Originalarbeit (Themenheft)

Ueli Mäder

Sozialisation und Emanzipation in der Soziologie

Zusammenfassung: Die Soziologie untersucht als kritische Wissenschaft, wie die Gesellschaft funktioniert. Sie analysiert den sozialen Wandel sowie bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und Machtgefüge. Dabei interessiert, was zu unterschiedlichen Lebenslagen führt und wie sich die einseitige Verteilung vorhandener Güter auswirkt. Die Soziologie geht von demokratischen Prämissen aus. Sie orientiert sich an der sozialen Teilhabe und Existenzsicherung aller Menschen. Der vorliegende Beitrag konkretisiert, wie die Soziologie aktuelle Prozesse der Individualisierung, Prekarisierung und Flexibilisierung analysiert und wie sie auf die finanzgetriebene Politik reagiert, die sich seit Ende der 1980er-Jahre verbreitet. Als Aufhänger dient das hohe Ausmass depressiver Erkrankungen. Das Ziel besteht darin, mit gründlichen Analysen dazu beizutragen, eine emanzipatorische Sozialisation zu fördern und soziale Lebenslagen von Benachteiligten zu verbessern.

Schlüsselworte: Soziologie, Sozialisation, sozialer Wandel, soziale Ungleichheit, Individualisierung, Prekarisierung, Flexibilisierung, Depression, Emanzipation.

Socialization and emancipation in sociology

Summary: Sociology as a critical science examines the workings of society. It analyses social change as well as the existing societal relations and power structures. Sociologists are interested in the ways that lead up to different life situations and the results of unequal distribution of available resources. Sociology uses demographic premises as a starting point and then gets its orientation from social shares and participation as well as livelihood security. The present contribution substantiates sociological analyses of the current processes of individualisation, insecurity and flexibility and its reaction to the financial-driven politics that have dominated since the end of the 1980s. The high rate of depressive disorders was used as an indicator. The aim was, with thorough analysis, to contribute to the advancement of emancipatory socialization and so improve the social situation of the disadvantaged.

Keywords: sociology, socialization, social change, social inequality, individuality, insecurity, flexibility, mental illness, emancipation.

Socializzazione ed emancipazione nella sociologia

Riassunto: La sociologia esamina in modo critico il funzionamento della società. Essa analizza il mutamento sociale e i rapporti sociali esistenti nonché il relativo equilibrio dei poteri economici interessandosi in particolare a cosa porta a differenti situazioni sociali e alle conseguenze della distribuzione ineguale dei beni disponibili. La sociologia parte da premesse democratiche. Si orienta alla partecipazione sociale e alla garanzia della sussistenza per tutte le persone. Il presente contributo concretizza come la sociologia analizza gli attuali processi di individualizzazione, precarizzazione e flessibilizzazione, e come essa reagisce alla politica in balia della finanza che si sta diffondendo dalla fine degli anni 1980. Il testo è incentrato sull'elevato numero di casi di malattie depressive. L'obiettivo è contribuire, attraverso analisi approfondite, al promovimento di una socializzazione emancipatoria e al miglioramento delle condizioni sociali di persone svantaggiate.

Parole chiave: sociologia, socializzazione, mutamento sociale, disuguaglianza sociale, individualizzazione, precarizzazione, flessibilizzazione, depressione, emancipazione.

„La Fatigue d’être soi“, so heisst eine beachtliche Studie. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg (1998) verfasste sie. Er thematisiert das Phänomen der Depression, das aus seiner Sicht zeitgenössische Gesellschaften charakterisiert. Depressionen rücken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark ins Bewusstsein. Ehrenberg deutet sie als Symptom für die Schwierigkeit, man selbst zu sein. Was als individuelles Problem erscheint, ist aus seiner Sicht stark gesellschaftlich geprägt. Und das steht hier im Vordergrund. Wir fragen, wie sich der soziale Wandel vollzieht, was ihn kennzeichnet und wie die Soziologie darauf reagiert.

