Editorial

Psychotherapie-Wissenschaft 9 (2) 5–7 2019

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2019-2-5

Neben aktueller Forschung beschäftigt sich dieses Heft mit der Wissenschaftstheorie der Psychotherapie, die sich als eigenständige Wissenschaft positioniert. Damit nehmen wir direkten Bezug auf den Titel unserer Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft und auf den Kern der Schweizer Charta für Psychotherapie.

Der Beginn der Bewegung, Psychotherapie als eigenständige Wissenschaft aufzufassen, geht auf die Strassburger Deklaration im Jahre 1990 zurück (vgl. Buchmann, 2015), in deren Folge die Charta formuliert wurde. Sie ist seither einem dauernden Diskurs unterworfen und wurde in der zehnten Revision 2016 der aktuellen Entwicklung angepasst. In unserer Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft sind kontinuierlich Beiträge zum Thema Psychotherapie als eigenständige Wissenschaft erschienen. In diesem Heft stellen wir die Fortsetzung eines früheren Beitrages des Philosophen Markus Erismann (2016) vor, in dem er über den Wissenschaftsbegriff der Psychotherapiewissenschaft reflektiert. Wir möchten damit sowie mit zwei darauffolgenden Kommentaren eine Diskussion zu diesem Thema eröffnen. Bei den beiden Kommentatoren handelt es sich um Kurt Greiner, Professor für Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-PrivatUniversität in Wien (SFU), und um Gerhard Burda, ebenda habilitiert, Philosoph, Analytiker und Mitglied der Wiener Lacan-Schule sowie Buchautor zu Themen an den Schnittstellen von Philosophie sowie Psycho- und Medienanalyse.

Greiners Kommentar beruht auf dem Hintergrund des Konstruktiven Realismus, der von Friedrich Wallner in Wien entwickelt wurde. Seine Stellungnahme beinhaltet eine wesentliche Erweiterung der Argumentation Erismanns, deren Zentrum der gemeinsame, dialogische Reflexionsprozess von Patient*in und Therapeut*in sei, aus dem dieser die Eigenständigkeit und Wissenschaftlichkeit der Psychotherapie ableite. Wird die Reflexion lediglich auf den psychotherapeutischen Prozess bezogen, verkürze sie sich nach Greiner auf die Ebene des technischen Handelns. Dies sei aber kein überzeugendes wissenschaftstheoretisches Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderen Wissens- und Praxisformen. Die Verstehenswerkzeuge des Auslegens, Deutens und Interpretierens hätten auch in esoterischen Praxen eine wissensgenerierende Funktion inne. Diesem Wissen in technisch funktionaler Hinsicht sei Erkenntnis in kritisch reflexiver Sicht hinzuzufügen. Dabei gehe es um die systematische Produktion vertiefter Einsichten in die Theorien der verschiedenen Therapieschulen, die mit wissenschaftshermeneutischen Strategien kritisch zu untersuchen seien. Die Psychotherapie sei wegen ihrer multiparadigmatischen Praxisstruktur in einer günstigen Position, weil dadurch in systematischen Quervergleichen die jeweils zugrundeliegenden Paradigmen in Beziehung gesetzt werden können. An der SFU entwickelte Greiner zusammen mit Martin Jandl eine experimentalhermeneutische Laborforschung, die eine systematische Produktion von Wissen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Therapieschulen erlaubt und der Akademisierung der Psychotherapiewissenschaft von Nutzen ist.

