Originalarbeit (Themenheft)

Isabelle Noth

Sozialisation und Emanzipation in der Theologie und Seelsorge

Zusammenfassung: Religion steht in der Spannung zwischen einerseits dem durch die Religionskritik Freuds genährten Vorwurf der Einengung und des Konservativismus und andrerseits der ihr ureigenen Erfahrung der Befreiung, die im Exodus-Erlebnis des Alten Testaments angelegt ist. Diese Ambivalenz von Religion macht sie zu einer steten Herausforderung und bedarf der fortwährenden Reflexion. Die Aufgabe von Seelsorge ist es, das befreiende und lebensfreundliche Potential von Religion hervorzuheben und zu stärken sowie Vertrauen ins eigene Geliebt- und Gewolltsein zu schaffen, denn dieses ist die Grundvoraussetzung aller möglichen Emanzipation.

Schlüsselwörter: Religion, Glaube, Exodus, Befreiung, Ambivalenz

Socialization and emancipation in theology and pastoral care

Summary: Religion is energized on the one hand by the criticism of religion nourished by Freud’s allegation of constriction and conservatism and, on the other hand, its very own experience of liberation, which is laid out in the Old Testament’s Exodus adventure. This ambivalence in religion makes it an ongoing challenge and requires continuous reflection. The task of the pastoral counsellor is to highlight and strengthen religion’s potential for liberation and love of life , as well as trust in one’s own loveableness and sense of being wanted, as these are prerequisites of all possible emancipation.

Keywords: Criticism of religion, emancipation, pastoral care, motivation, liberating potential

Socializzazione ed emancipazione nella teologia e nella cura d'anime

Riassunto: La religione da un lato è soggetta al rimprovero della limitazione e del conservatorismo nutrito dalla critica freudiana alla religione e, dall'altro, rappresenta l'esperienza personale della liberazione, che si basa sull'esperienza dell'esodo nel vecchio testamento. L'ambivalenza della religione la rende una sfida perenne che richiede una continua riflessione. Il compito della cura d'anime è dare rilievo e rafforzare il potenziale liberatorio e vitale della religione e creare fiducia nell'essere amati e voluti, poiché queste sono le premesse di qualunque emancipazione.

Parole chiave: critica alla religione, emancipazione, cura d'anime, motivazione, potenziale liberatorio

In seiner einflussreichen religionskritischen Studie „Die Zukunft einer Illusion“ von 1927 fordert Sigmund Freud einen imaginierten Gesprächsgegner dazu auf, sich einmal „den betrübenden Kontrast zwischen der strahlenden Intelligenz eines gesunden Kindes und der Denkschwäche des durchschnittlichen Erwachsenen“ vor Augen zu halten, und fragt: „Wäre es so ganz unmöglich, dass gerade die religiöse Erziehung ein grosses Teil Schuld an dieser relativen Verkümmerung trägt?“ (Freud, 1948 S. 370)

Der bekennende Atheist Freud – selbst fünffacher Vater – rechnet es dem Einfluss von Religion zu, wenn aus klugen Kindern dumme Erwachsene werden. So wie sich moderne Kritik gegen das Fernsehen und seine systematische Verblödung von Menschen richtet – denken Sie etwa an Manfred Spitzers Buch „Digitale Demenz“ und an seine Äusserungen über die Gefahr sogenannter „digitaler Verdummungsgeräte“ für Kinder –, so äusserte sich Freud damals über die Religion. Religion ist in seinem Urteil Förderin eines dezidiert antiemanzipatorischen Entwicklungs- und Sozialisationsprozesses. Man muss nicht unbedingt Kirchen- oder Religionsgeschichte studiert haben, um das Zustandekommen eines solchen Urteils nachvollziehen zu können. Dass Religion – Freud hat in Wien vor allem den römischen Katholizismus vor Augen – ihren Einfluss immer wieder auch dazu missbraucht hat, eigene Machtinteressen durchzusetzen, Menschen ihrem Glaubensdiktat zu unterwerfen und sie mit angst- und schuldeinflössenden Lehren gefügig zu machen, braucht nicht ein weiteres Mal ausgeführt zu werden. Bedenkt man nun jedoch, dass all die verschiedenen Formen, mit denen die Religion – und gemeint ist primär die Kirche – im Verlauf der Geschichte Menschen unterdrückt hat, fundamentalen Theologumena jüdisch-christlicher Tradition diametral widersprechen, so irritiert Freuds Urteil. Dieses Urteil hat eine beträchtliche Rezeption erfahren – nicht zuletzt in der Psychologie. Erst seit Kurzem getraut sich diese, sich ernsthaft mit Religion und Spiritualität zu befassen. Die Irritation, die Freuds Urteil theologischerseits auszulösen vermag, soll im Folgenden plausibilisiert werden.

