Originalarbeit (Themenheft)

Walter Herzog

Emanzipation in Schule und Familie

Zusammenfassung: Der Begriff der Emanzipation spielt in der neueren Erziehungswissenschaft nur mehr eine geringe Rolle. Mit dem Bildungsbegriff steht jedoch eine Alternative zur Verfügung, die das kritische Potential des Emanzipationsbegriffs bewahren lässt. Wie sehr eine kritische pädagogische Haltung auch heute notwendig ist, wird anhand ausgewählter Beispiele aus dem schulischen und familiären Bereich aufgezeigt. Gegenüber der wachsenden Tendenz, Erziehung und Unterricht nach ihrem Output zu beurteilen und ihre Überwachung und Kontrolle zu intensivieren, wird daran erinnert, dass Bildung nicht machbar ist, sondern vom sich bildenden Subjekt selber geleistet werden muss.

Schlüsselwörter: Bildung, Bildungspolitik, Emanzipation, Helikoptereltern, Kompetenz, PISA

Emancipation in Schools and the Family

Summary: The concept of emancipation plays a limited role in the recent science of pedagogics. With the concept of education, all alternatives are available which preserve the critical potential of the emancipation concept. The extent to which a critical pedagogic attitude is also necessary today, will be illustrated by means of examples chosen from the schooling and familial domains. Countering the increasing tendency to judge education and teaching in terms of their output and so intensify surveillance and control, is a reminder that education is not doable but rather needs to be accomplished by the subject who is being educated.

Key words: education, the politics of education, emancipation, helicopter parents, competence, PISA

Emancipazione a scuola e nella famiglia

Riassunto: Il concetto dell'emancipazione ricopre un ruolo via e più minoritario nella nuova scienza dell'educazione. Il concetto di formazione offre tuttavia un'alternativa che consente di preservare il potenziale critico del concetto di emancipazione. Attraverso esempi selezionati del contesto scolastico e familiare, viene mostrato quanto anche oggi sia necessario un atteggiamento pedagogico critico. Di fronte alla crescente tendenza a valutare l'educazione e l'insegnamento in base al loro output e a intensificarne la sorveglianza e il controllo, si ricorda che la formazione non può essere creata, ma deve essere svolta dal soggetto in formazione.

Parole chiave: formazione, politica della formazione, emancipazione, genitori elicottero, competenza, PISA

Emanzipation hat sich als normgebender Begriff aus dem Vokabular der Erziehungswissenschaft weitgehend zurückgezogen. Das lässt sich etwa daran ablesen, dass in neueren pädagogischen Wörterbüchern Einträge zu Emanzipation fast völlig fehlen. Dafür verantwortlich ist ein Wandel im Selbstverständnis der Disziplin, die sich vermehrt als Sozialwissenschaft versteht, deren Aufgabe nicht in der Parteinahme für politische Zielsetzungen oder in der Forcierung eines historischen Prozesses liegt, sondern in der distanzierten Analyse pädagogischer Sachverhalte. Dem entspricht, dass der Erziehungswissenschaft von Seiten der Bildungspolitik in zunehmendem Mass eine dienende Funktion zugewiesen wird, die darin liegt, Informationen zur besseren Steuerung des Bildungssystems bereitzustellen. Ein kritischer Begriff wie derjenige der Emanzipation verliert damit nicht nur an Bedeutung, sondern auch an Legitimation.

Im Folgenden gehe ich zunächst auf die schwindende Akzeptanz des Emanzipationsbegriffs in der neueren Erziehungswissenschaft ein, um dann anhand ausgewählter Beispiele aus Schule und Familie die Notwendigkeit einer kritischen Funktion der Erziehungswissenschaft auch in unserer Zeit zu betonen. Dabei dient mir der Begriff der Bildung, in dem das kritische Potential des Emanzipationsbegriffs bewahrt wird, als Leitplanke.

