Originalarbeit (Themenheft)

Dominique Lämmli

Make people think!

Zusammenfassung: Weltweit ist eine vermehrte Sichtbarkeit handlungsorientierter und realitätsverändernder Ansprüche künstlerischer Praxen erkennbar, die zunehmend in unterschiedlichsten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen wirken. Der Text gibt konkrete Beispiele und stellt diese in den Zusammenhang mit globalen Transformationsprozessen und sich verändernden Kunstverständnissen. Die paradigmatische Qualität dieser Veränderungen wirken zudem auf die Referenzsysteme unserer Wissensproduktion. Dies befördert Praxis-basierte und -geleitete Forschung sowie cross-, transkulturelle und –soziale Kollaborationen, so etwa bei der FOA-FLUX (foa-flux.net) Forschung zu Kunst in globalen Kontexten.

Schlüsselwörter: Bildende Kunst, Kunstpraxis, Kollaboration, Netzwerke, selbstverantwortliches Tun, Globalisierung, Meta-Wandel, Kunstforschung, Praxis-basierte und -geleitete Forschung

Make people think!

Summary: Worldwide there is an increased visibility of artistic practices making activity-orientated and reality-changing demands that increasingly impact on in the most diverse societal and scientific interrelationships. This text provides concrete examples and relates these to global transformation processes and a changing understanding of art. In addition, the paradigm quality of these changes, impact as a reference system for our knowledge production. This encourages practice-based and practice-guided research as well as cross-cultural, trans-cultural and social collaboration as is the case with the FOA-FLUX (foa-flux.net) research into art in global contexts.

Keywords: visual arts, art, art practice, collaboration, networks, personally accountable action, globalization, meta-change, research into art, practice-based and led research, activity-orientated, reality-changing.

Make people think!

Riassunto: A livello mondiale si assiste a una maggiore visibilità per le rivendicazioni di prassi artistiche orientate all'azione e che influenzano la realtà. Queste agiscono in modo crescente in diversi contesti sociali e scientifici. Il testo fornisce esempi concreti e li mette in relazione con processi di trasformazione globale e una comprensione dell'arte che sta mutando. La qualità paradigmatica di questi mutamenti si ripercuote inoltre sui sistemi di riferimento della nostra produzione del sapere. Questo promuove la ricerca orientata alla pratica e la ricerca guidata nonché collaborazioni trasversali, transculturali e sociali come ad esempio la ricerca FOA-FLUX (foa-flux.net) relativa all'arte in contesti globali.

Parole chiave: arte: (visiva), prassi artistica, collaborazione, reti, comportamento autoresponsabile, globalizzazione, meta trasformazione, ricerca artistica, ricerca orientata alla pratica e ricerca guidata, orientato all'azione, che influenza la realtà.

Dieser Text orientiert sich inhaltlich an meinem Vortrag am interdisziplinären Kongress der Schweizer Charta für Psychotherapie im Herbst 2014, an dem Fragen der Sozialisation und Emanzipation interdisziplinär diskutiert wurden. Als praktizierende Künstlerin, Lehrende und Forschende an der Zürcher Hochschule der Künste, Co-Gründerin und -Leiterin des unabhängigen Forschungsunternehmens FOA-FLUX (The Functions of Art in Global Context), das Kunst in globalen Kontexten untersucht, interessieren mich aktuelle und zukünftige Potentiale künstlerischer Arbeitsweisen. Im Zusammenhang mit dem Kongressthema scheint mir die weltweit vermehrte Sichtbarkeit handlungsorientierter und realitätsverändernder Ansprüche künstlerischer Praxen bemerkenswert. Diese sind vor dem Hintergrund der aktuellen Wandlungsprozesse der Kunstverständnisse zu sehen. Dazu möchte ich im Folgenden einen Einblick bieten.

