, ihrer Hautfarbe und ihrer Religion. Meint man das ernst, so müssen Sozialisation, Bildung (und Psychotherapie) darauf ausgerichtet sein, mündige, emanzipierte Menschen zu bilden, Menschen mit einer gewissen Autonomie, die sich mit Zivilcourage auch gegen Mehrheitsmeinungen stellen und anecken können. Aber: Ist ein Staat in der Tat an mündigen, emanzipierten Bürgern interessiert? Ist eine Partei wirklich daran interessiert? Ist es die Schule? Ist es ein psychotherapeutisches Weiterbildungsinstitut, eine sogenannte „Schule“? Hat man nicht doch lieber Bürgerinnen und Bürger, Parteimitglieder, Schülerinnen und Schüler, Ausbildungskandidatinnen und -kandidaten und Mitglieder des Lehrkörpers, die sich von politischen oder fachlichen Leitfiguren, von einer Leitperson, gut führen lassen? Lassen abhängige Leute, regredierte Personen, sich nicht besser führen als mündige, autonome und emanzipierte?
Es ist nur zu gut bekannt, dass Politiker und Politikerinnen selten halten, was sie vor der Wahl versprechen. Zu gross ist der Druck von Lobbyisten, von Wirtschaft und auch eigenen Interessen, nicht zuletzt jenem der einmal gewonnenen politischen Macht, die man nicht mehr abgeben möchte (Schielen auf die Wiederwahl). Ganz verdreht wird es, wenn Politiker verkünden, im Interesse des Volkes zu handeln, ohne dieses je gefragt zu haben und ohne sich Rechenschaft darüber abzugeben, welches Volk man meint.
Mir ist von keiner Partei bekannt, dass sie Bildungsanstrengungen zur Förderung der Autonomie ihrer Funktionäre und Parlamentsabgeordneten unternehmen würde. Eher will man sie so bilden, dass sie auf Parteilinie kommen und sich dieser ideologisch unterziehen. In Parlamenten nennt man das dann „Fraktionsdisziplin“: Fraktionsmitglieder werden gehalten, mit der Fraktion zu stimmen, auch wenn sie persönlich eine abweichende Haltung haben. Je nach Bedeutung eines Geschäftes braucht es viel Zivilcourage, trotzdem abweichend zu stimmen. Oft besteht die salomonische Lösung darin, dass man dann gerade nicht im Ratssaal ist oder sich als Kompromiss im Loyalitätsdilemma der Stimme enthält.
Und dennoch hat das partizipative System der Demokratie, wie es in der Schweiz umgesetzt ist, in der Politiker nicht bezahlt werden, sondern bis in hohe Chargen im Milizsystem arbeiten (das heisst in Teilzeit, ohne die angestammte Berufstätigkeit aufzugeben), einen hohen Wert als „Kontrolle durch das Volk“. Die Beteiligung unterschiedlicher Kräfte in Parlament und Regierung fördert die Konsenssuche und eine pragmatische Lösungsorientiertheit. Sie gewährleistet auch am ehesten, dass Minderheitspositionen beachtet werden, etwas für das fragile Konglomerat der „Confoederatio Helvetica“ äusserst Wichtiges.
Psychotherapie und Politik: eine Wechselwirkungsbeziehung
Politik und Psychotherapie sind voneinander nicht zu trennen. Wenn Psychotherapie einen Beitrag zur Emanzipation der Menschen leistet, dann ist sie eine gesellschaftsverändernde Kraft und damit politisch (Schulthess, 2006a, 2009). Auch die Psychotherapie hat sich zu hinterfragen, wie weit sie emanzipatorisch wirkt oder wie weit sie Abhängigkeiten fördert, Menschen durch reine Symptombehandlung und Medikation an ein System anpasst, welches es eigentlich zu verändern gälte. Das kurative Interesse der Psychotherapie (Heilung von Krankheit) ist vom emanzipatorischen (Förderung einer Persönlichkeitsentwicklung zu Autonomie und sozialer Verantwortungsfähigkeit) nicht zu trennen. Die Psychotherapie ist eingebettet in einen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Rahmen, und damit Teil der Gesellschaft, Teil des Systems und damit auch Teil des Problems. Es braucht eine hohe Anstrengung unseres Berufsstandes, trotz dieser Eingebundenheit nicht im grösseren System durch Anpassung aufzugehen, sondern die Wechselwirkung der subjektiven Leiden an der Gesellschaft und der Leiden der Gesellschaft im Auge zu behalten und einen Therapieprozess so zu führen, dass auch die Fähigkeit erwächst, auf das System, zu welchem man gehört (Familie oder anderes), verändernd so einzuwirken, dass weniger Leiden entsteht. Das wäre dann auch nachhaltige Heilung durch Emanzipation und Persönlichkeitsentwicklung.
Eines der Ziele einer Psychotherapie und einer Psychotherapeutenausbildung muss es sein, die Fähigkeit zur Partizipation am gesellschaftlichen Leben zu erlangen, wo diese verloren ging oder nie bestand (Schulthess, 2006b)
Therapierichtungen haben sich meines Erachtens auch immer wieder ideologiekritisch zu hinterfragen, inwieweit ihre theoretischen Prämissen, Konzepte und Methoden haltbar oder zu revidieren sind. Kein Konzept kann für ewig gelten, will es nicht erstarren. So wie Menschen sich entwickeln, Gesellschaften, die Wissenschaft usw., so sind auch Therapierichtungen als in stetiger Entwicklung befindlich zu sehen. Etwas bange ist mir jeweils, wenn ich vernehme, wie Weiterbildungsinstitute an ihren Führungspersönlichkeiten hängen, oder wenn Therapierichtungen sich allzu zeitgeistig allen möglichen Varianten der Esoterik öffnen, ohne sich Rechenschaft darüber abzugeben, ob das, was man an emanzipatorischem Ziel hoch hält, nicht gerade aufgehoben wird durch neue Abhängigkeitskonzepte.