Emanzipation und Bildung als kritische Kategorien

In den pädagogischen Diskurs wurde der Begriff der Emanzipation von der Kritischen Erziehungswissenschaft eingeführt (Mollenhauer, 1968). Aus der Entwicklung der Menschheit glaubte sie, einen zielbezogenen Prozess herauslesen zu können, der sich geschichtsphilosophisch legitimieren lässt. Dabei erfuhr der ursprünglich auf Individuen bezogene Begriff (Entlassung des Sklaven in die persönliche Freiheit oder des Sohnes aus der väterlichen Gewalt im römischen Recht) eine Umdeutung auf soziale Gruppen, zu deren Emanzipation aus Unterdrückung und Marginalisierung Bildung und Erziehung beitragen sollen.

Die Kritische Erziehungswissenschaft hat seit einigen Jahren stark an Einfluss verloren, wofür der Wandel im Selbstverständnis der Disziplin und der Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik gleichermassen verantwortlich sind. Im Falle der Bildungspolitik haben vergleichende Schulleistungsstudien wie TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study), PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) und PISA (Programme for International Student Assessment) zu einer „empirischen Wende“ geführt (Helmke & Hosenfeld, 2005, S. 127), die eine ganz andere Assoziation von Politik und Pädagogik zur Folge hat, als sie von der Kritischen Erziehungswissenschaft postuliert wurde. Als empirische Disziplin soll sich die Erziehungswissenschaft nicht länger am utopischen Programm der Verbesserung der Menschheit beteiligen, sondern durch ihre Forschung dazu beitragen, bildungspolitische Entscheidungen zu optimieren (Herzog, 2007, 2008, 2014). So geht das schweizerische Bildungsmonitoring, das von Bund (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation) und Kantonen (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren) gemeinsam getragen wird, davon aus, dass die Bildungsforschung Wissen zur Verfügung stellt, das der Politik eine bessere, nämlich „evidenzbasierte Steuerung des Bildungssystems“ (SKBF, 2010, S. 6) ermöglicht.

Auch wenn der Begriff der Emanzipation aufgrund der genannten Veränderungen im Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft und im Verhältnis von Bildungspolitik und Bildungsforschung an Bedeutung verloren hat, kann keine Rede davon sein, dass der Anspruch auf Emanzipation im ursprünglichen, aufs Individuum bezogenen Sinn pädagogisch ausgedient hätte. Zwar steht der Begriff aufgrund seiner jüngsten Geschichte in Gefahr, missverstanden zu werden. Im pädagogischen Diskurs gibt es aber spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine Alternative, um zu bezeichnen, was es mit dem Anliegen einer emanzipatorischen Erziehung auf sich hat. Diese Alternative liegt im Begriff der Bildung. Wie Emanzipation ist Bildung ein kritischer Begriff, der sich gegen die Vereinnahmung des Individuums durch Personen, Institutionen und Strukturen richtet und für die Selbstermächtigung des Menschen einsteht. Davon gehe ich bei meinen folgenden Überlegungen zu einigen Tendenzen in Schule und Familie aus.

Bildung vs. Kompetenz

Das auffälligste Merkmal der aktuellen Reformen im schweizerischen Bildungswesen ist der vorherrschende Hang zur Standardisierung und Normierung der Bedingungen von Schule und Unterricht. Das gilt für das HarmoS-Konkordat, das Reformprojekt der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), das trotz des Euphemismus der Harmonisierung nicht verbergen kann, dass es um die nationale Vereinheitlichung wesentlicher Parameter der obligatorischen Schule geht. Und es gilt für den Lehrplan 21, das Reformprojekt der Deutschschweizer EDK, das bis auf die Ebene des Lehrerhandelns festlegen will, wie schulischer Unterricht zu gestalten ist.