Normierung oder Vielfältigkeit? Standardisierte Anpassung oder eigenverantwortliches Handeln? Für alle vier Stichworte liessen sich aktuelle Beispiele aus der Kunsttheorie, -praxis und -bildung anführen. Besonders bedeutsam erachte ich aber gegenwärtig die aktive Rolle, die Künstler/innen weltweit in unterschiedlichsten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen spielen – andernorts bezeichnete ich dies als „artists working reality“ (Lämmli, 2014). Einige dieser Aktivitäten werden auf der internationalen Bühne des Kunst- und Ausstellungsmarktes sichtbar, viele wirken lokal und in internationalen Netzwerken Gleichgesinnter. Diese Entwicklung ist vor allem auch bemerkenswert vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Wandlungsdruckes auf Kunstverständnisse und Kunstdiskurse.

Art in Action

Die letztjährigen von FOA-FLUX mit Partnern konzipierten und realisierten, forschungsbasierten Ausstellungen „Art in Action“ im Museum Bärengasse in Zürich und im Connecting Space in Hong Kong thematisierten solch realitätsorientierte Kunstnetzwerke und KünstlerInnengruppen. Dazu gehörten unter anderen Kër Thiossane, eine Forschungs-, Kunst- und Produktionsstätte in Dakar, Senegal; Bee Collective, ein niederländisches, interdisziplinäres Team, das eine solare Bienenstockvorrichtung für urbane Kontexte entwickelte; und das Flüchtlingsatelier in Zürich, in dem – aus politischen Gründen – im schweizerischen Exil lebende Personen aus unterschiedlichen Ländern ihre alltäglichen Lebensrealitäten, traumatischen Erfahrungen und politischen Haltungen thematisieren. An der Eröffnung in Hong Kong fand zudem die Premiere des Dokumentarfilms „Seni Gotong Royong“ des HackteriaLab 2014 in Yogyakarta, Indonesien, statt.

Hackteria

Hackteria wurde 2009 von einem internationalen und interdisziplinären Team, bestehend aus Andy Gracie, Marc Dusseiller und Yashas Shetty, gegründet. Ihre Webplattform (hackteria.org) bietet eine Sammlung sogenannter Open-Source-Biological-Art-Projekte und konkretes Know-how, wie einfach verfügbare technische Geräte, z. B. Webcams, in Laborequipment, z. B. Mikroskope, umfunktioniert werden können. So fördern sie aktiv „Nomadic Science“ und „Democratized Labs“ auch in weltweiten Kooperationen mit lokalen Gruppen. In ihrem White Paper (Kera & Dusseiller, 2014) distanzieren sie sich von einem kollaborativen Künstlermodell, welches sich an fertigen Produkten für Kunstanlässe orientiert. Demgegenüber favorisieren sie das Hackerspace-Kooperationsmodell. Darunter verstehen sie ein gemeinsames Arbeiten in temporären, unabhängigen Laboratorien und in interdisziplinären Gruppen, welche Forschende und Lehrende aus unterschiedlichen Wissenszusammenhängen und Interessierte zusammenführen. Diese Workshops sind zugleich Arbeits-, Austausch- und Präsentationsort. Die Projekte beginnen oft mit dem Aufbau offener Laborinfrastrukturen an Orten, wo entsprechende Einrichtungen fehlen. Erklärtermassen will Hackteria damit einen Beitrag zur Entmystifizierung wissenschaftlicher Laboratorien leisten sowie eine informierte Meinungsbildung und die „Citizen Science“-Bewegung fördern. Beteiligte erfahren, wie neues Wissen produziert wird, und diskutieren Gefahren und Möglichkeiten wissenschaftlicher und technischer Anwendungen. Neugierde, Do-it-yourself-(DIY-) und Do-it-with-others-(DIWO-)Praktiken werden gefördert. Hackteria-Aktivitäten mit der indonesischen Künstlergruppe Lifepatch resultierten unter anderem auch in der labortechnischen Bereitstellung und Befähigung zur Überwachung von Wasserqualitäten. Getestet wurden mobile Stosskarren, die sie in Anlehnung an die mobilen Koch- und Esswagen auf Indonesiens Strassen, den Angkringans, als Küchen-Labs bezeichnen.