Gerade die Theologie als Reflexionswissenschaft hat die Aufgabe, religiöse Sozialisationsprozesse kritisch zu analysieren und zu hinterfragen. Eine biblisch fundierte Theologie wird dabei gerade der Frage nach der Emanzipation eine zentrale Rolle beimessen, denn nichts weniger als eine tiefgreifende Befreiungserfahrung liegt dem jüdischen Glauben zugrunde, nämlich der sogenannte Exodus. Es handelt sich um die Befreiung der IsraelitInnen aus der Sklaverei, den Auszug (griechisch: Exodus) aus Ägypten, wie ihn die hebräische Bibel im 2. Buch Mose beschrieben hat. Dies ist die „Urerfahrung“, welche Israel mit Gott gemacht hat (Wind, 1995, S. 52).

„Im Anfang war Befreiung“, so die Theologin Dorothee Sölle (1987, S. 17). Und weiter: „Das Ereignis des Exodus ist ein radikales Geschehen, sowohl im buchstäblichen Wortsinn (lateinisch radix = Wurzel) als auch in der umfassenderen Bedeutung, die wir meinen, wenn wir heutzutage dieses Wort auf Menschen anwenden, die für die Befreiung arbeiten. Eine solche Grunderfahrung ist ein öffentliches historisches Ereignis, das auch für die später Lebenden grundlegende Bedeutung behält, sofern sie sich in eben diese Tradition stellen.“ Und sich in diese Tradition gestellt, das haben viele und tun nach wie vor noch einige. Denken Sie an die neutestamentlichen Heilungs- und Befreiungsakte, die von Jesus erzählt werden, oder an den Zuruf des Apostels Paulus an die Galater: „Zur Freiheit seid ihr berufen!“ und „Lasst Euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“

Es handelt sich um eine Tradition, die immer wieder aufbricht und Menschen umtreibt – bis auf den heutigen Tag. Auf diese befreiende Tradition spielt z. B. der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel an mit seiner vielzitierten, geradezu schelmisch-schadenfrohen Aussage, die Kirche werde ihren Jesus einfach nicht los (Bichsel, 2009, S. 191). Sie könne ihn trotz allem Bemühen nicht abschütteln; es gelinge ihr nicht, ihn zu erledigen. Bichsel (2009, S. 133) erfuhr die Kirche in seiner eigenen Jugend noch als „Emanzipationshilfe“. „Ich erlebte ein zweites Mal meine Religiosität als Emanzipationsmittel, mein Christsein als Anderssein, mein Bekenntnis als Rebellion“ (Bichsel, 2009, S. 130). Als einen ihn zutiefst beeindruckenden Satz erwähnt er die folgende Aussage Dorothee Sölles: „Christ sein bedeutet das Recht, ein Anderer zu sein“ (Bichsel, 2009, S. 191). Dazu meinte Bichsel in einem Radiogespräch: „Das find ich einen großartigen Satz, das ist ein emanzipatorischer Satz!“ (SWR2 Glauben, Ich weiß, dass es keinen Gott gibt, aber ich brauche ihn, 4. 12. 2011, Südwestrundfunk, Stuttgart).