Als Beispiel zur Beschreibung solcher Untersuchungen nimmt er einen Vergleich der Strukturalen Psychoanalyse (nach Lacan) mit der Transaktionsanalyse vor. Das «hinter dem ‹sich wissenden Ich› verborgene[…] ‹andere Subjekt›» bei Lacan (zit. n. Pagel, 1991, S. 24) wird dabei auch in der Transaktionsanalyse gesucht. Dabei wird ein sehr präzises strukturiertes Vorgehen angewendet, das die Prämissen beider Schulen aufzudecken vermag, damit die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihrer Tiefe erfasst und beschrieben werden können. Dieses auf dem Konstruktiven Realismus basierende Instrument diene der wissenschaftstheoretischen Begründung der Psychotherapie als genuine Einzelwissenschaft. Der Status als genuine Einzelwissenschaft ist für die Weiterentwicklung der Psychotherapie von grösster Bedeutung. Wir begrüssen darum den Beitrag aus Wien.

Burdas Kommentar erfolgt auf dem Hintergrund der Phänomenologie und ihrer Weiterentwicklungen bis hin zu dem von ihr beeinflussten Post-Strukturalismus Lacans. Er kommentiert sowohl den aktuellen Beitrag als auch die Arbeit Erismanns von 2016 in dieser Zeitschrift. Damit schliesst er eine Lücke, denn zu diesem Aufsatz hat es bisher keine Kommentare gegeben. Erismann wies darin auf das Erfordernis einer hohen Methodizität hin, wenn Psychotherapie als eigenständige Wissenschaft anerkannt werden soll. Als Basis der Methodizität einer Wissenschaft bezeichnet er ihre Selbstreflektiertheit. Die Psychotherapie sei dazu prädestiniert: «Weil die psychotherapeutische Situation durch methodische Selbstreflexion gekennzeichnet ist, liegt es nahe, dass der Psychotherapiewissenschaftler über ein ausgeprägtes Bewusstsein der methodischen und methodologischen Selbstreflexion verfügt» (Erismann, 2016, S. 6). Der Psychotherapie fehle aber «ein schulenumfassender wissenschaftstheoretischer Rahmen» (ebd.). Burda folgert, dass es somit keine neutrale, metatheoretische Basis gebe, die die Selbstreflexivität der Psychotherapieschulen anleiten könnte. Die Selbstreflexivität gründe somit auf einer Basis, die sich die Schulen selbst gegeben hätten. Das sei ein klassischer Gegenstand-Methode-Zirkel.

Greiners Stellungnahme zur Arbeit Erismanns in diesem Heft und Burdas Kommentar zur Arbeit von 2016 beinhalten im Grunde dieselbe Kritik, nämlich die Problematik der Selbstreflexion ohne äusseren Bezugspunkt. Der fehlende archimedische Punkt ist grundsätzlich ein Problem jeder Wissenschaft, was in der Psychotherapie besonders sichtbar wird. Der Konstruktive Realismus versucht dieses Problem abzumildern, indem er bestimmte Punkte unterschiedlicher Verfahren miteinander ins Verhältnis setzt und gleichsam Punkte untersucht, die das Potenzial haben, sich gegenseitig «aus den Angeln zu heben». Ob sich die «Katze hier nicht auch in den eigenen Schwanz beisst», muss jedes Mal untersucht werden, da die Psychotherapieschulen nicht unabhängig voneinander entstanden sind und historisch gemeinsame Wurzeln haben (vgl. Tschuschke et al., 2016).

Für Burda stellt sich bei der Auseinandersetzung mit der Arbeit Erismanns die Frage, ob es um eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin gehe oder darum, was Psychotherapie unter Wissenschaft versteht bzw. wie sie sich selbst als Wissenschaft erfasst. Erismann meine wohl Letzteres, dass Psychotherapie nicht nur ein spezifisches Heilverfahren, sondern auch eine Wissenschaft sei; dies aber nicht in einem allgemeinen theoretischen Sinn, wo das Subjektive, Individuelle und Widersprüchliche im Vergleich mit allgemeinen wissenschaftlichen Kriterien wie Objektivität, Überprüfbarkeit und Intersubjektivität eingeschätzt werden müsste.

