Rezension
Nicola Gianinazzi
Orth, Ilse; Petzold, Hilarion G.; Sieper, Johanna: Mythen, Macht und Psychotherapie
Therapie als Praxis kritischer Kulturarbeit
AISTHESIS psyche Band 1, Bielefeld, 2014
In Ko-Reflexion mit Saul Branca und Ferruccio Marcoli
Einleitung
Es ist der dritte Tag nach den Attentaten von Paris am 13. November 2015. In diesen Tagen erhielt ich von Peter Schulthess anlässlich eines Abendessens zum Jahresende diese neue Publikation des Verlagshauses Aisthesis in Bielefeld. Das Buch erschien in der Reihe „Psyche“, wie es der Wunsch Petzolds und seinerzeit auch der von Klaus Grawe war. Peter ist Präsident der (transtheoretischen) Schweizer Charta für Psychotherapie, und es war auch in diesem transtheoretischen Kontext, als ich vor einigen Jahren Prof. Petzold kennenlernte, den ich nun mit Freude lese und rezensiere.
Das Buch besteht aus einer Sammlung von Artikeln, Vorträgen und Interviews, zum grössten Teil von Petzold, die in Zusammenarbeit mit den beiden anderen Co-Autorinnen von ihm herausgegeben oder verfasst wurden und den Zeitraum von 1994 bis 2012 umspannen.
In diesem gewaltigen und ehrgeizigen Werk finde ich gleich das Leitmotiv, das mich motiviert, mich in die Lektüre zu stürzen: Die Psychotherapie ist nicht frei von internen und externen Machtdynamiken, die erkannt werden müssen, und sie kann sich deshalb auch nicht der Aufgabe entziehen, ihre eigene emanzipatorische Dimension anzunehmen. Die kritische Kulturarbeit, die sie in und um sich selbst leistet, ist und wird eine regelrechte Therapie der Psychotherapie oder – wie ein Freud unserer Zeit es sagen würde, der freier als mancher seiner Jünger war – ein Prozess der Selbstanalyse.
Diese Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Psychodynamik der Macht, die zu relativieren ist, um integrative, schulenübergreifende, transtheoretische oder ökumenische Prozesse zu fördern, scheint mir deshalb auch für eine Wiederherstellung des Dialogs zwischen Gesellschaft, Zivilisation und Religionen, zwischen Kulturen und Natur, zwischen Technologie und Ökologie unverzichtbar.
Man versteht also, warum ein Werk wie dieses ein wissenschaftlicher Nährboden sein kann für Prozesse wie die von Cionini beschriebene und von Institutionen wie der Sigmund-Freud-Privatuniversität oder der Charta selbst vorangetriebene assimilative Integration oder die von der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten letztes Jahr begonnene schulenübergreifende integrale Akkreditierung durch den Bund.
Man kann verstehen, warum ich ein besonderes Augenmerk auf einen Titel auf S. 619 richte, der sich auf eben diese „Death-Metal“-Subkultur bezieht, die direktes Ziel des grausamen Attentats im Bataclan war.
Von der Form nun zum Inhalt dieses Buches:
AVorwort und Einführung von 1999, 2013 und 2014 (etwa hundert Seiten)
BEin erster Teil ist den Ideologien und Mythen in der Psychotherapie gewidmet
CDer zweite der Dimension der Macht
DEin dritter und letzter Teil befasst sich mit der Kulturkritik bzw. Kritik der Kulturen und der Kulturarbeit mit Patientinnen und Patienten als engagierte Praxis
EZwei sehr reichhaltige Bibliographien mit jeweils hundert Seiten.
AEinführung, Vorwort und Prolegomenon
Aus dem Vorwort und der Einführung von 1999 und 2013 entnehmen wir, wie sehr die Vernunft (im Sinne der kantischen) eine solche innovative Philosophie, Epistemologie, Ethik und Praxis der Psychotherapie begründen kann und muss.
In seinen kritischen Reflexionen lässt sich Petzold von Philosophen1 wie Derrida, Foucault, Deleuze, Lévinas, Habermas, Ricoeur, Merleau-Ponty et alia inspirieren, die sich mit dem Individuum wie der Welt, dem Denken wie dem Handeln (einschliesslich sozialpolitischem) beschäftigten. Von einigen, wie Klaus Grawe, konnte der Autor Vorlesungen besuchen oder mit ihnen auf unterschiedlichen Ebenen zusammenarbeiten.