In beiden Fällen geht es aber nicht nur um die Angleichung und Vergleichbarmachung der Bedingungen, unter denen Schule und Unterricht stattfinden, sondern auch, wenn nicht in erster Linie, um die Homogenisierung dessen, was man ungeniert den schulischen Output nennt. Durch Festlegung verbindlicher Bildungsstandards nimmt das HarmoS-Konkordat die Schulen in die Pflicht, nicht nur anzustreben, sondern tatsächlich zu erreichen, was ihnen aufgetragen wird. Anders als bisherige Lehrpläne schreibt der Lehrplan 21 nicht vor, was die Lehrerinnen und Lehrer zu lehren haben, sondern was die Schülerinnen und Schüler lernen müssen. Dabei haben wir es mit nichts weniger als mit einem Paradigmenwechsel in Bezug auf unser Verständnis von Unterricht und Erziehung zu tun (Herzog, 2013).

Beim Lehrplan 21 steht in erster Linie der Kompetenzbegriff für den pädagogischen Paradigmenwechsel. Zwar kann uns kaum jemand verbindlich sagen, was unter Kompetenzen zu verstehen ist. Der Lehrplan 21 begnügt sich mit der lapidaren Aussage, dass Kompetenzen eine irgendwie geartete Verbindung von Wissen und Können sind, wobei dem Können jedoch der Primat zukommt. Einer Litanei gleich wird Seite um Seite ein Können an das andere gereiht, bis zu guter Letzt 453 Kompetenzen, die sich nach 3123 Kompetenzstufen differenzieren, heruntergebetet wurden (D-EDK, www.lehrplan.ch). Nicht mehr der Stoff steht im Vordergrund, sondern wie man mit ihm umgeht, was im Konkreten heisst, ob man ihn in variablen Situationen anwenden kann. War ein Lehrplan bisher ein Kanon von Lehrinhalten (Kunze, 2011), so ist der Lehrplan 21 eine massierte Anhäufung von Könnenserwartungen.

Damit bekräftigt der Lehrplan 21 den Akzent auf den schulischen Output, wie er von den Bildungsstandards vorgegeben wird. Der Lehrplan 21 beschreibt, „was Schülerinnen und Schüler am Ende von Unterrichtszyklen wissen und können sollen“ (D-EDK, 2014a, S. 4; Hervorhebung W.H.). „Die Kompetenzbeschreibungen lenken den Blick auf das Ende der Volksschule und beschreiben, was Schülerinnen und Schüler dann wissen und können“ (D-EDK, 2014b, S. 6; Hervorhebung W.H.). Der Output der Schule dominiert über den Input, die Zukunft der Kinder über ihre Gegenwart.

Darin unterscheidet sich der Kompetenzbegriff wesentlich vom Bildungsbegriff. Bildung, so hatte es Max Horkheimer (1985, S. 410) in Anlehnung an Hegel formuliert, ist Formung der menschlichen Natur im Medium der Arbeit, der Gemeinschaft und der Vernunft. Bildung bemisst sich nicht nach einem praktischen Können, sondern an der Verfügung des Individuums über sich selbst. Bildung ist Selbstermächtigung im Sinne der Entfaltung und Stärkung individueller Freiheit und Autonomie. Gebildet wird man allerdings nicht „durch das, was man ‚aus sich selbst macht‘, sondern einzig in der Hingabe an die Sache, in der intellektuellen Arbeit sowohl wie in der ihrer selbst bewussten Praxis“ (Horkheimer, 1985, S. 415). Bildung ist daher kein Weg in die Innerlichkeit, wie Horkheimer – wiederum in Anlehnung an Hegel – betont, sondern beruht auf Entäusserung. Bildung hat so gesehen immer einen doppelten Aspekt: einen sachlichen (objektiven) und einen personalen (subjektiven). Wer nicht bereit ist, aus sich herauszugehen und sich an eine Sache zu verlieren, um von dort her verwandelt wieder zu sich zu finden, wird nie erfahren, was Bildung heisst. Bildung ist Transformation der Person aufgrund von Erfahrungen, die uns tiefgreifend verändern. Für Bildung ist typisch, dass uns Vertrautes fremd wird, um später, wenn wir es wieder zu fassen vermögen, erneut zu etwas Eigenem zu werden (Bieri, 2011, S. 68).