Burdas eigene Gedanken gehen in die Richtung, dass jeder Wissenschaft eine inhärente Selbstdifferenzierung eigen sei und sie prinzipiell nicht ohne subjektiven Faktor auskomme. Am Beispiel der Geschichte der Wissenschaftstheorie zeigt er auf, dass beides der Fall sei. Für ein allgemeines Verständnis von Wissenschaft sei es relevant, dass dies in Betracht gezogen werden muss, auch wenn es darum geht, einen relevanten Wissenschaftsbegriff für die Psychotherapiewissenschaft zu formulieren.

Man mag Burdas Reflexionen als Praktiker*in gern zustimmen. Es muss aber bezweifelt werden, dass diejenigen Wissenschaften, deren inhärente Subjektivität kaum sichtbar ist, sie auf sich selbst anwenden werden, zumal sie die vermeintliche Eindeutigkeit der eigenen Begriffe infrage stellen müssten. Benennen müssen wir das Problem trotzdem, die wissenschaftstheoretischen Beiträge in diesem Heft bieten den nötigen differenzierten und philosophischen Tiefgang dafür.

Es ist zu hoffen, dass die Weiterführung der in diesem Heft eröffneten Kontroverse zu einem konstruktiven Beitrag bei der Etablierung der Psychotherapie als eigenständige Wissenschaft führen wird. Kommentare aus dem Kreis der Leser*innen sind erwünscht!

Nach der wissenschaftstheoretischen Diskussion widmen sich die drei folgenden Beiträge methodischen Fragen. Jürgen Kriz stellt das Konzept der Evidenzbasierung und vor allem seine Reduktion auf RCTs infrage. Zwar ist das RCT-Design durchaus ein hervorragendes Modell zur Untersuchung experimenteller Forschungsfragen, aber nur dann, wenn klar definierbare Ursachen und ebenso klar definierbare Wirkungen hinreichend isolierbar sind und sie dabei die Untersuchungsrealität brauchbar abbilden. Je grösser der Handlungsspielraum zur Gestaltung der Ursachen (Interventionen) ist und je komplexer die relevanten Wirkungen sind, desto weniger tauglich ist dieser Ansatz.

Pablo Herrera und Kollegen stellen in ihrem Artikel einen methodischen Ansatz dar, der als Alternative für RCTs diskutiert wird: Single-Case Time Series. Grundlage für experimentelle Einzelfallentwürfe sind wiederholte Messungen in relevanten Bereichen während des gesamten Behandlungsverlaufs. Wiederholte Messungen ermöglichen die Abschätzung der Variabilität innerhalb eines Falls im Zeitverlauf, um Information über die Behandlung, Messfehler und Fremdfaktoren in einem Zeitreihenansatz erfassen zu können. Agnes von Wyl und Aureliano Crameri diskutieren diesen Ansatz aus methodischer Sicht und geben eine Einschätzung, wie diese Methode in Fachkreisen beurteilt wird.

Die Wissenschaftskommission der Schweizer Charta für Psychotherapie hat zusammen mit der Zürcher Hochschule für angewandte Psychologie (ZHAW) in diesem Jahr ein Projekt abgeschlossen, das dem Bereich der Prozessforschung zuzuordnen ist. Mit dem Thema Schulenvergleich geht es in dieselbe Richtung, wie sie Greiner mit einer systematischen Produktion von Wissen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Therapieschulen vertritt.

Die Analyse von Gemeinsamkeiten und Unterschieden schulspezifischer Psychotherapieverfahren (AGUST) von Cornelia Stegmann und Kolleg*innen ging von einer Anordnung aus, bei der Vertreter*innen verschiedener Psychotherapieverfahren gemeinsam ein Lehrvideo über eine spezifische Methode analysiert haben. In einem systematischen Vorgehen gaben sie als Gruppe (nach Hauptströmung ihrer Therapierichtung eingeteilt) eine Beurteilung des Therapieprozesses ab und nannten ihre möglichen Interventionen, wenn sie die Therapie durchgeführt hätten, sowie deren Begründung aus schultheoretischer Sicht. In der qualitativen Auswertung bestätigte sich die Hypothese, dass die theoretischen Unterschiede grösser sind als das praktische Vorgehen in der Therapie.

