Originalarbeit (Themenheft)

Jürgen Kriz

Sozialisation und Emanzipation in der Psychologie und Therapeutenbildung

Zusammenfassung: Dieser Beitrag zeigt, wie für die Emanzipation in Psychologie und Psychotherapie die Überwindung des mechanistisch-kausalen Weltbildes wichtig wäre. Dieses Weltbild hat in unserer Kultur dafür gesorgt, dass enorme technologische Errungenschaften das Alltagsleben des Menschen bereichert haben. Dieser Erfolg hat allerdings zu einer Übergeneralisierung verführt, welche versucht, den Menschen nach denselben technischen Prinzipien zu verstehen und zu behandeln. Dies umso mehr, als die Globalisierung und zunehmende Komplexität der Prozesse, in die wir eingebettet sind, Verunsicherung und Angst fördern, auf welche schon immer mit Reduktion und rigidem Festhalten an bisherigen Mustern reagiert wurde. Dies wiederum behindert eine kreative Adaptation an die sich rasch ändernden Bedingungen. Als Kontrast wird dem mechanistisch-kausalen Weltbild ein entwicklungsorientiertes, dynamisches und selbstorganisiertes gegenübergestellt. Die hierfür essentiellen Prinzipien liegen sowohl humanistischer Psychotherapie als auch moderner Naturwissenschaft zugrunde. Zur Emanzipation bedürfte es somit einer Überwindung des Weltbildes des 19. Jahrhunderts und einer Zuwendung zu humanistischen Ansätzen und einem neueren interdisziplinärem Verständnis der Welt.

Schlüsselwörter: Emanzipation, Psychotherapie, Psychologie, Weltbilder, Menschenbilder, Sinnhaftigkeit, Selbstorganisation, Dynamik, Entwicklung,

Socialization and Emancipation in Psychology and in training Psychotherapists

Summary: In this paper it is argued that emancipation in psychology and psychotherapy needs to focus on overcoming the mechanistic-causal world view which has enriched our cultural everyday life with many technical gadgets. This technical success has led to an overgeneralization of these technical principles for understanding and dealing with human affairs by applying the same technical principles. This tendency is fostered by fear and uncertainty due to increasing complexity and globalization. These feelings typically evoke reductionism and a continued clinging to antiquated patterns and so obstruct creative adaption to changing conditions. Here the mechanistic-causal world view is contrasted with a developmental, dynamic, and self-organized one which contains essential principles of both humanistic psychology and modern science. Emancipation needs, therefore, to challenge the 19th-century world view and so, turn one’s attention to the humanistic approaches and to a more interdisciplinary understanding of our world.

Keywords: emancipation, psychotherapy, psychology, world view, view of man, meaningfulness, self-organization, dynamics, development

Socializzazione ed emancipazione nella psicologia e nella formazione del terapista

Riassunto: Questo contributo mostra quanto, ai fini dell'emancipazione nella psicologia e nella psicoterapia, sarebbe importante superare la concezione meccanicistica-causale del mondo. Nella nostra cultura questa concezione ha fatto sì che enormi conquiste tecnologiche arricchissero la nostra vita quotidiana. Questo successo ha tuttavia indotto a una sovrageneralizzazione che tenta di comprendere e trattare l'uomo con i medesimi principi tecnici. Ciò è ancor più accentuato dalla globalizzazione e dall'aumento della complessità dei processi di cui facciamo parte, che favoriscono incertezze e paure alle quali si reagisce da sempre con una riduzione e un rigido aggrapparsi ai modelli fino a quel momento conosciuti. Questo a sua volta impedisce un adattamento creativo alle condizioni in rapida evoluzione. Come contrasto, alla concezione meccanicistica-causale del mondo ne viene contrapposta una orientata allo sviluppo, dinamica e autoorganizzata. Viene mostrato che a tale scopo, i principi fondamentali si basano sia sulla psicoterapia umanistica, sia sulle scienze naturali moderne. Ai fini dell'emancipazione sarebbe dunque necessario superare l'immagine del mondo del XIX secolo e orientarsi verso approcci umanistici e una comprensione del mondo innovativa e interdisciplinare.