Funktionalismus

Bildung, assoziiert mit Veränderung, ein emanzipatorischer Begriff, während man dies vom Kompetenzbegriff nicht sagen kann. Kompetenzen werden danach beurteilt, welchen Nutzen sie abwerfen. Das kann durchaus ein persönlicher Nutzen sein, doch im Vordergrund steht der gesellschaftliche Nutzen. Das lässt sich gut anhand der PISA-Studien belegen, die hinter den aktuellen Reformen im Bildungswesen nicht nur in der Schweiz, sondern auch anderswo stehen (Jakobi, 2007). Die Grundkonzeption von PISA, so schreibt die OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development), die Trägerin der PISA-Studien, ist auf den „Nachweis von Kenntnissen und Fähigkeiten in einer Form [gerichtet], die für das tägliche Leben relevant ist“ (OECD, 2001, S. 18). PISA legt den Schwerpunkt „auf Aspekte, die 15-Jährige in ihrem späteren Leben brauchen werden, und erhebt, was sie mit dem Gelernten anfangen können“ (OECD, 2001, S. 14; Hervorhebung W.H.). Erneut sehen wir, wie der Output die Perspektive auf das Bildungswesen dominiert. Aus Bildung wird Ausbildung, und dies bereits in der obligatorischen Schule, der bisher unwidersprochen ein allgemeinbildender Auftrag zugewiesen wurde.

Auf den Bildungsbegriff wird zwar nicht verzichtet, das scheint auch schwer möglich zu sein, aber er wird umdefiniert. Ausdrücklich ist von einem funktionalistischen Bildungsverständnis die Rede. Die PISA zugrunde liegende „Philosophie“ – so heisst es in einem Bericht des Deutschen PISA-Konsortiums – richte sich „auf die Funktionalität der bis zum Ende der Pflichtschulzeit erworbenen Kompetenzen für die Lebensbewältigung im jungen Erwachsenenalter und deren Anschlussfähigkeit für kontinuierliches Weiterlernen in der Lebensspanne“ (Baumert et al., 2001, S. 16).

Kein Bildungskonzept herkömmlicher Art, kein Bildungskanon und kein Ideal der Persönlichkeitsbildung begründen die Zielsetzung der PISA-Studien, sondern der krude Hinweis darauf, was von den Schülerinnen und Schülern „im späteren Leben“ erwartet wird. Aus Bildung wird Humankapital, eine Investition in die Volkswirtschaft, die immer mehr der Konkurrenz auf den globalen Märkten ausgesetzt ist (Fuchs, 2003, S. 170). Kindheit und Jugend verlieren den Charakter eines Moratoriums; der Ernst des Lebens gibt bereits im Schulzimmer den Ton an.

Phantasien der Machbarkeit

Aus dem emanzipatorischen Konzept Bildung ist die ökonomische Kategorie Humankapital geworden, die in einer wissensbasierten, globalisierten Wirtschaft einen Standortvorteil verspricht. Doch Schule und Unterricht werden nicht nur als Produktivkraft wahrgenommen, sondern scheinen sich auch der Produktionsweise ökonomischer Güter anzunähern. Zwar sind wir im deutschsprachigen Raum etwas zurückhaltender in der Wortwahl, das pädagogische Denken richtet sich aber auch bei uns zunehmend an technologischen Metaphern und kybernetischen Modellen aus.