My Stealthy Freedom

Ein weiteres Netzwerk, welches gezielt religiös und politisch motivierte Regulierungen des öffentlichen Raumes in Frage stellt, ist „My Stealthy Freedom“ (MSF). Diese Online-Bewegung, die mit der Aufschaltung einer Facebookseite der Journalistin Masih Alinejad begann, hatte bereits nach einer Woche über 140 000 Followers. Die Facebookseite ermutigt iranische Frauen, ihre Hijabs (Kopftücher) in öffentlichen Räumen auszuziehen, dies fotografisch festzuhalten und auf die MSF-Facebookseite aufzuschalten. Tausende von Frauen haben in der Folge entsprechende Bilder gepostet. Seit Kurzem sind auf der Facebookseite auch Videos zu sehen. Diese zeigen Spaziergänge von Frauen ohne Hijab durch Teherans Strassen. Als besonders bemerkenswert wird von den Aktivistinnen und der Presse herausgestellt, dass diese filmischen Sequenzen nicht nur die gesetzeswidrigen Aktionen zeigen, sondern auch die Reaktion männlicher Passanten. Masih Alinejad gibt die Rückmeldung einer Aktivistin wie folgt wieder: „Don’t be scared of men. They didn’t attack me or insult me. They smiled at me to show they support me. They stand with us.“ Diese Aussage ist im Zusammenhang mit der von iranischen Regierungsmitgliedern verbreiteten Behauptung zu sehen, dass Frauen, die sich ohne Hijab in öffentlichen Räumen aufhalten, unmittelbar gewalttätigen Attacken aufgrund ungebändigten männlichen Verlangens ausgesetzt seien. Masih Alinejad ist der Überzeugung, dass die Videos auf der MSF-Facebookseite die Bestrebungen der iranischen Regierung unterminieren, Angst als Unterdrückungswerkzeug gegen Frauen einzusetzen.

Bei MSFs direkten aktionistischen Interventionen taucht der Begriff Kunst nicht auf. Der Umgang mit realen Situationen, das Spiel mit Normen und Wahrnehmungen und die gezielte Generierung von Sichtbarkeit – aus unserer Forschungsperspektive ist es interessant, diese Online-Bewegung mit ausgewiesenen künstlerischen Praxen zu vergleichen. Zudem hat der Erfahrungsaustausch am diesjährigen von FOA-FLUX zusammen mit dem Srishti Institute of Art, Design and Technology und swissnex India organisierten Symposium „Art • Life • Technology“ in Bangalore, Indien, zwischen Künstlergruppierungen aus Hong Kong, Indonesien, Indien, Norwegen und andernorts Folgendes gezeigt: Oft wird das Wort Kunst oder künstlerische Praxis bei Projekten, die in soziale Zusammenhänge eingreifen, gezielt nicht kommuniziert. Als Grund dafür wurde angeben, dass der Kunstbegriff bloss Vorurteilen Vorschub leisten würde, die betreffende Aktion sei elitär, realitätsfern und nicht ernst zu nehmen.