Parole chiave: emancipazione, psicoterapia, psicologia, immagini del mondo, immagini dell'uomo, ricerca del senso, autoorganizzazione, dinamica, sviluppo

Normierung als Angstabwehr gegenüber zu viel Komplexität

Bei der mir zugedachten Perspektive auf das Thema Emanzipation – nämlich die psychologische und psychotherapeutische – kann gut an dem angeknüpft werden, was besonders die Kollegen Hell1 und Herzog bereits ausgeführt haben: Ihre Argumente sind auch für meinen Bereich sehr wichtig. Doch gerade wegen dieser grundsätzlichen Übereinstimmung, und indem ich deren Argumente vollauf teile, kann ich für meinen Beitrag einen anderen Schwerpunkt wählen: Ich werde mich nämlich auf die Frage konzentrieren, weshalb standardisierte Anpassung von vielen Menschen in der heutigen Zeit so viel wichtiger genommen wird als die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im Sinne von Emanzipation aus vorgefertigten Lösungsstrukturen. Und meine These lautet, dass dies mit einem bestimmten Welt- und Menschenbild zu tun hat, das uns in unserer Kultur zwar seit Jahrhunderten begleitet und daher auch bedeutsame und konstruktive Aspekte enthält – sonst wäre es längst verschwunden oder transformiert. Aber angesichts einer zunehmend globalisierten, komplex vernetzten Welt treten die pathogenen Aspekte dieses Weltbildes immer deutlicher zutage.

Einen zentralen Grundgedanken des Wirkgefüges maligner Problemlösungen enthält bereits der Flyer für diesen Kongress der Schweizer Charta für Psychotherapie über Sozialisation und Emanzipation, in dem gleich zu Beginn formuliert ist: „Der herrschende Geist der Normierung bedroht heute auch die gewachsene seelische Vielfältigkeit des Menschen und das Blühen der Einzigartigkeit seiner Existenz – eine Folge bedrohlicher Unübersichtlichkeit?“ Dieser Zusammenhang zwischen bedrohlicher Unübersichtlichkeit einerseits und dem Hang zur Normierung andererseits wurde an anderer Stelle ausführlich entfaltet (Kriz, 2011). Zu betonen ist dabei zunächst einmal, dass Ordnung, Stabilität und Normierung zu einem gewissen Grade für den Menschen durchaus lebensnotwendig sind. Denn die Welt, in die der Mensch eingebettet ist, lässt sich aus naturwissenschaftlicher Sicht als eine unendlich komplexe Welt aus Reizen für unseren Organismus beschreiben. In diesem hyperkomplexen Reizchaos aber könnte kein Mensch (und auch keine andere Spezies) ohne massive Selektion, Reduktion und ordnende Konstruktion überleben.

Unsere Lebenswelt ist daher nicht die von Physikern thematisierte Welt ungeheuer komplexer „Reizströme“. Sondern sie ist eine Welt, die in Figur(en) und Grund, in gestalthaften materiellen Strukturen, in Ursache-Wirkungs-Beziehungen, in sozialen Gradienten etc. geordnet ist. Kurz: Zum Leben des Menschen gehört wesentlich, die prozesshafte, unfassbar komplexe und chaotische Reizwelt in eine hinreichend stabile und vorhersagbare, erfassbare und geordnete Rezeptions- und Lebenswelt zu transformieren. Gerade Kliniker beschreiben die namenlose Angst, die den Menschen packt, wenn er sich dem Chaos, dem Unvorherseh- und Unvorhersagbaren, ausgeliefert erlebt. Es ist daher verständlich, wenn der Mensch gegebenenfalls noch seine letzten Kräfte mobilisiert, um sich drohender Strukturlosigkeit entgegenzustemmen – wie viele Fallgeschichten zeigen.