Von der Outputorientierung war bereits die Rede, vom funktionalistischen Bildungsverständnis ebenfalls. Die Bildungsstandards, die im Rahmen von HarmoS eingeführt wurden, sind normative Vorgaben, die verbindlich festlegen, welches Leistungsniveau Schülerinnen und Schüler am Ende eines schulischen Zyklus mindestens erreichen müssen. Dabei lässt der Begriff der Schulleistung pikanterweise offen, als wessen Leistung der Output erachtet wird: als Leistung der Lernenden oder als Leistung der Lehrenden. Die international vergleichenden Schulleistungsstudien suggerieren schon durch die Wortwahl, Wirkursache des schulischen Outputs seien die Schulen selber und nicht die Schülerinnen und Schüler. Insofern Lehrpläne auf der Inputseite der Schule liegen, bewegen wir uns immer mehr in Richtung eines Verständnisses von Schule als kybernetischem Regulationssystem, das sich bis auf die Ebene der individuellen Lernprozesse durchsteuern lässt (Herzog, 2013, S. 53 ff.).

In den USA grassieren seit Beginn des 20. Jahrhunderts Analogien, die Schule und Unterricht mit industriellen Fertigungsprozessen gleichsetzen (Herzog, 2012). Der Taylorismus war eine eigentliche Inspirationsquelle für Bildungspolitiker und Bildungsforscher, die bemängelten, dass die Produktivität des amerikanischen Schulsystems hinter derjenigen der Stahl- oder Automobilindustrie zurückliegt. Auch die jüngsten Reformversuche, wie das „No-Child-Left-Behind“-Gesetz, gehen davon aus, dass das Bildungssystem nur dadurch verbessert werden kann, dass es dem strikten Regime einer testbasierten Outputkontrolle unterworfen wird. Dazu gehört, dass Schulen, Schulleitungen und Lehrkräfte zur Rechenschaft gezogen werden, wenn die Leistungen der Schülerinnen und Schüler nicht den durch Bildungsstandards festgelegten Erwartungen entsprechen. Das Lernen der Schüler wird damit in der Tat zur Leistung des Lehrens der Lehrer erklärt.

Obwohl sich mittlerweile kritische Stimmen zu Wort melden, wie etwa Diane Ravitch (2010) oder Pasi Sahlberg (2011), hält die Angleichung von Schule und Unterricht an die Logik der industriellen Fertigung auch bei uns Einzug. Die Einführung von Bildungsstandards im Rahmen von HarmoS und die Ausrichtung des Lehrplans 21 an Kompetenzen dienen letztlich nichts anderem als dem Nachweis, dass die Schule den Output tatsächlich erzeugt, den sie erzeugen soll.

Bildungsmonitoring

Durch standardbasierte Schulreform erfährt der Bildungsbegriff erneut eine radikale Umdeutung. Denn Bildung wäre auch insofern ein emanzipatorischer Begriff, als ihr Begriff dem Ansinnen, das Lernen eines Lernenden lasse sich durch das Lehren eines Lehrenden ursächlich erzeugen, widerspricht. Aufgrund seiner Herkunft aus der Mystik und der Subjektphilosophie ist der Begriff der Bildung kein transitiver, sondern ein intransitiver Begriff (Lichtenstein, 1966). Bildung ist nichts, was an einer anderen Person vollbracht werden kann, da jede und jeder nur für sich selber Subjekt von Bildung sein kann. Dieses intransitive und reflexive Verständnis von Bildung kommt uns zunehmend abhanden. Je mehr Schule und Unterricht in zweckrationalen, technologischen Kategorien gedacht werden, desto mehr gerät dieses wesentliche Moment des Bildungsbegriffs in Vergessenheit. Symptomatisch dafür sind auch die Normenkataloge, die inzwischen bereits im Vorschulbereich grassieren.