Blank Noise

Ein weiteres Projekt, das sich mit frauenfeindlichen Bedingungen des öffentlichen Raumes auseinandersetzt, ist „Blank Noise“. Dieses Projekt begann vor über zehn Jahren als studentisches Abschlussprojekt an der Kunsthochschule Srishti Institute of Art, Design and Technology in Bangalore. Unterdessen ist „Blank Noise“ Teil der Srishti-Laboratorien (http://srishti.ac.in/centers-and-labs/blank-noise), weitum bekannt und international vernetzt. Zur Gründungszeit von „Blank Noise“ wurde sexuelle Gewalt gegen Frauen noch als „eve-teasing“ bewertet – als eine frivole, weit verbreitete übliche Anmache im öffentlichen Raum, welche Frauen zu erwarten und zu akzeptieren hatten. Unterdessen ist die sexuelle Gewalt gegen Frauen als ernst zu nehmendes und tief verwurzeltes soziales Problem in Indien erkannt – aber immer noch weit verbreitet. Inspiriert davon, wie Kunst und Design soziale Transformationsprozesse beeinflussen können, gründete Jasmeen Patheja 2003 „Blank Noise“, mit dem Ziel verändernd auf die gesellschaftlichen Vorurteile und Verhaltensweisen gegenüber Frauen einzuwirken. Dabei verwendet „Blank Noise“ eine Vielzahl an Strategien, wie theatralisches In-Szene-Setzen öffentlicher Proteste, Sammeln von Zeugenberichten, mediale Verbreitung von Vergehen, Promoten effektiver legaler Mechanismen. „Action Heroes“ von „Blank Noise“ sind bereit, sich den Strassenbelästigungen zu stellen, beispielsweise indem eine Gruppe junger Frauen sich auf einem öffentlichen Platz aufhält, gelassen, nichts tuend, um sich schauend – ein ansonsten für Frauen im indischen Kontext unübliches Verhalten. Damit werden nicht nur Sichtbarkeiten und eine öffentliche Diskussion angeregt, sondern die Teilnehmerinnen erleben eine Art „Empowerment“, ein Gefühl der Stärke, der Ermächtigung, sich Platz im öffentlichen Raum aneignen zu können.

Urban Farming, Hong Kong House of Stories und CultureAID

Die Liste handlungsorientierter und realitätsverändernder Beispiele der Kunst- oder kunstnahen Praxen liesse sich mit unzähligen Beispielen weiterführen. Etwa mit Urban-Farming-Projekten aus allen Kontinenten sowie der gezielten Förderung von horizontaler Wissensvermittlung und Kunsttraditionen, wie dies beispielsweise der Künstler, Performer und Direktor des Hong Kong House of Stories, Him Lo, in Hong Kong eindrücklich vorführt. Auch kunstpolitisch ist weltweit eine vermehrte Förderung realitätsorientierter Projekte erkennbar. So wurde beispielsweise Tom Finkelpearl im letzten Jahr vom New Yorker Bürgermeister Bill DeBlasio zum neuen Kommissar des New Yorker Department of Cultural Affairs (DCA) berufen. Tom Finkelpearl ist der ehemalige Direktor des Queens Museums, welches für seine gemeinschaftsorientierten Kunstprojekte bekannt ist. Mehrfach hat er zu Kunst und Gemeinschaftsprojekten publiziert. Neu im Amt, startete Finkelpearl bereits im letzten Herbst das Programm CultureAID NYC (Culture Active in Disasters), gemeinsam mit dem Office of Emergency Management. Das Programm will die wesentliche Rolle, die KünstlerInnen und künstlerische Organisationen während der Hilfsunterstützung im Nachgang des Megasturms Sandy im Jahre 2012 geleistet hatten, formalisieren – in Antizipation zukünftiger Katastrophen. CultureAID bietet ein organisiertes Kommunikations-system, das Personen, die Kunst in Anspruch nehmen, bei Katastrophen vernetzt und Aktivitäten koordiniert.

Zu Beginn dieses Textes habe ich darauf hingewiesen, dass diese handlungsorientierten und realitäts-verändernden Kunstpraxen vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Wandlungsdruckes auf Kunstverständnisse und Kunstdiskurse gesehen werden müssen. Im Folgenden werde ich hierzu einen Kurzeinblick bereitstellen und die Konsequenzen für die Forschung zu Kunst in globalen Kontexten aufzeigen.

But is it art?

Es gibt Akteure im Kunstkontext, die von der Krise der Kunst sprechen. Allerdings müsste hier genauer von der Krise eines bestimmten Kunstverständnisses gesprochen werden, dem die Vormachtstellung nicht mehr zugesprochen wird. Tatsächlich, wenn wir den Kunstdiskurs und die Kunstpraxis vergleichend betrachten, ergibt sich ein antagonistisches Bild. Werden die Kunstdiskurse gegenwärtig problematisiert – dies aufgrund sich überlappender unterschiedlicher Kunstverständnisse –, so eröffnen sich der künstlerischen Praxis andererseits zunehmend grössere Reichweiten und Möglichkeiten, weitet sich ihr Aktionsradius in andere disziplinäre und gesellschaftliche Bereiche zunehmend aus. Die vorherigen Beispiele zeigen nur einen kleinen Teil dieser sich stetig und rapide ausbreitenden Wirksamkeit künstlerischer Praxis. So hat die Kunstpraxis heutzutage wohl eine nie zuvor gesehene Signifikanz erreicht (Kahn, 2009).