Daher sollten wir die positive Seite der Ordnung durchaus würdigen: Kern ist die Reduktion eines komplexen, einmaligen Prozesses, als welchen die Naturwissenschaften die Welt beschreiben, in eine fassbare Lebenswelt mit regelhaft wiederkehrenden Klassen von Phänomenen. Dies strukturiert das Chaos, ermöglicht Prognosen, reduziert damit die Unsicherheit und schafft so Verlässlichkeit. Und diese hinreichend verlässliche Ordnung begleitet uns von den ersten Lebenstagen an. Ein typisches Beispiel für diese kombinierte Vermittlung von Ordnung einerseits und Vertrauen andererseits sind die in aller Welt gesungenen Schlaflieder. Sie sind der Inbegriff von Regelmäßigkeit und weisen üblicherweise einfache, wiederkehrende Tonfolgen auf. Besungen wird der aufgehende Mond, die Sterne, das kommende Erscheinen der Sonne – also das offenbar Wiederkehrende und Prognostizierbare. Kinder hören beim Einschlafen zudem gern jene Lieder, die sie ohnehin schon oft gehört haben – aber wehe, man bringt eine Veränderung hinein! Um Beruhigung und Vertrauen zu fördern, ist nicht das Neue gefragt, sondern das, was immer und immer wiederkehrt. Dass genau genommen jeder Gesang eine Welt-Uraufführung ist – einmalig, ganz genau so noch nie dagewesen und nie wiederkehrend, wie jeder Abend und jeder Morgen und wie alles, was unser Leben angeht –, genau dieser Aspekt wird hier eher ausgeblendet. Vielmehr wird auf das Gemeinsame, das Gleiche, eben das Vertraute abgehoben. Alles ist dann so sicher, vorhersagbar und vertraut, dass man schon gar nicht mehr so genau hinhören muss und wie ein Kind sanft einschlummern kann.

Doch diese Etablierung von Vertrautem und Gewohntem kann in anderen Situationen etwas höchst Gefährliches haben: Wenn man in solchen Momenten die gesprochenen Worte und die Situation nur nach dem längst Vertrauten und Bekannten absucht und innerlich oder äußerlich reagiert mit „Ach – das kenne ich ja schon!“, dann ist oft Ärger vorprogrammiert. So etwa, wenn der Partner etwas Wichtiges sagen will, man beim dritten Wort aber bereits abschaltet, den eigenen Gedanken nachhängt und gar nicht mehr auf das Neue hört, kommt zu Recht der vorwurfsvolle Ausruf: „Mensch! Du hörst mir ja gar nicht zu!“ oder: „Du hörst mir gar nicht richtig zu!“ Und damit zeigt sich die andere Seite der Ordnungs-Medaille: Die Reduktion zu allzu Vertrautem verschließt uns nämlich gleichzeitig den Blick auf die Einmaligkeit der Lebensprozesse. Und im Gegensatz zur Situation, in der im Schlaflied das Vertraute beschworen wird, legen unsere Partner und andere Menschen in vielen Situationen Wert darauf, dass ihre Worte den Charakter von „Welt-Uraufführungen“ haben. Wenn wir uns darauf nicht einlassen, dann findet statt einer Begegnung ein Austausch von Floskeln, ein Abspulen eingefrorener Rituale statt. Unser Gegenüber fühlt sich dann zu Recht nicht als er selbst wahrgenommen, sondern als geradezu beliebig austauschbares Objekt missbraucht, das nur unsere eigenen Schemata in Gang setzt.

Dass aber wohl jeder solche Situationen kennt, zeigt, wie wirksam dieser Mechanismus ist, der uns die Erfahrungswelt vor allem nach Regelmäßigkeiten absuchen lässt. In der Tat ist derselbe Vorgang, der Ordnung und Sicherheit schafft – nämlich die Reduktion auf vertraute Kategorien – gleichzeitig der Totengräber für Kreativität, Veränderung und Einmaligkeit; kurz: für die Wertschätzung individueller Entwicklung und die Entfaltung von Persönlichkeit. Und hier kann nun auch die unnötige und übersteigerte Ordnung, die Zwangs-Ordnung, beginnen, die in der Sozialisation der Normierung und Begrenzung von Möglichkeitsräumen der Entwicklung einen weit höheren Stellenwert einräumt als der Unterstützung von kreativer aber nicht-normierter Entfaltung.