So umfasst der standardisierte Beurteilungsbogen, mit dem die Kindergärtnerinnen im Kanton St. Gallen jedes einzelne Kind zu beurteilen haben, 76 Items, die auf einer Ratingskala von 1 bis 4 zu bewerten sind (BD SG, 2009). Im Kanton Basel-Stadt sind es 72 Items, mit denen der Entwicklungsstand für jedes Kind jährlich festgehalten wird (ED BS, 2013). Im Kanton Uri sind es 70 Beispielitems, die nach Selbst-, Sozial- und Sachkompetenz zu 22 Lernzielen zusammengefasst werden (Lehrmittelverlag Uri, 2008). Auch im Kanton Aargau ist der Einschätzungsbogen Kindergarten nach Selbst-, Sozial- und Sachkompetenz differenziert, denen 13 verbindliche Richtziele zugeteilt sind, was zunächst als wenig erscheint (BKS AG, 2013). Den 13 Richtzielen sind aber insgesamt 45 Grobziele zugeordnet, für die zurzeit 175 Indikatoren vorliegen. Die Ratingskala ist auch hier vierstufig – von „fast immer erkennbar“ bis zu „noch selten erkennbar“.

Es mag seine Berechtigung haben, wenn Kinder zum Zweck der besseren Förderung genau beobachtet werden. Im Kontext der zuvor geschilderten bildungspolitischen Grosswetterlage ist jedoch Skepsis angezeigt. Nicht nur besteht die Gefahr von Fehlurteilen, auch der prognostische Wert solcher Frühdiagnosen ist unklar. Zudem befördern sie die Stigmatisierung und Pathologisierung von Kindern, die ausserhalb des Normbereichs liegen. Variabilität (ein Grundmerkmal von menschlichem Leben wie von Leben überhaupt) wird als Abweichung behandelt – eine fatale Tendenz, da sie immer mehr Kinder sonderpädagogischen und therapeutischen Behandlungen zuführt. Es stellt sich die Frage, ob die an engen Normen ausgerichtete standardisierte Beobachtung von Kindern in pädagogischen Institutionen tatsächlich im Interesse der Kinder erfolgt oder ob es nicht eher um eine strengere Kontrolle und Überwachung geht.

Skeptisch stimmt eine Passage im jüngsten Bildungsbericht Schweiz, wo es im Kapitel zur Vorschul- und Primarstufe heisst: „Aufgrund fehlender kohärenter Daten zum Output (Leistungen, Persönlichkeitsentwicklung, Sozialisation) und der Schwierigkeit, den Input (zeitliche und personale Ressourcen) adäquat zu erfassen, können für die Vorschul- und Primarstufe … keine Effizienzaussagen gemacht werden“ (SKBF, 2014, S. 76). Das Bedauern der Autoren ist spürbar, ebenso das Ziel, das sie verfolgen, nämlich genau solche Effizienzaussagen künftig machen zu können. Diese würden darin bestehen, den Input so mit dem Output zu verknüpfen, dass sich feststellen lässt, welcher Input unter sonst gleichen Bedingungen den kostengünstigeren Output erzeugt. Von Förderung der Kinder ist im Kontext des schweizerischen Bildungsmonitorings jedenfalls nicht die Rede!

Helikoptereltern

Der Begriff des Bildungsmonitorings spricht für sich. Monitore sind Überwachungsgeräte, von denen in unserer Kontrollgesellschaft täglich mehr installiert werden. Wenn auch das institutionelle Bildungswesen einem Monitoring unterworfen wird, dann heisst dies, dass auch hier mehr überwacht und kontrolliert werden soll. Das bestätigt sich, wenn wir danach fragen, was unter einem Bildungsmonitoring genau zu verstehen ist. Ein Bildungsmonitoring, so sagt uns ein Eintrag in der „Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online“, ist „ein kontinuierlicher, überwiegend datengestützter Beobachtungs- und Analyseprozess des Bildungssystems insgesamt sowie einzelner seiner Bereiche bzw. Teile zum Zweck der Information von Bildungspolitik und Öffentlichkeit über Rahmenbedingungen, Verlaufsmerkmale, Ergebnisse und Erträge von Bildungsprozessen“ (Döbert, 2009, S. 3).