Wichtige Einrichtungen wie die Familie und die Schulen verlieren an Bedeutung. Sie sind laut Ehrenberg (1998), je länger diese Tendenz andauert, desto weniger in der Lage, verbindende Normen zu vermitteln. Wer sich an welchen Werten orientiert, hängt zunehmend von je unterschiedlichen Bezugsgruppen ab. Darunter leidet eine übergreifend kollektive Haltung, die einen gewissen Halt und vielleicht sogar einen sozialen Sinn vermittelt. So sieht sich das Individuum stärker auf sich selbst zurückgeworfen. Dies allerdings kaum freiwillig. Zwar gelingt es vielen, die Not in eine Tugend zu verkehren und einen unternehmerischen Geist zu entfalten. Aber frei gewählt ist diese Entwicklung selten. Vielmehr dominiert ein übergreifender „Gang der Dinge“. Alle scheinen ihr eigenes Glück zu schmieden. Und wo guter Wille vorhanden ist, zeigt sich auch ein Weg; da geht bestimmt eine Türe auf, heisst es. Die persönliche Leistung entscheidet. Und wer unter diesen Bedingungen nicht reüssiert, ist selber schuld. Dieser Druck belastet Individuen. Und er lastet auf vielen offenbar schwer. Davon zeugen nicht nur Depressionen, sondern auch andere Erkrankungen. Und die Korrelation ist relativ einfach. Je tiefer die Einkommen sind, desto höher fallen die gesundheitlichen Beeinträchtigungen aus (Mäder & Schmassmann, 2012).

Das Manko an materieller Sicherheit bringt viel Stress und Verunsicherung mit. So erhöht sich die Anfälligkeit für psychische Probleme. Dies auch deshalb, weil gewohnte Krücken wegbrechen, wie Ehrenberg (1998) betont. Er meint damit den äusseren Halt, der Menschen konkret vermittelt, wie sie sozial interagieren können. Auf sich gestellt benötigen sie jedenfalls viel Energie dafür, um das Nötigste zu sichern, was ermüdet und erschöpft. Dies vor allem dann, wenn ökonomische und soziale Ressourcen fehlen. Und dazu gehören ebenfalls positive Erfahrungen in der Kindheit. Ein aufmerksames Umfeld ist ebenso wichtig wie eine breite Bücherwand. Wenn ein Kind kaum danach gefragt wird, was es erlebt hat und wie es ihm geht, dann verstummt es. Das Kind verlernt so, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und zu artikulieren. Und für eine liebevolle Atmosphäre sind doch die Eltern zuständig. Sie können die Kinder in die Arme nehmen und ihnen Raum bieten, sich auszudrücken und freiheitlich zu bewegen; wobei die Möglichkeiten der Eltern auch davon abhängen, was die Gesellschaft aus ihnen macht. Und darum geht es hier.

Im vorliegenden Beitrag stehen soziologische Debatten über soziale Veränderungen im Vordergrund. Sie reagieren auf die Ökonomisierung wichtiger Lebensbereiche, auf soziale Ungleichheiten und darauf, wie sich die Gesellschaft individualisiert, prekarisiert und flexibilisiert. Danach folgt, etwas systematisiert, was aktuelle Prozesse übergreifend charakterisiert und welche sozialen Perspektiven sinnvoll weiterführen könnten. Dies im Sinne einer emanzipatorischen Soziologie.

Individualität und zwiespältige Freiheit

Die Individualisierung kennzeichnet den sozialen Wandel. Sie ist oft negativ als Vereinzelung konnotiert. Soziologisch meint die Individualisierung zunächst das eigentlich emanzipatorische Ausbrechen aus traditionellen Gefügen und Zwängen. Das Individuum gilt als quasi kleinste Einheit im gesellschaftlichen Ganzen. Eine häufige Deutung favorisiert das Individuum gegenüber dem Kollektiv. Auf das Individuum sind auch Nutzen optimierende Kalküle fokussiert. Und der Individualismus verabsolutiert die Individualität. Die Individualisierung umfasst einen anhaltenden Prozess, in dem sich das Individuum als bewusstes Subjekt konstituiert. Der Prozess der Individualisierung steht im Kontext der Modernisierung. Der Soziologe Ulrich Beck (1986) unterscheidet die industrielle von der reflexiven Moderne.