Zur Bedeutsamkeit des mechanistisch-kausalen Weltbildes

Unsere Kultur ist vor allem – und nicht zu Unrecht – stolz auf ihre naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften. Diese sind tatsächlich dem Chaos abgerungen, wodurch viele unheilbringende Naturgewalten gebändigt und in nutzbarer Form dem Menschen zur Verfügung gestellt werden konnten. Der Fortschritt in anderen Bereichen menschlichen Lebens ist hingegen schwieriger zu beurteilen: Vor 200 Jahren begrüßte Friedrich Schiller das anbrechende 19. Jahrhundert voller Enthusiasmus und mit der Erwartung, dass nun eine Zeit beginnen würde, in welcher sich die Menschen im Zuge der Aufklärung von geistiger Enge und Bevormundung durch kirchliche Institutionen und Fürstenhöfe zunehmend emanzipieren und zu sittlicher Freiheit und Selbstbestimmung entwickeln würden – ganz wie er es in der Figur des Marquis Posa im „Don Carlos“ (1787) idealtypisch entwickelt und vorgezeichnet hatte.

In der Tat wurden im 19. Jahrhundert in Dichtung und Philosophie neue, aufklärerische Wege beschritten. Aus heutiger Sicht muss jedoch ein unguter Kontrast zwischen der technisch-instrumentellen und der sittlichen Entwicklung festgestellt werden. Zwei Welt- und zahlreiche andere Kriege des 20. Jahrhunderts, Holocaust in Deutschland, Konzentrationscamps auch im Balkan, in Südamerika und den USA, immer noch weltweit verbreitete Folter – selbst bei Verbündeten und „Partnern“ – weisen als wenige Beispiele einer schier endlosen Liste auf diese Diskrepanz hin. Nicht selten wurde und wird der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt auf Kosten der Entwicklung des Menschen und Lebens vorangetrieben – wenn nicht gar gezielt gegen diese gerichtet: Die Erkenntnisse im atomaren, biologischen und chemischen Bereich werden in Form perfektionierter A-B-C-Waffen eingesetzt, die USA haben mit großem finanziellem, organisatorischem und wissenschaftlichem Aufwand Menschen ins All und auf den Mond befördert, schaffen es aber nicht einmal, die Hungernden und Obdachlosen in den eigenen Städten angemessen zu versorgen (geschweige denn in anderen Ländern der Welt) – oder zumindest die Wachstumskurve der Industrie- und Kapitalprofite kurzfristig etwas weniger rasant ansteigen zu lassen, damit über Klima- und Umweltschutzmaßnahmen auch die Lebensgrundlage der nächsten Generationen nicht unnötig bedroht wird.

Diese wenigen Hinweise sind nicht als globales Lamento gemeint. Sie sollen vielmehr belegen, dass es unterschiedliche Bereiche unserer Lebenswelt gibt, in denen ebenso unterschiedliche Prinzipien gelten und den Beurteilungen des „Fortschritts“ zugrunde gelegt werden müssten. Gleichwohl wird in unserer Kultur in viel zu hohem Maße der Umgang mit der technisierten Welt recht unreflektiert auf das Miteinander der Menschen und ihre psychischen und sozialen Dynamiken übertragen.

Dieses Weltbild – unsere Vorstellungen darüber, wie „die Welt funktioniert“, wie Wirkungen auf Ursachen zurückzuführen sind, welchen Prinzipien erfolgreiches Handeln unterworfen ist etc. – ist im Rahmen eines rund 400 Jahre währenden Wissenschaftsprogramms entwickelt worden. Dieses Programm, das etwa ab Beginn des 17. Jahrhunderts im Rahmen abendländischer Kultur entstand, hat sich nicht nur über eine gewaltige technologische Entwicklung auch anderer Kulturkreise bemächtigt, sondern zudem unsere Alltagswelt mit ihren Prinzipien durchdrungen.