Und doch wird von Kunstfachpersonen, wenn von Kunst in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen die Rede ist, oft die Frage gestellt, ob es sich dabei um Kunst-relevante Arbeiten handelt. Einige LeserInnen mag es verblüffen, dass zum Beispiel gemeinschaftsorientierte künstlerische Aktivitäten oft immer noch als qualitativ fragwürdig betrachtet werden, wie Tom Finkelpearl (2013) in seiner Darstellung zu Kunst und sozialer Kooperation bedauernd feststellt. Nicht von ungefähr hatte Mitte der 1990er-Jahre Nina Felshin ihre breit rezipierte Publikation zu Kunst als Aktivismus mit „But is it Art?“ betitelt. Erstaunlich, wo doch sonst so oft die Freiheit der Kunst und „anything goes“ hochgehalten wird. Wie in anderen Bereichen auch, waren und sind die Kunstwege aber bloss so breit oder eng wie vom Kanon akzeptiert. Aber den einen Kanon scheint es heute nicht mehr zu geben.

Kunst und globale Transformationsprozesse

Die viel diskutierten Globalisierungstendenzen und Wandlungsprozesse wirken auch auf die Kunst. Die stetig zunehmende Komplexität und Geschwindigkeit der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Vernetzungen und Abhängigkeiten seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts problematisieren auch viele Referenzsysteme der Wissensproduktion. Ulrich Beck (2007) hat deshalb von einem Meta-Wandel gesprochen. Zunehmend werden etablierte Referenzsysteme problematisiert, kritisiert, verändert oder als inadäquat erklärt. Der Kunstdiskurs blieb von diesen Entwicklungen nicht unverschont.

Diese Wandlungsprozesse werden aber erst seit wenigen Jahren im Kunstkontext breiter diskutiert. Die Herausgeber der einflussreichen Kunstzeitschrift „October“ der MIT Press führten eine Befragung zur vermeintlichen Unschärfe und Kriterienlosigkeit des Kunstdiskurses durch und publizierten die Rückmeldungen namhafter, in Europa und den USA tätiger KunsttheoretikerInnen und -kuratorInnen im Jahre 2009 unter dem Titel „The Contemporary“. Beitragende sind u. a. Okwui Enwezor, Leiter der documenta 11 und der 56. Biennale von Venedig, sowie der renommierte Kunsthistoriker Hans Belting. Die Diskussion wurde 2012 von der Organisation Asia Art Archive unter dem Titel „The and: expanded questionnaire on the contemporary“ (Asian Art Archive, 2012) in einen erweiterten geographischen Diskursrahmen geführt. Die Situationsbeschreibung in der erwähnten Ausgabe von „October“ enthielt die Feststellung, dass die Kategorie „The Contemporary“ keineswegs neu sei. Was sich jedoch geändert habe, sei der Inhalt dieser Kategorie: Die unter „contemporary art“ subsumierten Praktiken würden nicht mehr ausschliesslich auf der modernen und postmodernen Tradition, ihren Konzepten und Kriteriensets gründen. Damit wird darauf hingewiesen, dass auf einer faktischen Ebene durch den Gebrauch des Begriffes „contemporary art“, unter anderem als Bezeichnung für Museen, neue faktische Voraussetzungen geschaffen werden. Die Beiträge akzeptierten die Situationsbeschreibung und bewerteten die Beliebigkeit der Kunstkriterien, die nach Bedarf zur Legitimation des Marktes und institutioneller Ausstellungspolitiken herangezogen werden, als eine konzeptuelle Destabilisierung des Kunstdiskurses (Enwezor, 2009). Es wurde auch bedauert, dass Kunsttheorien ihre Relevanz verlieren (Elkins, 2009), zeitgenössische Kunstpraxis sich über den Globus hinweg ausdehnt und damit ein gefestigtes Kunstverständnis unterwandert (Belting, 2009).

