Editorial

Peter Müller-Locher, Margit Koemeda-Lutz

Emanzipieren wir uns!

Der Gesetzgebungsprozess rund um den Psychotherapie-Beruf tendiert dazu, die Wahrnehmung und die Praxis dieses Berufs einzuschränken – dabei wirft namentlich seine Interpretation als reiner Heilberuf im Dienste der Krankenkassen Fragen grundsätzlicher Art auf. Das Psychotherapieverständnis der Schweizer Charta macht jedoch bei einer Medizin-zentrierten Fokussierung der Psychotherapie nicht Halt. Denn die Psychotherapie hat nicht nur ein kuratives, sondern auch ein emanzipatorisches Interesse: Angesichts stetig wachsender psychopathologischer Befunde, psychiatrischer Diagnosen und störungsspezifischer Behandlungsweisen erscheint es zwingend, unter dem Stichwort der Emanzipation an die Entwicklung und Entfaltung von Persönlichkeit zu erinnern. Dieses emanzipatorische Interesse teilt die Psychotherapie mit vielen anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen.

Zum Psychotherapieverständnis der Schweizer Charta gehört nach wie vor dessen interdisziplinäre Verortung. Auch wenn nun die Studiengänge der Medizin oder der Psychologie zwingende Voraussetzungen sind, um psychotherapeutisch tätig werden zu dürfen, verfolgt die Charta in ihrem Wissenschaftsverständnis weiterhin einen interdisziplinären Ansatz. Philosophie, Theologie, Soziologie, Ethnologie, Pädagogik, Literatur-, Kunst- und andere Sozialwissenschaften etc. bilden ebenso den Reigen des Wissens- und Erfahrungsschatzes für das Psychische wie die Medizin und die Psychologie.

Der Zeitpunkt scheint daher günstig zu sein, drei Desiderate zu verbinden: erstens, die Verankerung der Psychotherapie in der aufklärerischen Emanzipation in Erinnerung zu rufen, zweitens, ihre interdisziplinäre Verbundenheit mit den erwähnten Wissenschaften abzurufen und produktiv zu machen, und drittens, auf eigene Wege der genannten kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zur Entwicklung der Psyche aufmerksam zu machen. Alles mit dem Ziel, die gemeinsamen Interessen verwandter Disziplinen öffentlichkeitswirksam zu diskutieren und zu stärken sowie voneinander zu lernen.

Am 7. und 8. November 2014 fand unter dem Aufruf „Emanzipieren wir uns!“ ein Interdisziplinärer Kongress der Schweizer Charta für Psychotherapie in Zürich statt.

Die Vorträge wurden auf Video aufgenommen. Über die Charta-Website (psychotherapiecharta.ch) sind die Vorträge zu sehen und zu hören. In diesem Heft sind sie nun auch als Texte zu lesen.

Der Freitagnachmittag war dem Austausch unter den Tagungsteilnehmern gewidmet. Es wurde über den persönlichen Zugang zur Tagungsthematik, d.h. die Geschichte und Gegenwart der eigenen Sozialisation und Emanzipation, gesprochen. Mit der Methode des „Worldcafé“ gelang es dem Moderator Beat Bucher, die Teilnehmer in freier, wechselnder Besetzung an sechs Tischen zu sechs Fragen zu Wort kommen zu lassen und ihre Erkenntnisse auf den papierenen Tischtüchern auch zu verschriftlichen. In den Blick genommen wurden sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart des Erlebens von Emanzipation, deren Bedeutung sowohl in der persönlichen als auch in der professionellen Welt, und nicht zuletzt auch das Nachdenken über Sinn und Zweck sowohl des Emanzipatorischen als auch dessen Fehlen oder dessen Gegenteil.

Am Samstag wurde ein disziplinärer Zugang zur Thematik verfolgt. Drei Leitgedanken standen dabei im Vordergrund:

In kurzen und dichten Vorträgen setzten sich die Referierenden mit diesen Tendenzvermutungen aus der Sicht ihrer Disziplinen und ihrer persönlichen Wahrnehmung auseinander. Sie suchten, wenn sie diese Hypothesen teilten, nach deren Ursachen und erwogen deren Folgen. Sie stellten sich der Frage, wie sie in ihrem Bildungsauftrag die Vermittlung einer verantwortungsbereiten Lebensweise anstreben – für ihre Studierenden und späteren Professionsangehörigen und deren Klientel; alles unter dem Spannungsbogen von Sozialisation und Emanzipation.