Kurz und etwas überprägnant lässt sich dieses Alltagsverständnis im Umgang mit Veränderung in der „Welt“ auf der Basis von Dingen und technischen Apparaturen wie in Abb. 1 kennzeichnen (genauer in Kriz, 2008). Essentiell ist hier die Fremdorganisation für alles, was geschieht: Bei der Veränderung des grauen Kastens in Abb.1 bewirkt eine Kraft, ein „Einfluss“ oder ein „Wirkfaktor“, dass sich das System (der graue Kasten) von A nach B bewegt. Ebenso könnte das System aber auch zu jedem anderen Punkt zwischen A und B – oder auch in Richtung auf C etc. – bewegt werden. Was geschieht, hängt also ausschließlich von der genauen Dosierung der Kraft, d. h. von ihrem Ausmaß und ihrer Richtung, ab. Bei einem stabilen Zustand – wenn sich also nichts verändert – geschieht nichts; hier besteht dann natürlich auch kein Erklärungsbedarf.

Abb. 1: Veranschaulichung der klassisch-mechanistischen Weltsicht durch einen Kasten in Position A auf einer ebenen Fläche. Durch eine Einwirkung wird der Kasten zur Position B oder C bewegt. Bestimmend dafür sind allein Ausmaß und Richtung der Einwirkung.

Die mit diesem Grundmodell und der Fremdorganisation verbundenen weiteren Prinzipen sind im Wesentlichen die Folgenden:

Es kann, nochmals betont, gar nicht wichtig genug genommen werden, wie sehr diese Prinzipien sich in großen Bereichen unseres technischen Alltags als wirksam erweisen. Denn nur dies lässt deren Suggestivkraft und den Hang zur Generalisierung verstehen, womit diese Prinzipien dann eben nicht nur auf einfache mechanische Vorgänge angewendet, sondern auf die gesamte Welt übertragen werden. Dies scheint im Alltag auch sinnvoll zu sein, denn überall begegnen wir den Errungenschaften dieser Technologie. Selbst im Umgang mit komplizierten und komplexen Gebilden können wir die so aufbereitete Welt durch einfache mechanistische Betätigungen steuern – etwa das Gaspedal eines Autos durchdrücken, den Lichtschalter oder ähnlich einfache Schalter zur Inbetriebnahme von Waschmaschinen, Herdplatten, Aufzügen oder Fernsehern betätigen.

Die Inadäquatheit des mechanistisch-kausalen Weltbildes für menschliche Lebensdynamiken

Wenn man aber die genannten Prinzipien und Leitideen klassisch-abendländischer Wissenschaft auf den Menschen anwendet, so wird deutlich, dass damit ein Kontext vorgegeben wird, in dem wesentliche Aspekte nicht angemessen zur Geltung kommen. Denn dieser Kontext beraubt den Menschen essentieller Werte seines Lebens, nämlich (wieder in aller Kürze):