Dabei scheinen nicht nur Politiker für eine solche Dauerüberwachung pädagogischer Institutionen einzustehen. Kürzlich hat das Bundesamt für Statistik ein Ergebnis seiner jährlichen Haushaltbefragungen bei schweizerischen Arbeitskräften (SAKE-Erhebung) bekannt gegeben. Danach ist das Ausmass an Zeit, das Mütter und Väter für die Betreuung ihrer Kinder aufwenden, über die vergangenen Jahre gestiegen (Neue Zürcher Zeitung, 31. Mai 2014, S. 13). Trotz wachsender Erwerbsbeteiligung der Frauen, nehmen sich Eltern offenbar nicht weniger, sondern mehr Zeit für ihre Kinder. Pädagogisch könnte man erfreut sein, wenn dem nicht entgegenstünde, dass die aufgewendete Zeit grossenteils Überwachungszeit ist.

In den USA kennt man seit einiger Zeit den Begriff der „helicopter parents“, der sich auch bei uns einzubürgern scheint. Helikoptereltern sind Väter und Mütter, die wie Hubschrauber ständig über ihren Kindern schwirren, um zu beobachten, was sie gerade tun, und jederzeit verfügbar zu sein, falls ihr Kind Hilfe benötigt. Sie begleiten ihren Sprössling zum Spielplatz, beaufsichtigen ihn beim Spielen, fahren ihn zur Schule, holen ihn wieder ab, bringen ihn zur Klavierstunde, zum Fussballtraining und zum Kinderyoga, arrangieren Nachhilfe, wenn die Schulleistungen abfallen, sind bei jedem Anlass dabei, den ihr Kind besucht, kennen nicht nur seine Freunde, sondern auch die Berufe ihrer Eltern etc. – alles mit gutem Willen und selbstverständlich in bester Absicht. Denn das Kind soll sich optimal entwickeln können, damit ihm im späteren Leben ein Logenplatz in der Gesellschaft sicher ist.

Angetrieben von einer Bildungspanik, wie es Heinz Bude (2011) nennt, verfolgen Eltern die Entwicklung ihres Kindes wie ein Projekt, das oft schon intrauterin evaluiert wird und auf keinen Fall scheitern darf. Ein Machbarkeitswahn macht sich breit, der – ganz im Sinne der standardbasierten Schulreform – in den Kindern ein industrialisierbares Optimierungsproblem sieht. Zwar steht man für die Rechte des Kindes ein, doch faktisch wird der Subjektstatus der Kinder untergraben. Als Objekte der Sorge verlangen sie die permanente Wachsamkeit der Eltern. Kinder nehmen sich aus wie ein Traum, der in Erfüllung geht, wenn man es nur richtig anstellt.

Emanzipieren wir uns

Vielleicht übertreibe ich etwas. Es ist auch nicht leicht zu sagen, wie weit die Entwicklung schon gediehen ist. Gegenüber HarmoS gibt es Widerstand, ebenso gegenüber dem Lehrplan 21. Auch die Beobachtungsbögen, die im Vorschulbereich zum Einsatz kommen, sind in die mediale Kritik geraten. Gegenüber dem, was in den Familien geschieht, gibt es jedoch kaum Widerstand, da die Familie als Privatsphäre gilt.