Ob sich Kunst tatsächlich zunehmend global ausbreitet oder nicht schon von jeher überall präsent ist – die Antwort auf diese Frage hängt massgeblich vom jeweiligen vorausgesetzten Kunstverständnis ab. Die indische Kunsthistorikerin Parul Dave Mukherji (2014) wies jüngst darauf hin, dass die ideologisch geprägten Diskurse einer Kunstgeschichte, deren Wurzeln ins späte 18. Jahrhundert Europas zurückgehen, heutzutage in globalen Kontexten nicht die geeigneten theoretischen Rahmenbedingungen bieten. Auf den Punkt gebracht hat sie die Entwicklung mit der Frage: „What becomes of art history when the world shrinks into a planet?“

Zumindest eine Antwort lässt sich darauf bereits geben: Das „dörfliche“ Nebeneinander – der Medientheoretiker Marshall McLuhan prägte in den 1960er-Jahren den Begriff „Global Village“ – erzeugt die Sichtbarkeit und dadurch das Bewusstsein dafür, dass Kunst nie kontextlos ist. Kunst ist immer informiert von Konzepten und Annahmen – so unreflektiert diese auch sein mögen. Bloss in Zeiten, in denen Konzepte und Ideen auf ein generelles Einverständnis der meinungsbildenden Akteure stossen, kann so getan werden, als ob es kontextlose Kunst gäbe – und somit für alle geltende Richtlinien. Unsere gegenwärtige Zeit ist aber geprägt von multizentrischen Dynamiken und globalisierten Wandlungstendenzen, welche unterschiedliche Verständnisse in ein gegenseitiges Befragen verwickeln. Der Weg ist offen; einige, wie beispielsweise Arthur I. Miller (2014), behaupten, dass „art, science, and technology, as we know them today, will disappear“.

Methodologische Herausforderungen

Dass Konzepte, Bezugssysteme und Verständnisse problematisiert werden, stellt die Wissensproduktion vor epistemologische Probleme. Welche Konsequenzen muss eine Forschung zu Kunst in globalen Kontexten daraus ziehen?

Unser Forschungsunternehmen FOA-FLUX sah sich vor einigen Jahren mit dieser Frage konfrontiert. Wie können die Veränderungsprozesse der Kunst in globalen Kontexten praxisrelevant untersucht werden, ohne dabei auf „sinkende Schiffe“ – problematisierte und inadäquate Kunstkonzepte – setzen zu müssen. Mit einer Hands-on-Attitude und metatheoretischen Reflektionen haben wir sukzessive Forschungspraktiken getestet und dabei auch stetig Wissen generiert. Das „Wir“ im FOA-FLUX-Forschungszusammenhang ist dabei eine sich stetig erweiternde Gemeinschaft: Gearbeitet wird in temporären cross-, transkulturellen und -sozialen Gemeinschaften, wo Kunstakteure ihr Wissen austauschen und gegenseitig befragen sowie kollaborativ produzieren. Die Finanzierung einzelner Projekte wird zumeist von mehreren Partnern gemeinsam getragen, was sich direkt interessefördernd auswirkt. Zudem ist die FOA-FLUX-Forschung praxisbasiert – die künstlerischen Arbeiten sind die Basis des Wissensbeitrages – oder praxisgeleitet – die Forschung führt zu neuen Verständnissen der künstlerischen Praxis. Die aus der praktischen Forschung gewonnenen Erkenntnisse werden in den metatheoretischen Diskurs überführt, wo in der Folge Kunst in globalen Kontexten vergleichend thematisiert und rekonfiguriert wird. In diesem Sinne verstehen wir unsere Forschung auch als „informierte Forschung“.