Lineare Ursache-Wirkungs-Modelle nach dem experimentellen Paradigma greifen besonders dort zu kurz, wo es nicht primär um die Funktionsabläufe bei Maschinen oder um die Lebensprozesse einfacher biologischer Organismen geht, sondern um die Erlebensprozesse von Personen. Bei Letzteren geht es wesentlich um die sinnhafte Gestaltung ihrer Beziehung zur Welt, zu anderen Personen und zu sich selbst. Dieser Sinn kann schwerlich als „abhängige Variable“ in einem kausalen Wirkmodell durch „unabhängige Variablen“ hergestellt oder quantitativ verändert werden. Selbst ein noch so sinnvoller sokratischer Dialog importiert keinen Sinn in die Person, sondern kann – im guten Fall – dazu beitragen, dass sich Sinnprozesse innerhalb der Person umordnen. Zentrale Aspekte wie Sinn, Bedeutung oder Kohärenz finden auf der Ebene personaler Prozesse statt und die Umordnung von Sinn zeigt sich oft als „Aha!“-Effekt, was die nichtlineare Beziehung zwischen Intervention und Ergebnis verdeutlicht. Aus Beobachtung, Theorie und auch Introspektion wissen wir, dass Entwicklungsverläufe meist nicht linear sind, sondern in sprunghaften Phasen (partieller) Neuordnung verlaufen – unterbrochen von stabilen Phasen der Konsolidierung und Ausdifferenzierung vorhandener Ordnungen oder Schemata. Es ist geradezu typisch, dass auf ein bestimmtes Quantum an Interventionen lange Zeit fast nichts geschieht, dann aber, nach wenigen weiteren Schritten, plötzlich eine sprunghafte Veränderung einsetzt. Beispielsweise wird eine bestimmte Bewegung geübt und gelingt lange nur mäßig – doch plötzlich, mit wenigen weiteren Übungen, kann diese Bewegung weitgehend richtig und wiederholbar ausgeführt werden. Oder, im mentalen Bereich, wird ein komplexer Sachverhalt lange und mit immer weiteren Beispielen erläutert: Man versteht lange Zeit fast nichts; doch plötzlich, als Aha-Erlebnis, durchschaut man den Zusammenhang – d. h., es ist bei komplexeren Problemlösungen keineswegs so, dass man z. B. nach 50 % der Zeit auch 50 % der Lösung hätte. Und wenn sich bei einem Patienten in einer bestimmten Therapiestunde, in der er über sein Verhältnis zu seinem Bruder spricht, plötzlich die „Erkenntnis“ einstellt: „Aha, so ist das also mit meinem Bruder“, so war diese Erkenntnis nicht nach zehn Minuten zu einem Viertel oder nach zwanzig Minuten zur Hälfte vorhanden. Umso erstaunlicher ist es, dass RCT-Designs in der Psychotherapieforschung weiterhin eine so übergroße Bedeutung haben, obwohl sie die essentiellen Auswirkungen von nicht linearen Entwicklungsverläufen, die (auch) für psychotherapeutische Veränderungen typisch sind, zugunsten eines linearen Modells ignorieren (Kriz, 2014).

Berücksichtigt man letztlich auch noch die Tatsache, dass Entwicklungen oft eine Eigendynamik zeigen, die nicht beliebig plan- und steuerbar ist, sondern nur – relativ unspezifisch – gefördert oder behindert werden kann, so ergibt sich insgesamt die Frage: Gibt es andere Wirk-Modelle als das in Abb.1 skizzierte linear-experimentelle Schema?

Diese Frage kann positiv beantwortet werden: Das dem humanistisch-systemischen Ansatz zugrunde liegende kontextuelle Modell von Wirkung kann gerade die angesprochenen nicht linearen Entwicklungsverläufe in nicht isolierten, sondern rückgekoppelten Variablennetzen adäquat beschreiben. Diese Modellvorstellungen sind zu einem recht hohen Grad bereits vor knapp hundert Jahren durch die international führende Gestaltpsychologie der Berliner Schule – mit Hauptproponenten wie Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Kurt Lewin oder Kurt Goldstein – entwickelt und konzeptionell sowie experimentell erforscht worden. Interessanterweise sind genau die dabei relevanten Prinzipien seit rund drei bis vier Jahrzehnten auch in den modernen Naturwissenschaften im Rahmen systemtheoretischer Ansätze Gegenstand intensiver Forschung geworden und haben zu Nobelpreisen geführt (Theorie dissipativer Strukturen, I. Prigogine; Theorie des Hyperzyklus präbiotischer Systeme, M. Eigen und P. Schuster; Entwicklung der Maser-Laser-Technologie, C. H. Townes, N. G. Bassow und A. M. Prochorow).