Forschungsberichte müssen nicht nur Anschluss an den aktuellen Diskurs in der Psychotherapie halten, sondern sich auch für die Umsetzung der Resultate in der Praxis eignen. Zu diesem Thema äussert sich Maria Teresa Diez Grieser. In ihrem Artikel spricht sie den science-practice gap an, der dazu führe, dass Forschungsergebnisse falsch oder nur teilweise in der Praxis Eingang fänden. Anhand zweier Beispiele – der Bindungstheorie und der Traumaforschung – illustriert die Autorin, dass Forschungsergebnisse konkretistisch übernommen werden oder zu Fehlinterpretationen im praktischen Feld führen können:

«Beide Beispiele verdeutlichen, dass es der Forschung häufig nicht gelingt, ihre Ergebnisse so aufzubereiten, dass Praktizierende deren Validität und die Grenzen der Anwendung in der Praxis nachvollziehen können. Praktizierende ihrerseits haben entweder zu wenig zeitliche Ressourcen für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Forschungsthemen und/oder zu wenig Wissen, um die Befunde in ihrer praktischen Relevanz und Umsetzbarkeit einzuordnen.»

Sie schlägt vor, «dass etwas Drittes gebraucht wird, das zwischen den beiden Welten vermitteln kann.» Die Wissenschaftskommission der Charta sowie die Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft haben diese Aufgabe bereits zum Teil übernommen. Wie dieser Prozess systematisch unterstützt werden könnte, bedarf jedoch weiterer Diskussion.

Im Anschluss weist Paolo Migone wie immer auf Forschungsarbeiten hin, die im italienischen Journal Psicoterapia e Scienze Umane veröffentlicht wurden.

Jörg Clauers Artikel wurde als freier Beitrag aufgenommen. Der Autor beschreibt die Behandlung von somatoformen Störungen aus der Sicht der Körper- und Humanistischen Psychotherapie. Dabei geht er davon aus, dass jene Störungen auf eine frühe Störung zurückzuführen sind, bei der das Körperselbst nicht mit Emotionen im Beziehungserleben und deren Versprachlichung verknüpft wurde. Daher ist eine Förderung der Körperwahrnehmung aus dieser Sicht die grundlegende Basis für eine Heilung, die das Selbsterleben neu erfahren lässt. Nöte und Konflikte finden andere Ausdrucksformen und schliesslich auch gemeinsame Worte, die berühren. Schmerzen oder körperliches Leiden können äusseren Gegenständen oder Hilfspersonen zugeschrieben und neue sinnvollere Kontaktformen eingeübt werden.

Ein Bericht vom 50. Jahreskongress der Society for Psychotherapy Research zum Thema «The Future of Psychotherapy Research: Building on our 50 Year Legacy» in Buenos Aires vom 3. bis zum 6. Juli 2019 von Peter Schulthess sowie drei Buchbesprechungen runden das Heft ab.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

Rosmarie Barwinski & Mario Schlegel

Literatur

Buchmann, R. (2015). 25 Jahre «Strassburger Deklaration». à jour! –Psychotherapie Berufsentwicklung, 1(2), 15–17.

Erismann, M. (2016). Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Psychotherapiewissenschaft. Psychotherapie-Wissenschaft, 6(1), 6–16.

Pagel, G. (1991). Lacan zur Einführung. Hamburg: Junius.

Tschuschke, V., von Wyl, A., Koemeda-Lutz, M., Crameri, A., Schlegel, M. & Schulthess, P. (2016). Bedeutung der psychotherapeutischen Schulen heute. Geschichte und Ausblick anhand einer empirischen Untersuchung. Psychotherapeut, 61(1), 54–65. https://doi.org/10.1007/s00278-015-0067-y