Dank dieser Forschungsausrichtung sind wir nicht darauf angewiesen, unsere Forschung ausschliesslich aus der Sicht eines partikulären Kunstkonzeptes anzugehen, wie dies sonst immer noch oft für akademische Kunstforschung üblich ist. Vielmehr betreiben wir vergleichende Erörterung unterschiedlicher und sich überlappender Kunst- und Funktionszusammenhänge. Mit anderen Worten, es interessiert nicht die Frage „Was ist Kunst?“, sondern die Frage „Wozu Kunst?“. Die Forschungs-, Produktions- und Austauschprojekte zielen zudem auf die Generierung „dichten“ Wissens aller involvierten Personen, und zwar hinsichtlich ihrer jeweiligen Positionen, Kunstverständnisse und deren zukünftiger Potentiale.

Ein indischer Künstler und Performer, der am erwähnten Symposium „Art • Life • Technology“ teilgenommen hatte, zeigte sich anschliessend beeindruckt, dass vor allem jüngere Beitragende bei ihren Projekten auf reziproke Dialoge und Interaktionen hinweisen, das Teilen von Wissen und Produktionsmöglichkeiten hervorheben und auf humanere, nachhaltige Lebenskontexte hinarbeiten. Er fasste dies unter die Stichworte „humble and human“.

Autorin

Dominique Lämmli ist praktizierende Künstlerin, lehrend und forschend an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), Co-Gründerin und -Leiterin des Forschungsunternehmens FOA-FLUX (foa-flux.net).

Korrespondenz

Zweierstrasse 106, 8005 Zürich

E-Mail: dl@foa-flux.net

Literatur

Asian Art Archive (2012). The and: an expanded questionnaire on the contemporary. Field Notes 01. Hong Kong: Asian Art Archive. Verfügbar unter:

http://www.aaa.org.hk/cms/Content/upload/download/fieldnotes/fieldnotes_issue_01_single.pdf

Beck, U. (2007). Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Belting, H. (2009). Contemporary art as global art: a critical estimate. In: Belting, H., & Buddensieg, A. (Hrsg.), The global art world: audiences, markets, and museums (S. 38–73). Osterfildern: Hatje Cantz

Dave-Mukherji, P. (2014). Art history and its discontents in global times. In: Casid, J. H., & D’Souza, A. (Hrsg.), Art history in the wake of the global turn, Willamstown, Mass.: Sterling and Francine Clark Art Institute.

Elkins, J. (2009). Questionnaire. October, 130, 10–12.

Enwezor, O. (2009). Questionnaire. October, 130, 33–40.

Finkelpearl, T. (2013). What we made: conversations on art and social cooperation. Durham: Duke University Press.

Kera, D., & Dusseiller, M. (2014). Hackteria.org: Nomadic Science and Democratized Labs. SEAD Network for Sciences, Engineering, Arts and Design, White Papers. Verfügbar unter:

https://seadnetwork.wordpress.com/white-paper-abstracts/abstracts/hackteria-org-nomadic-science-and-democratized-labs/

Khan, S. (2009). Globalisierende Kunstmärkte: das Phänomen Kunst im 21. Jahrhundert aus globaler Perspektive; zum Ende des hegemonialen Anspruchs des westlichen Kunstsystems und zum Anfang einer post-globalen Kultur. Berlin: Lit.

Lämmli, D. (2014), Art in Action. Make people think! Reflections on current developments in art.

Verfügbar unter: foa-flux.net/texts.

Miller, A. I. (2014). Colliding worlds: how cutting-edge science is redefining contemporary art. New York: Norton.

October (2009). Questionnaire on “The Contemporary”. October, 130, 3–124.

Abbildungen

„Art in Action“, Ausstellungsansicht, Museum Bärengasse Zürich, Juli 2014, Bildquelle: foa-flux.net

 

„Art in Action“, Ausstellungsansicht, Museum Bärengasse Zürich, Juli 2014, Bildquelle: foa-flux.net

HackteriaLab 2014 – Yogyakarta, April 2014, Bildquelle: https://vimeo.com/92305560