PsychotherapeutInnen tragen eine politische Verantwortung. Ich erinnere mich gerne an eine Eröffnungsrede einer Zürcher Stadträtin zu einer Psychotherapietagung. Sie meinte, die Psychotherapeuten seien die Spezialisten des individuellen Leidens an der Gesellschaft. Sie würden in ihren Sprechzimmern mehr über die subjektive Befindlichkeit der Bevölkerung einer Stadt hören als je ein Politiker, auch wenn der (oder die) sich noch so volksnah gibt. Andererseits seien die Politiker jene Leute, die sich um die Regelungen des gesellschaftlichen Lebens kümmern würden und oft Entscheidungen träfen, von denen sie nicht wüssten, welchen Effekt sie auf das subjektive Leiden hätten. Sie begründete damit, wie wichtig es wäre, dass die Psychotherapeuten sich nicht nur unter sich austauschten. Sie forderte sie auf, ihre Erkenntnisse in den öffentlichen Raum zu bringen. Nicht nur in Fachorganen solle publiziert werden (die lesen die Politiker meist nicht), sondern in Tageszeitungen und anderen geeigneten Foren. Die Politik sei darauf angewiesen, zu hören, was die Leiden an der Gesellschaft seien, um zu sehen, was sie in Form von Regelungen auf Gesetzes- und Verordnungsebene ändern könne.
Als Psychotherapeut in der Politik
Eines meiner Motive, nebst meiner psychotherapeutischen Tätigkeit auch eine politische Tätigkeit aufzunehmen, bestand bestimmt darin, nicht nur in meiner Praxis an der Verringerung individuellen Leidens zu arbeiten, sondern meine Fähigkeiten auch einzusetzen, am gesellschaftlichen politischen System etwas zu ändern, nicht mehr nur durch Projektarbeit im psychosozialen Bereich, sondern später auch durch Parteiarbeit und parlamentarische Tätigkeit. Ich wollte nicht nur standespolitisch für den Berufsstand der Psychotherapeuten wirken, sondern auch im weiteren Rahmen auf die gesellschaftlichen Lebensbedingungen einwirken. Zudem wollte ich die klassische Spaltung in „Gut“ (wir Psychotherapeuten) und „Böse“ (die Politik) aufheben, indem ich mich auf beiden Seiten bewegte. Das war hüben wie drüben nicht ganz spannungsfrei. Wie weit konnte man mir trauen?
Als Psychotherapeut, Politiker und Bürger sehe ich mich der Umsetzung und Wahrung der Menschenrechte verpflichtet. Die Gestalttherapie ist sich ihrer sozialen Verantwortung aufgrund ihrer Konzepte besonders bewusst. In der EAGT (European Association for Gestalt Therapy) wurde vor einigen Jahren während meiner Präsidentschaft ein Komitee „Human Rights and Social Responsibility“ gebildet. Die Mitglieder der EAGT äufnen durch einen freiwilligen Zuschlag auf ihren Mitgliederbeitrag einen Fonds zur Finanzierung von Projekten dieses Komitees. Derzeit fördert das Komitee die Vorbereitung von ehrenamtlichen Mitarbeitern der Peace Brigades International, offeriert unentgeltlich Supervision und allenfalls auch Therapie während und nach dem Einsatz. In der Ukraine werden Psychotherapeuten gratis weitergebildet zur Behandlung kriegstraumatisierter Menschen. In Athen wird eine Institution, welche in der Betreuung von Flüchtlingen tätig ist, gratis unterstützt mit jährlichen Workshops zur Psychohygiene und Fortbildung.
Ein schönes Modell, wie Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen ihr Wissen und Können Menschen zur Verfügung stellen, die in Freiwilligenarbeit ihrerseits im Sinne der Menschenrechte tätig sind.
Autor
lic. phil. Peter Schulthess ist eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut und arbeitet seit 1976 in eigener Praxis in Zürich. Er ist Past President der EAGT. Als Vorsitzender der Schweizer Charta für Psychotherapie ist er Vorstandsmitglied der ASP. In der EAGT ist er Mitglied des Committee for Human Rights and Social Responsibility. Er war von 2003 bis 2011 für die sozialdemokratische Partei im Kantonsrat Zürich tätig. Er hat verschiedene Beiträge zum Verhältnis von Psychotherapie und Politik veröffentlicht. Ein weiteres Aktivitätsfeld ist die Psychotherapieforschung: Er koordiniert die Charta-Praxisstudie ambulante Psychotherapie Schweiz (PAP-S) und ist Vorsitzender des Wissenschafts- und Forschungskomitees der EAP (European Association for Psychotherapy).
Korrespondenz
Bergstrasse 92
8712 Stäfa
E-Mail: peter@pschulthess.ch
Literatur
Dreitzel, H. P. (1972). Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft, 2. Aufl. Stuttgart: Enke.
OHCHR [Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights] (1948). Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Genf: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights. Verfügbar unter:
http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger
Schulthess, P. (2006a). Zum Verhältnis von Psychotherapie und Politik. Psychotherapie Forum, 14, 96–101.
Schulthess, P. (2006b). Die Fähigkeit zur sozialen und politischen Verantwortung als gestalttherapeutisches Ziel. Gestalttherapie, 20(1), 34–45.
Schulthess, P. (2009). Gestalt und Politik. In: Schulthess, P., & Anger, H. (Hrsg.). Gestalt und Politik (S. 45–69). Bergisch Gladbach: EHP.
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