Denn auch der Charta geht es in ihrem Weiterbildungsverständnis mit Akzent auf einer recht verstandenen Selbsterfahrung nicht einfach um die Anwendung einer psychotherapeutischen Methode auf die eigene Person und um ein Methodenlernen, sondern um eine Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, um Emanzipation.

Der Kongress, kompetent moderiert von Beat Bucher und luzide kommentiert von der Kongressbeobachterin Lisa Schmuckli, rief dazu auf, die emanzipatorischen Aspekte eines der Aufklärung verpflichteten Psychotherapieverständnisses wieder vermehrt zu beachten. Dazu brauchen wir den interdisziplinären Austausch und er uns.

Gegenüber einer zunehmenden Tendenz, Erziehung und Unterricht nach ihrem Ergebnis zu beurteilen und deren Überwachung und Kontrolle zu intensivieren, erinnert W. Herzog in seinem Beitrag daran, dass Bildung nicht machbar, sondern vom sich bildenden Subjekt selber zu leisten ist.

H.-R. Schärer weist ebenfalls auf die an den beiden Grossprojekten „HarmoS-Konkordat“ und „Lehrplan 21“ sichtbar werdende Tendenz hin, die Normativität des schulischen Unterrichts auszubauen, und zeigt auf, wie die Pädagogische Hochschule Luzern angesichts dieses Trends einerseits proaktiv selbst einen Referenzrahmen entwickelte, um die beiden Reformprojekte zu unterstützen, und andererseits mit bestimmten Projekten und Organisationsgefäßen auch bewusst Akzente setzt, die im Sinne von T. W. Adorno einer „Erziehung zur Mündigkeit“ dienen.

D. Lämmli zeigt anhand verschiedener Beispiele, wie KünstlerInnen weltweit in unterschiedlichsten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontexten eine aktive Rolle spielen, interkulturell zusammenarbeiten, damit die Festlegung auf partikuläre Kunstkonzepte überwinden, und stattdessen eine vergleichende Erörterung unterschiedlicher sich überlappender Kunst- und Funktionszusammenhänge ermöglichen.

I. Noth weist auf das Befreiungspotenzial in Religion und Seelsorge hin, ruft aber auch zur fortwährenden Reflexion der Motivationen ihrer Vermittler auf.

J. Kriz empfiehlt für einen emanzipatorischen Fortschritt in Psychologie und Psychotherapie die Überwindung des mechanistisch-kausalen Weltbildes. Der zunehmenden Komplexität lebensweltlicher Prozesse, in die moderne Menschen eingebunden sind, würden entwicklungsorientierte, dynamische und selbstorganisierende Prozesse berücksichtigende Modelle im Kontext eines interdisziplinären Verständnisses wesentlich besser gerecht.

U. Mäder zeigt an verschiedenen Beispielen, wie die Soziologie als kritische Wissenschaft Gesellschaftsanalysen – des sozialen Wandels, bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse und Machtgefüge – durchzuführen in der Lage ist, mit dem Ziel einer emanzipatorischen Sozialisation sowie der sozialen Teilhabe und Existenzsicherung für alle Menschen. Aktuell beobachtbare gegenläufige Prozesse der Individualisierung, Prekarisierung und Flexibilisierung werden beschrieben und mit einer zunehmenden Prävalenz von depressiven Erkrankungen in Zusammenhang gebracht.

P. Schulthess schliesslich beleuchtet die wechselwirksame Verschränkung von Psychotherapie und Politik. Psychotherapeutische Herangehensweisen, die Heilung nicht in erster Linie und ausschliesslich als (Wieder-) Anpassung an gesellschaftliche Normen verstehen, sondern auch persönlichkeitsentfaltende und emanzipatorische Ziele im Blick behalten, sind politisch. Eine – unter mehreren – der Möglichkeiten, subjektives Leiden an der Gesellschaft zu verringern, besteht darin, Menschen zu ermutigen, verändernd auf ihre Umwelt einzuwirken.