Beck (1986) geht von der „Risikogesellschaft“ aus. Er sieht sie als Produkt der Moderne. Sie dokumentiert den bruchartigen Übergang von der industriellen zur reflexiven Moderne. Neue, selbst geschaffene Risiken (Umweltbelastung) überlagern alte Klassengefüge (Bourgeoisie, Proletariat). Technische Fortschritte zeitigen unerwartete Nebenfolgen. Ökologische Bedrohungen kumulieren sich und relativieren Fragen von arm und reich. Viele Umweltprobleme sind kaum fassbar und daher umso schwieriger zu bewältigen; zumal mehr Wissen die Probleme nicht einfach löst, sondern vor allem auch mehr offene Fragen aufwirft. Das verunsichert viele Menschen. Beck (1986) kennzeichnet die industrielle Moderne als zweckrationale. Vordergründige Klarheiten prägen das ultimative Entweder-oder-Denken. Anders verhält es sich in der reflexiven Moderne. Hier antizipieren Menschen ihre Zukunft. Sie erkennen, was passiert, wenn soziale Nebenfolgen dominieren und ökologische Schäden auf jene zurückfallen, die sie verursachen. Dann wird es gefährlich. Und diese Einsicht fördert nach Beck die Bereitschaft, sich zu engagieren. Das ist eine zuversichtliche Option.

Im Wesentlichen geht es bei der Individualisierung darum, dem einzelnen Menschen neue Möglichkeiten zu eröffnen, die ihn unterstützen, sich aus kollektiven Zwängen und eng geführten Zuschreibungen zu befreien. Als Kehrseite erweist sich die zunehmende Erfahrung von Ungewissheit, Angst und Unsicherheit. Hinzu kommt der Appell, noch mehr Selbstverantwortung zu übernehmen. Menschen müssen vornehmlich die Fähigkeit erwerben, sich anzupassen. Dazu gehören, nebst Selbstbeherrschung, psychische und affektive Flexibilität. Früher standen Disziplin und Gehorsam im Vordergrund. Heute sind es mehr eigene Erwartungen und dauernde Veränderungen, Flexibilität, Hektik und Geschwindigkeit. Die Individualisierung kommt in einem neuen institutionellen Gefüge daher. Sie etabliert ein offenes Modell, das sanft erscheint und alle Lebensbereiche durchdringt. So normiert die Individualisierung auch private Bereiche. Sie propagiert die Selbstverwirklichung und reagiert irritiert, wenn Individuen just das als psychische Belastung erleben.

Sozialwissenschaftliche Ansätze diskutieren das Paradigma der Individualisierung recht kontrovers. Beck (1986) betont vor allem die emanzipatorische Dimension der Individualisierung, Sennett (1977) die Fragilität und Verunsicherung. Dem akzentuierten Zugewinn an Autonomie und Reflexivität stellt er den Verlust durch Isolation und soziale Risiken entgegen. Sennett (1977) diskutiert neue Formen der „Tyrannei der Intimität“, die den früheren Geborgenheits- und Wir-Zwang kontrastieren. Sie überlagern die ganze Gesellschaft und führen zu einem Zerfall und Ende der Öffentlichkeit. Der neue Ego-Kult steigert narzisstische Prägungen. Der Philosoph Christopher Lasch (1979) beschreibt das Zeitalter des Narzissmus. Er veranschaulicht auch, wie das isolierte Ich ganz besonders auf andere angewiesen ist. Die narzisstische Persönlichkeit fühlt sich zwar illusionär allmächtig, sie ist aber von viel Bestätigung abhängig, um sich selbst zu achten. Sie benötigt ein Publikum, das ihr Beifall zollt. Das Echo hilft ihr, zu leben. Sie ist nur scheinbar frei und steht, von familiären Bindungen und institutionellen Zwängen gelöst, nicht wirklich auf eigenen Füssen. So hält sich auch die Freude über die erlangte Individualität in Grenzen. Zu gross ist die Verunsicherung. Eine gewisse Genugtuung kommt auf, wenn das grandiose Ich äussere Aufmerksamkeit erhält. Die permanente ängstliche Selbstbeobachtung schränkt die eigene sinnliche Wahrnehmung ein. Und weil genug nie genug ist, enttäuschen unabdingbare Frustrationen die überhöhten narzisstischen Erwartungen. Sie veranlassen Gekränkte, sich entweder ins Schneckenhaus zu verkriechen oder vorwärts in Richtung neue Omnipotenz zu flüchten.