Bekanntlich waren die führenden Wissenschaftler überwiegend Juden und wurden im sogenannten 3. Reich aus Deutschland vertrieben. Und es war leider kein Akt der Emanzipation aus der autoritären Macher-Ideologie des 3. Reiches, dass man sich nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland nicht daran erinnern wollte, welche führenden Richtungen es zuvor gegeben hatte, sondern lieber auf eine Macher-Ideologie im Sieger-Gewand des amerikanischen (klassischen) Behaviorismus setzte.

Das systemisch-dynamische Weltbild zur Beschreibung menschlicher Entwicklungsdynamiken

Ohne hier auf mathematische Details oder die genaueren systemwissenschaftlichen Grundlagen (Kriz, 1999) eingehen zu können, führen die oben skizzierten Prinzipien im Zusammenhang mit essentiellen Einsichten in die Belange menschlicher Entwicklung zu einem völlig anderen Bild von Veränderung und von Entwicklungsförderung als dem in Abb. 1 dargestellten.

Statt durch einen Kasten in der Ebene (Abb. 1), der sich nur dann und genau dorthin bewegt, wenn und wohin er planbar geschoben wird, lässt sich das Grundprinzip solcher Entwicklungen durch Abb. 2 veranschaulichen: Eine Kugel rollt ständig den Zeitpfad von hinten (Vergangenheit) nach vorne (Zukunft) durch eine Landschaft, in der es etliche, aber nicht beliebig viele, Entwicklungsmöglichkeiten (Täler) gibt. Die Struktur der Landschaft bleibt über die Zeit nicht konstant. Denn es ist ja ein Prozess-Modell, bei dem die Kugel stets am Rollen auf „die Zukunft“ hin ist. Vielmehr ändern sich die Bedingungen für die Kugel – was durch die Verformungen der Landschaft repräsentiert wird. So gibt es tiefe und langgestreckte Täler (d. h. langwährende Systemzustände), in denen die Kugel dann wahrscheinlich recht lange bleibt (Attraktoren). Es gibt flache (oder flach werdende) Abschnitte, wo die Kugel leicht von einem flachen Tal zu einem anderen überwechseln kann, besonders wenn sie zusätzlich gestört wird. Der weitere Weg ist eher offen und lässt vergleichsweise viele Möglichkeiten zu. Und es gibt besondere Weggabelungen, wo allerkleinste Einflüsse oder gar der Zufall entscheidet, welchem der beiden Wege sie dann weiter folgen wird. Das heißt, die weitere Entwicklung ist an einem solchen Punkt besonders instabil. Kleinste „Ursachen“ können hier zu großen „Wirkungen“ führen, da die Täler im Weiteren ja recht unterschiedliche Verläufe zeigen können – hier sind somit Phasenübergänge möglich.

Abb. 2: Entwicklungspfade (Chreoden) für das Rollen einer Kugel durch eine sich verändernde Landschaft mit engen, tiefen Tälern und breiten Flachstellen (nach Waddington, 1957)

In der Tat finden auch auf allen Ebenen menschlichen Lebens – beim Individuum (ja, sogar bei den einzelnen Teilen seines Körpers), bei Paaren, Familien, Organisationen etc. – ständig Veränderungen der Umgebungsbedingungen (der Landschaft) statt. Auf diese muss das System mit entsprechenden Adaptationsprozessen als Reorganisationen von Strukturen reagieren. Man könnte sagen, dass die Umwelten für diese Systeme (auf den jeweiligen Ebenen) immer wieder neue Anforderungen, quasi Entwicklungsaufgaben, stellen (Abb.2).