In psychologischer Hinsicht ist die Überwachungs- und Helikoptermentalität, wie sie sich in unseren Schulen und Familien breit macht, problematisch, da sie verhindert, dass Kinder noch im strengen Sinn Erfahrungen machen können. Erfahrungen haben ein Moment des Unerwarteten und Unberechenbaren an sich. Sie durchkreuzen Erwartungen, womit sichtbar wird, welche Bedeutung ihnen für Bildungsprozesse zukommt. Denn der negative Ausgang einer Erfahrung konfrontiert uns mit uns selbst. „Die negative Erfahrung, dass es sich anders verhält, als wir erwartet haben, diese Enttäuschung unserer naiven Antizipation, diese Entfremdung von unserem ursprünglichen Wähnen, sie ist es, die uns mit uns selbst konfrontiert und uns ineins mit einer Belehrung über die Dinge über uns selbst belehrt“ (Buck, 1984, S. 189). In der Negation einer Erwartung erfahre ich nicht nur etwas über einen Gegenstand, sondern auch etwas über mich selbst. Daher werden Kinder, wo ihr Lebensraum pädagogisch durcharrangiert wird, daran gehindert, Erfahrungen zu machen. Wo alles normiert, geplant, vermessen und überwacht wird, da gibt es nichts mehr zu lernen, ausser dem, was das pädagogische Arrangement vorgibt. Eine durchorganisierte Kindheit entzieht den Kindern die Freiheit, die sie brauchen, um sich die Welt aktiv anzueignen, d. h., um sich zu bilden.

Dass Eltern zu viel tun könnten für ihre Kinder, ist ein Gedanke, der sich ihnen ebenso schwer abringen lässt wie Bildungspolitikern das Eingeständnis, dass es für einmal besser sein könnte, die Schule in Ruhe zu lassen. Ein Übermass an Zuwendung, Betreuung und Förderung kann kontraproduktiv sein, nicht nur, weil es die Kinder überfordert, sondern, weil es ihrer Bildung zuwiderläuft. Vergessen geht im Überborden der Kontrollambitionen, dass Bildung selber gemacht werden muss, wobei das Selbermachen allerdings kein Alleinmachen meint. Wenn auch Bildung nicht hergestellt werden kann, so ist sie auf Auseinandersetzung und Gegenseitigkeit angewiesen (Herzog, 2002). Bildung ist zwar ein individueller Prozess, der aber eingebettet ist in soziale Beziehungen, ohne die pädagogisches Handeln weder in der Familie noch in der Schule möglich ist.

Es wäre nostalgisch, wenn ich behaupten wollte, die Idee der Bildung sei jemals unbestritten gewesen. Doch bisher haben wir immer einen Weg gefunden, um die kulturellen, sozialen und politischen Aspekte des Bildungsbegriffs gegen die rein wirtschaftlichen Interessen an der Schule stark zu halten. Soll sich dies in unserer Zeit und unter unseren Augen ändern?

„Emanzipieren wir uns!“ würde in pädagogischer Hinsicht heissen, dass wir uns von den Standardisierungs- und Normierungszumutungen, wie sie in Schule und Familie in jüngster Zeit überhandnehmen, befreien. Nehmen wir wieder ernst, was Bildung einmal bedeutete, nämlich nicht nur das schiere Gegenteil von Machbarkeit, sondern auch die Überzeugung, dass wir pädagogisch etwas tun können, um die Menschen in ihrer Subjektivität zu stärken.

Autor

Walter Herzog, geb. 1949. Studium der Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Philosophie an der Universität Zürich. 1975 Lizentiat, 1980 Doktorat und 1986 Habilitation an der Universität Zürich. 1988 Research Fellow am Institute of Human Development der University of California in Berkeley (Stipendium SNF). 1989–1991 Assistenzprofessor für Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Pädagogischen Psychologie an der Universität Zürich, 1991–2015 Ordinarius für Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Pädagogischen Psychologie, Didaktik und Schulforschung an der Universität Bern. 2000–2004 Präsident der Konferenz der Lehrerinnen- und Lehrerbildung des Kantons Bern, 2004–2005 Präsident des Gründungsschulrats und 2005–2007 Präsident des Schulrats der Pädagogischen Hochschule Bern.

Korrespondenz

Jägerweg 16

3097 Liebefeld

E-Mail: walter.herzog@edu.unibe.ch

Literatur

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