Alain Ehrenberg (1998) deutet die epidemische Ausbreitung depressiver Erkrankungen in der Gegenwart. Er beschreibt die Depression als Reaktion auf einen bindungslosen Individualismus. Sie dokumentiert für ihn die Überforderung, die sich aus der insgeheim fremdbestimmten, allgegenwärtigen Erwartung an das Individuum ergibt, das Leben autonom und selbstbestimmt zu gestalten. Der Individualismus verweist auf soziale Normen, die als feiner Zwang daherkommen. Wer ihnen nacheifert und nicht genügt, reagiert oft pathologisch. Ehrenberg (1998) differenziert dabei zwei Zeitalter des zeitgenössischen Individualismus. In den 1960er- und 1970er-Jahren dominierte die Norm der personalen Identität. Du musst du selbst sein, so lautete die Botschaft. Daraus resultierte bei etlichen eine stark verunsicherte Identität. In den 1980er-Jahren kam ergänzend die Norm des individuellen Handelns auf. Sie verbreitete die Aufforderung, erfolgreich zu sein. Und weil das angeblich alle können, wenn sie wollen, erhöhte sich die Angst vor dem Scheitern. Wer nicht mithält, ist out. Das wirkt. Schliesslich möchten alle dazu gehören.

Soweit Hinweise darauf, wie sozialwissenschaftliche Ansätze die Individualisierung thematisieren. Sie tun dies oft etwas dualistisch und mechanistisch. Sie strapazieren die bestehenden Gegensätze von alt und neu, traditionell und modern, individuell und kollektiv, individualistisch und ganzheitlich. Bei näherer Hinsicht weichen sich die reduktionistischen Schemata auf. Gefragt sind differenzierte Zugänge. Und zwar mit Blick auf individuelle Potenziale, die sich stimmig entfalten lassen. Nämlich so, dass die Ressourcen immer wieder regenerieren. Aber das erfordert auch strukturelle Rahmenbedingungen. Sie sind entscheidend. Wichtig sind auch neue Formen sozialer Disziplinierung und Kontrolle. Sie prägen mit, wie sich die Individualisierung auswirkt.

Prekarität und mangelnde Stabilität

Prekarität bedeutet Fragilität und Instabilität. Sie drückt den Mangel an Perspektive aus und bündelt die Risiken von Armut und Exklusion. Der direkte Bezug führt zum Arbeitsmarkt, der immer mehr Menschen ausschliesst. Und damit reicht die Prekarität über die Gruppen unmittelbar Betroffener hinaus (Mäder & Schmassmann, 2012). Die forcierte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bedroht zahlreiche Menschen mit Ausschluss. Die Prekarität reicht über klar lokalisierbare Gruppen hinaus. Sie verunsichert und ruft nach mehr Geborgenheit. Und das inmitten einer relativ gut abgesicherten Wohlstandsgesellschaft. Die Suche nach Stabilität verweist auf neue Formen der Labilität. Die Unsicherheit ist die Kehrseite unserer Sicherheitsgesellschaft. Unsere Moderne verlangt viel Mobilität und Flexibilität, was etliche Individuen darin überfordert, ihre Verletzlichkeit zu schützen und für ihre Existenz zu sorgen.

Mit der Prekarität verbreitet sich ein diffuses Unbehagen. Bourdieu (1993) beschreibt, wie das Elend lagebedingt und positionsbedingt ist. Die lagebedingte Not resultiert aus dem alltäglichen Leiden und der Erfahrung gesellschaftlicher Minderwertigkeit. Sie kommt im Gefühl der Individuen zum Ausdruck, nur ungenügend Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren. Das positionsbedingte Elend bezieht sich auf die Perspektive jener, die es unmittelbar erfahren. Sie bleiben in den Grenzen des Mikrokosmos gefangen. Aus der Perspektive des Makrokosmos erscheint das Elend als relativ oder irreal. Der Vergleich mit dem grossen Elend führt zu Redewendungen wie: „Du kannst dich nicht beklagen. “ Oder: „Es gibt Schlimmeres!“ Der Blick auf die grosse Not hindert daran, konkretes Leiden wahrzunehmen und Menschen zu verstehen, die sich davor fürchten, weder zu genügen noch anerkannt zu sein.

Die Prekarität hat unterschiedliche Bedeutungen. Die eine Bedeutung, zu der auch Gefühle des Mangels gehören, bezieht sich vor allem auf den nachlassenden Schutz vor sozialen Risiken wie Armut und Arbeitslosigkeit. Eine andere Bedeutung verweist auf gesellschaftliche Verhältnisse und dominante Formen der Herrschaft. Prekarität resultiert in der ersten Bedeutung aus dem Verlust sozialer Unterstützung. In der zweiten konstituiert sie sich aus einer zugeschriebenen Deklassierung. Diese führt zu viel Leid und seelischer Not. Sie beinhaltet den Verlust von Selbstvertrauen und das Gefühl von Nutzlosigkeit. In der einen wie der anderen Bedeutung handelt es sich um eine Bedrohung, die das Individuum und seine Angehörigen belastet. Die berufliche Prekarität hat zudem viel mit der verlangten Mobilität und Flexibilität zu tun. Und sie verletzt die Integrität benachteiligter Personen.