Wie kommt es nun, dass von dieser ursprünglichen emanzipatorischen jüdisch-christlichen Tradition nur noch so wenige etwas wissen, ja, etwas wissen wollen? Für viele Menschen sind Glaube und Religion nicht nur nebensächlich, sondern zu etwas ganz und gar Belanglosem geworden, mehr noch: Sie gelten vielen geradezu als Zeichen des Rückständigen und Verstaubten, des Unfreien und Nichtemanzipierten. Empirische Untersuchungen sprechen hier Klartext. Die meisten Menschen in der Schweiz fühlen sich Religion und Kirchen gegenüber distanziert. Säkularisierungsthesen, die davon ausgingen, dass sich Religion und Glaube von selbst erledigen und letztlich sang- und klanglos verschwinden würden, dürfen zwar als überholt gelten, dennoch: Uns interessieren ja nicht nur die Präsenz von Religion in den Medien und Zahlen über Kirchenmitgliedschaften, sondern die dem Glauben inhärente Subversivität, das ihn auszeichnende Exodus-Grundgefühl, sein Emanzipationspotential insgesamt.

Emanzipative Ansätze begegnen uns in der christlichen Theologie z. B. in Befreiungstheologien, in feministischen Theologien, in den sogenannten Public-theology-Ansätzen, die sich gesellschaftskritisch engagieren. Antiemanzipatorisches erlebe ich in der Theologie in Versuchen, konfessionell Spaltendes zu bewirtschaften oder moralische – meist sexualmoralische – Überzeugungen durchzusetzen. Im Hinblick auf Diskussionen wie jene, ob KatholikInnen und Reformierte zusammen Eucharistie oder Abendmahl feiern dürfen oder nicht, äusserte der Theologe Fulbert Steffensky sehr treffend: Es gäbe Probleme, die uns Menschen einfach nicht würdig seien, weil sie schlicht zu klein und nichtig seien, als dass uns zugemutet werden sollte, uns mit ihnen zu beschäftigen. Fragen um die Eucharistie, aber auch ums Zölibat und die Frauenordination gehören in diese breite Kollektion religiös-kirchlicher Ablenkungsmanöver, die verhindern sollen, dass Menschen sich mit den wirklich relevanten Fragen ihrer Existenz und des Zusammenlebens, also den wirklich religiösen Fragen beschäftigen (Steffensky, 1989, S. 110 f).

Wenn Sie mich persönlich anfragen: „Wie streben Sie in Ihrem Bildungsauftrag die Vermittlung einer verantwortungsbereiten Lebensweise an? Für Ihre Studierenden und späteren Professionsangehörigen?“, so antworte ich: 1. Indem ich auf die stete und bleibende Ambivalenz von Religion und Religiosität hinweise, die gerade deshalb der steten Reflexion bedürfen, und 2., indem ich an das Urerlebnis des Exodus als hermeneutisches Kriterium erinnere.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Irritation, die Freud auslöste, ihren Grund in der bleibenden Ambivalenz von Religion selbst hat. Diese ist es, die sowohl dazu führen kann, dass Religion Menschen unterdrücken als auch befreiend wirken kann.

Zahlreiche religionspsychologische Studien gelangen zum Resultat, dass es lebensfreundliche und freiheitsfördernde Formen von Religiosität genauso wie auch pathologische gibt. Bestimmte Religiositätsstile können helfen, Ängste abzubauen, während andere Ängste fördern, können Mut stärken, aber auch ihn schwächen, Lebensfreude bekräftigen, aber auch Depressionen mit auslösen, bei der Verarbeitung von Traumata förderlich sein, oder aber geradezu selbst zum Trauma werden. Denken Sie an Bücher wie „Gottesvergiftung“ von Tilman Moser und ihre enormen Erfolge. Denken Sie aber umgekehrt auch z. B. an die Schriften Eugen Drewermanns und ihre Auflagenstärke und Breitenwirkung.