Ein solches Verständnis von Entwicklung wird in der Tat essentiellen Aspekten menschlichen Lebens weit besser gerecht werden als die in Abb. 1 repräsentierten Prinzipien. Denn, um nochmals die genannten Aspekte zu bemühen, für diese Prinzipien ist typisch:

Diese Darstellung von alternativen Prinzipien, die im Rahmen moderner interdisziplinärer Wissenschaft essentiell sind und eine emanzipatorisch-humanistische Position untermauern, schien mir im Kontext meiner Thematik und der gesamten Tagung notwendig: Emanzipatorische Argumente und Bemühungen werden wie humanistische Psychotherapie nämlich nicht selten mit dem Hinweis darauf diskreditiert, dass man auch in der Psychotherapie „richtige Wissenschaft“ treiben müsse. „Guter Wille und empathisches Verständnis“ würden da nicht ausreichen. Wer so spricht, der ignoriert nicht nur den essentiellen Unterschied zwischen Strukturen im Bereich der Materie und einfacher biologischer Organismen einerseits und den Strukturen im Bereich menschlicher Lebenswelt. Nur im Letzteren spielen Sinn, Verstehen, Empathie etc. eine Rolle – allerdings kann dies dort auch nicht ausgeblendet werden, ohne das Essentielle der Humanwissenschaften zu verfehlen. Wer so spricht, der verwechselt allerdings auch das naturwissenschaftliche Weltbild des 19. Jahrhunderts mit „der“ Wissenschaft. Er zeigt, dass er die Veränderungen im naturwissenschaftlichen Weltbild insbesondere der letzten rund fünfzig Jahre verschlafen hat.

Es wäre also an der Zeit, die Modelle, mit denen die Psychologie die Welt ihres Wissenschaftsgegenstandes beschreibt, zu überdenken und wenn schon nicht zu revidieren, dann zumindest zu erweitern. Dies gilt ganz besonders für die klinische Psychologie und Psychotherapie, wo das linear-experimentelle Paradigma noch weit schlechter greift als in der Grundlagenforschung, in welcher Bedingungen eines linear-kausalen Paradigmas zumindest hinreichend realisiert werden können. Freilich muss man sich dann der Herausforderung stellen, ein vierhundert Jahre als „selbstverständlich“ angesehenes Weltbild zu hinterfragen und zu prüfen, ob die mechanistischen Prinzipien nicht zu sehr auf den Bereich des Lebendigen generalisiert wurden.

Emanzipation wird also meines Erachtens nur gelingen, wenn wir uns aus der Dominanz eines überkommenen Weltbildes befreien, das uns Sicherheit allein über Kontrolle suggeriert und der Dynamik in der menschlichen Lebenswelt nicht gerecht werden kann.

Autor

Jürgen Kriz, Univ.-Prof. Dr. phil., Emeritus für „Psychotherapie und Klinische Psychologie“ an der Universität Osnabrück. Begründer der „Personzentrierten Systemtheorie“, einem integrativen Ansatz der Psychotherapie. Mitwirkung an mehreren Ausbildungsgängen zum Psychotherapeuten; Ehrenmitglied mehrerer psychotherapeutischer Fachgesellschaften. Gastprofessuren in Wien, Zürich, Riga, Moskau und den USA. 21 Bücher, ca. 300 Beiträge. 2004 Viktor-Frankl-Preis der Stadt Wien, 2014 AGHPT-Award für wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Humanistischen Psychotherapie.

Korrespondenz

Prof. Dr. Jürgen Kriz

FB 8, Universität Osnabrück

Seminarstraße 20

49074 Osnabrück

Literatur

Kriz, J. (1999). Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner: eine Einführung. Wien: Facultas.

Kriz, J. (2008). Self-actualization: person-centred approach and systems theory. Ross-on-Wye: PCCS Books.

Kriz, J. (2011). Chaos, Angst und Ordnung: wie wir unsere Lebenswelt gestalten, 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Kriz, J. (2014). Wie evident ist Evidenzbasierung? Über ein gutes Konzept – und seine missbräuchliche Verwendung. In: Sulz, S. (Hrsg.), Psychotherapie ist mehr als Wissenschaft: Ist hervorragendes Expertentum durch die Reform gefährdet? (S. 154–185). Norderstedt: Books on Demand.

Waddington, C. H. (1957). The strategy of the genes: a discussion of some aspects of theoretical biology. London: Allen & Unwin.

Anmerkungen

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