Die Prekarität verweist, wie eingangs erwähnt, auch auf das Verhältnis zur Beschäftigung und damit auf die Absicherungslogik des Wohlfahrtsstaats. Werktätige sind in einer prekären Lage, wenn ihre Beschäftigung unsicher wird und ihre berufliche Zukunft ungewiss ist. Das ist etwa bei Beschäftigten der Fall, die nur einen befristeten Arbeitsvertrag haben, aber auch bei denjenigen, die permanent von Kündigung bedroht sind. Das bedeutet für sie eine starke ökonomische Verwundbarkeit und eine partielle Einschränkung sozialer Rechte, die sich einseitig an der Erwerbsarbeit orientieren. Prekär Beschäftigte leiden auch statusmässig unter ihren herabgesetzten Positionen, wie sie der Wohlfahrtsstaat hierarchisch definiert. Sie leiden ebenfalls, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Arbeit nicht von Belang, schlecht bezahlt und innerhalb des Unternehmens wenig anerkannt ist. Wer wenig Wertschätzung erhält, entwickelt leicht das Gefühl, mehr oder weniger unnütz zu sein. Der derzeitige Wandel der Arbeit bringt so viel Prekarität mit sich. Er verlangt von den Menschen auch mehr Flexibilität.

Flexibilität und bedrohte Identität

Flexibilität heisst der neue ökonomische Imperativ. Mutationen des Kapitalismus drängen seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert darauf. Das Entfesseln unternehmerischer Freiheit brachte mehr befristete Beschäftigungen, Teilzeit- und Minijobs mit sich. Das Aufweichen vertraglicher Vereinbarungen sollte ferner die Effizienz der Produktion steigern. Wer davon profitiert, bezeichnet die Flexibilität gern als Motor unternehmerischer Innovation und Emanzipation. Sie befreit nach dieser Sicht von bürokratischen Zwängen. Eine Flexibilisierung ohne kollektive Steuerung unterläuft jedoch soziale Sicherungen und auch den Einfluss der Gewerkschaften. Sie belastet zudem die Psyche und Gesundheit. Wer einseitig abhängig ist, hat weniger Boden unter den Füssen. Sennett (1998) befragte Beschäftigte im High-Tech-Sektor. Er betrachtet die Flexibilisierung als Bedrohung der Identität (corrosion of character) und postuliert eine neue Kultur sozialer Anerkennung. Das ist gewiss wichtig, aber in den Kontext sozialer Ungleichheiten zu stellen. Denn diese verschärfen die sozialen Folgen der Flexibilisierung beträchtlich.

Die soziale Unsicherheit kehrt in reiche Gesellschaften zurück. Quasi normale Arbeitsverhältnisse erodieren. Mit „Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung“ bezeichnen Castel und Dörre (2009) die soziale Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie beschreiben die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit, an der unzählige Menschen in westeuropäischen Ländern leiden. Seit dreissig Jahren wird diese Erfahrung wieder vermehrt gemacht. Bis Mitte der 1970er-Jahre profitierten die Lohnabhängigen vom sozialen Kompromiss des industriellen Kapitalismus. Seither sind die Individuen immer mehr auf sich selbst gestellt. Sie leben „von der Hand in den Mund“ und bangen um ihre Zukunft. Viele Erwerbstätige erfahren schmerzlich, wie sich die Arbeitsorganisation individualisiert. Die verordnete Flexibilität bedroht ihre Identität.