Religion als ein spezifisches Angebot, sich und die Welt zu verstehen, kann Menschen hilfreiche Wege weisen und sie darin begleiten, das eigene Schicksal zu interpretieren und das Leben als sinnvoll und bedeutsam zu verstehen. Sie bietet Menschen an, ihre eigenen Lebensgeschichten und Erfahrungen mit den von ihr tradierten Geschichten des Lebens und der Welt in Verbindung zu setzen, sich in ihnen wiederzufinden, sich zu identifizieren – und dies in Bezug auf sowohl die gelungenen als auch die misslungenen Geschichten des Lebens. Dass ein Glaube, der mit einem bedingungslos liebenden und gütig zugewandten Gott rechnet, hilfreich sein kann bei der Bewältigung schwieriger und einschneidender Lebensereignisse und deshalb als wichtige Ressource dienen kann, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Biblische Figuren wie Hiob helfen leidenden Menschen in Schwierigkeiten seit Jahrhunderten. Sätze wie im 2. Korintherbrief 5,17, „ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ oder die verschiedenen biblischen Heilungsgeschichten lösen bis auf den heutigen Tag wichtige Emanzipationsschritte aus: Menschen wagen ihre Freiheit; sie trauen sich.

Nicht nur angesichts repressiver religiös-fundamentalistischer Gruppierungen jeglicher Art, sondern schlicht auch aufgrund der bleibenden Unabgeschlossenheit von uns Menschen ist Theologie als Form der Auseinandersetzung und Beschäftigung sinnvoll und nötig, um einen differenzierten Blick auf Religion, ihre Inhalte und Praktiken zu richten.

Religion hat das Potential, Menschen im besten Sinne anzustacheln, die Weite zu suchen. Sie weckt schlummernde Sehnsüchte und setzt Fantasien eines besseren und erfüllteren Lebens frei. Die besondere Aufgabe der Seelsorge als praktisch-theologische Disziplin ist es, dieses Wissen wachzuhalten, zu pflegen und zugänglich zu machen. Seelsorge zeichnet aus, dass sie keine Ziele und schon gar keine Behandlungsziele erreichen muss. Ihre Zweckfreiheit ist konstitutiv. Ein Mensch hat daher aus Sicht der Seelsorge auch das Recht, sogenannt krank bleiben zu dürfen und sich auch nicht zu emanzipieren. Das Entscheidende ist, ob ich mich – unabhängig von Gesundheit oder Krankheit, Sozialisation oder Emanzipation – als geliebt und gewollt und gerufen empfinden kann. Das nennen wir in traditioneller Sprache Glauben und in die heutige Sprache übersetzt: Vertrauen – die Grundvoraussetzung möglicher Emanzipation.

Autorin

Prof. Dr. Isabelle Noth, Co-Direktorin des Instituts für Praktische Theologie, Leiterin der Abteilung Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik und Präsidentin der Schweizerischen Aus- und Weiterbildung in Seelsorge mit Sitz an der Universität Bern. Präsidentin der Schweizerischen Aus- und Weiterbildung in Seelsorge und des trifakultären Studiengangs CAS Spiritual Care.

Korrespondenz

Prof. Dr. Isabelle Noth

Institut für Praktische Theologie

Abt. Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik

Unitobler

Länggassstrasse 51

3000 Bern 9

Literatur

Bichsel, P. (2009). Über Gott und die Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Freud, S. (1948). Die Zukunft einer Illusion. In: Freud, S., Werke aus den Jahren 1925–1931 (S. 325–380, Gesammelte Werke, Bd. 14). Frankfurt am Main: S. Fischer.

Sölle, D. (1987). Lieben und arbeiten: eine Theologie der Schöpfung, 4. Aufl. Stuttgart: Kreuz-Verlag.

Spitzer, M. (2012). Digitale Demenz. München: Droemer.

Steffensky, F. (1989). Wo der Glaube wohnen kann. Stuttgart: Kreuz-Verlag.

Wind, R. (1995). Befreiung buchstabieren: Basislektüre Bibel. Gütersloh: Kaiser.