Regimewechsel und soziale Gegenätze

Seit Ende der 1980er-Jahre setzt sich in der Schweiz ein finanzkapitalistisches Regime durch, das soziale Gegensätze legitimiert, Kapitalgewinne forciert und die wirtschaftliche Macht weiter konzentriert. Nach dem Zweiten Weltkrieg tendierte der politisch liberale Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit immerhin noch zu einem beschränkten sozialen Ausgleich. Mit dem Aufschwung des angelsächsischen Neoliberalismus verbreitete sich eine neue Markt- und Kapitalgläubigkeit. Der Markt scheint den Wert der Arbeit zu bestimmen. Seither verstärken sich vier Trends. Erstens nimmt die Erwerbslosigkeit zu. Wenn Maschinen manuelle Arbeit ersetzen, könnte uns das zwar mehr Zeit und Geld bescheren. Zumal die Produktivität steigt. Es hapert aber mit der Verteilung. Zweitens halten Teile der nominell steigenden Löhne mit den Lebenshaltungskosten nicht Schritt. Das führt vor allem zu mehr erwerbstätigen Armen („Working Poor“). Drittens orientiert sich das überforderte System der sozialen Sicherheit einseitig an der Erwerbsarbeit. Es ignoriert auch neue Lebenslagen. So geraten viele Alleinlebende, Alleinerziehende und Familien mit Kindern in Bedrängnis. Dies auch deshalb, weil die Schweiz seit dem Jahr 2004 trotz enorm steigenden Reichtums weniger Anteile ihres Bruttoinlandproduktes für die soziale Sicherheit bereitstellt (Bundesamt für Sozialversicherungen, 2014). Viertens erhöht sich die soziale Kluft zwischen den verfügbaren Einkommen und den privaten Vermögen (Mäder et al., 2010). Und das politisch demokratische Korrektiv ist nicht in der Lage, die soziale Polarisierung zu verhindern.

Trotz erheblicher sozialer Gegensätze verschieben soziologische Debatten (schon seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts) ihre Akzente zu sozialen Fragen von strukturellen zu individuellen Sichtweisen. Was einst als Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung galt, wird heute eher selten thematisiert. Der Blick verlagerte sich von der vertikalen Ebene, bei der es noch ein Oben und Unten gab, zur horizontalen. Modelle sozialer Milieus betonen die Lebensauffassung, den Lebensstil und die Wertorientierung. Sie weisen zwar auf wichtige soziale Differenzierungen hin, vernachlässigen aber die Analyse klassenbedingter Gegensätze, auf die sich eine kritische Sozialwissenschaft konzentrieren sollte. Dies mit dem normativen Ziel, mit gründlichen Analysen dazu beizutragen, eine emanzipatorische Sozialisation zu fördern und soziale Lebenslagen von Benachteiligten zu verbessern.

Soziale Perspektiven und Selbstverständnis

Castel (2003) beschreibt das sukzessive Abhängen von Prekarisierten als kollektive Entkoppelung. Betroffene reagieren mit Ressentiments darauf. Aber das reicht nach seiner Einschätzung nicht aus, um eine widerständige Kultur zu begründen. Wacquant (2009) weist indes auf zunehmende Unruhen von Ausgegrenzten hin. Er deutet sie als Wiederkehr des Verdrängten. Die Gewalt von unten entsteht aus der Deklassierung. Sie ist ein Aufstand gebrochener Herzen. Nach unseren eigenen Studien zur sozialen Ungleichheit weisen heute etliche Anzeichen darauf hin, dass sich bei sozial Benachteiligten die Resignation teilweise in Empörung verkehrt. Die Wut kann die Bereitschaft fördern, sich mehr für eigene Interessen einzusetzen. Sie kann aber auch die Gefahr erhöhen, Halt bei autoritären und populistischen Kräften zu suchen.

Nach den zuversichtlichen Thesen von Beck (1986) kümmern sich die Menschen in der reflexiven Moderne wieder mehr um soziale und ökologische Anliegen. Beck betrachtet die Individualisierung sogar als mögliche Voraussetzung für eine neue Solidarität, die aus freien Stücken entsteht. Mehr Wahlchancen kompensieren das Erodieren der Erwerbsarbeit. Neue soziale Bewegungen engagieren sich für zivilgesellschaftliche Anliegen. Ein kosmopolitisches Denken überwindet das nationalstaatliche, da Umweltprobleme vor Landesgrenzen keinen Halt machen. Die Weltgesellschaft geht das, was sie gefährdet, gemeinsam an (Beck 2007). So entsteht eine übergreifende Community, die das Überleben sichert. Eine politisch, sozial und kulturell lebendige Globalität ermöglicht eine offene Regionalität. Verkommt die Globalisierung indes zum wirtschaftlichen Globalismus, dann verstärkt sich lokal ein bornierter Provinzialismus.

Beck baut auf eine dynamische Pluralisierung. Diese bringt mehr Ambivalenzen mit sich und sucht das verbindende „Und“ sowie das „Sowohl-als-auch“. Die „neue Identität“ lässt Widersprüche zu. Das ist erfreulich, beinhaltet aber auch die Gefahr, in Beliebigkeit abzudriften. Das gilt für die Wissenschaft ebenso wie für die politische Praxis. Wichtig sind daher grundlegende Verbindlichkeiten. Dazu gehören freiheitliche Bedingungen für alle, was unabdingbar soziale Sicherheiten voraussetzt. Eine emanzipatorische Sozialisation orientiert sich auch an der Kompetenzmotivation. Sie unterstützt die Entfaltung eigener Kräfte und kontrastiert Defizit-orientierte behavioristische Reiz-Reaktions-Konzepte, die heute wieder in Input-Output-Modellen aufleben.

Die Soziologie analysiert als kritische Sozialwissenschaft gesellschaftliche Prozesse und soziale (Not-)Lagen. Sie tut dies nach meinem Verständnis im Interesse sozial Benachteiligter. An sozialer Gerechtigkeit orientiert, legt sie sich mit Mächtigen an, die vornehmlich eigene Profitinteressen verfolgen. Da sind Haltung und Selbstreflexion gefragt, mit kritischer Distanz auf alle Seiten hin; auch sich selbst gegenüber. Dazu gehört das Bestreben, eigene Vorannahmen transparent darzulegen und eingehend zu prüfen. Eine kritische Sozialwissenschaft fragt auch immer wieder, was eigentlich wichtig ist. Sie fundiert und differenziert ihre theoretischen und methodischen Zugänge permanent. Sie nimmt seismographisch auf, was ihr täglich begegnet. Und sie kommuniziert ihre Erkenntnisse klar, damit diese sich herrschaftlich nicht vereinnahmen lassen.

Die Soziologie analysiert, was sie im sozialen Feld selbst auslöst und was sie methodologisch tun kann, um nicht einfach das zu sehen, was sie sehen möchte. Dabei helfen Verfahren der Selbstevaluation sowie die Bereitschaft, sich mit anderen Disziplinen permanent auszutauschen und sich auch von einer breiten Öffentlichkeit kritisch befragen zu lassen. Forschen heisst entdecken. Soziale Theorien verknüpfen strukturelle, kulturelle und individuelle Bezüge. Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind nicht naturgegeben, sie lassen sich verändern. Sorgfältige Analysen tragen dazu bei.

Autor

Ueli Mäder ist Professor für Soziologie an der Universität Basel und an der Hochschule für Soziale Arbeit. Er leitet das Seminar für Soziologie und das Nachdiplomstudium Konfliktanalysen. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die soziale Ungleichheit. Jüngst erschien seine Studie „Macht.ch: Geld und Macht in der Schweiz“.

Korrespondenz

Ueli Mäder

Seminar für Soziologie

Petersgraben 27

4051 Basel

E-Mail: Ueli.maeder@unibas.ch

Literatur

Beck, U. (2007). Weltrisikogesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Beck, U. (1986). Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bourdieu, P. (1993). La misère du monde. Paris: Éditions du Seuil.

Bundesamt für Sozialversicherungen (2014). Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2014. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

Castel, R. (2003). L’insécurité sociale: qu’est-ce qu’être protégé? Paris: Seuil.

Castel, R., & Dörre, K. (Hrsg.) (2009). Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung: die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Campus.

Ehrenberg, A. (1998). La fatigue d’être soi: dépression et société. Paris: O. Jacob.

Lasch, C. (1979). The culture of narcissism: American life in an age of diminishing expectations. New York: Norton.

Mäder, U., & Schmassmann, H. (2012). Soziale Bedingungen psychischer Belastungen: Flexibilität, Individualität und Prekarität. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 163, 187–191.

Mäder, U., Jey, G. A., & Schilliger, S., (2010). Wie Reiche denken und lenken: Geschichte, Fakten, Gespräche. Zürich: Rotpunktverlag.

Sennett, R. (1998). The corrosion of character: the personal consequences of work in the new capitalism. New York: Norton.

Sennett, R. (1977). The fall of public man. New York: Knopf.

Wacquant, L. (2009). Die Wiederkehr des Verdrängten – Unruhen, „Rasse“ und soziale Spaltung in drei fortgeschrittenen Gesellschaften. In: Castel, R., & Dörre, K. (Hrsg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung (S. 85–112). Frankfurt am Main: Campus.