Die Psychotherapie ist also ein Kulturprodukt und erzeugt – rekursiv in der Therapeut-Patient-Beziehung, die in ihrer Korrespondenz inbegriffen ist – Kultur und muss deshalb auch in ihren Forschungsmethoden und ihren Anwendungen kritisiert werden. Nur eine transversale – inter- und transdisziplinäre – Vernunft kann vor exzessiven selbstmythologisierenden (wie einigen Entwicklungen in der freudianischen und jungianischen Psychologie) oder kulturell nihilistischen Auswüchsen, wie dem „Death Metal“, schützen.
Auf diesen Seiten herrscht eine grosse und bemerkenswerte Ausgewogenheit der Kritik und Selbstkritik aller psychotherapeutischer Richtungen: Die Analyse und die philosophisch-kulturelle (sozialpolitische) Kritik erstrecken sich auf die Psychoanalyse sowie den Kognitivismus, die Humantherapien sowie die Integrative Psychotherapie selbst, die die AutorInnen in 40 Jahren klinischer Praxis und Ausbildungstätigkeit (Vorlesungen, Supervisionen etc.) gegründet und entwickelt haben. Auf der anderen Seite kommt man fast zwangsläufig mit der politischen Geschichte unseres Berufs in Berührung – die von Machtspielen und wirtschaftlichen Interessen durchzogen ist, – insbesondere in Deutschland.
Es gibt natürlich heftige, doch gut ausgeführte Passagen, die der Psychoanalyse – orthodoxen, „mainstream“ und verschiedenen Strömungen – gewidmet sind, aber auch die Gestalttherapie und die Systemische Therapie werden wegen eines gewissen Dogmatismus und ihrer „Pastorale der Kontrolle“ sowie auch wegen der widersprüchlichen Angewohnheit, „Dogmen“ im Laufe der Jahrzehnte zu ändern, von der Kritik getroffen: Eine gesunde Demokratie und Relativierung der eigenen Positionen würde allen gut tun. Ein Beispiel unter anderen ist die Blindheit Freuds und seiner Anhänger gegenüber der Analogie des traumatischen Schmerzes der väterlichen Beschneidung und dem der Mutter bei der Geburt.
Auch in diesen Kapiteln heftiger Kritik ist jedoch das von Petzold in der Einführung erläuterte anti-synecdochische Prinzip anzuwenden: Es darf kein „pars pro toto“ gelten.
BIdeologien und Mythen
In diesem ersten Teil – dem ein Prolegomenon vorausgeht: Gespräch zwischen Deleuze und Foucault – wird gern und oft Bezug auf die Philosophen Lévinas und Habermas genommen, auch beim Gedanken einer therapeutischen Beziehung auf der Basis von Konzepten wie Partnerschaft, Altruismus (aber keineswegs in der Bedeutung von naiv oder Bonismus, sondern philosophisch gut begründet, S. 557), Solidarität und „engagiertes Handeln“ innerhalb und ausserhalb des Settings versus einer exzessiven Medizinalisierung und Normalisierung des Klienten/Patienten. (Nebenbei gesagt, ist die Beachtung, die auch einer Figur wie Bion und seiner Arbeit mit den therapeutischen Kriegs-Gruppen geschenkt wird, interessant.)
Eröffnet wird dieser Teil mit einem bissigen Beitrag von Ellis über drei pseudo-therapeutische Mythen, um dann zu einer differenzierten Vertiefung (ausgehend von Grawe, der allerdings sehr abgeschwächt wird) der Notwendigkeit von – ausreichend gesunden und selbstkritischen – Identitäts-Schulen im Inneren eines Behälters, der von der akademischen psychotherapeutischen Wissenschaft, auch in ihrer Dimension der Kulturwissenschaft, gebildet sein müsste. Ein entschiedenes Nein also zum Modell der „allgemeinen Psychotherapie“ von Seiten der Integrativen Psychotherapie, aber auch eine aufmerksame Analyse der in den Schulen präsenten – ich würde sagen, wo immer sich Gruppen bilden und leben – „ekklesiologischen“ Elemente und Dynamiken, die seinerzeit bereits von Freud festgestellt wurden. Nicht die Religionen werden angegriffen, sondern die oft nicht reflektierten oder nicht einmal bemerkten pseudo-religiösen Strukturen.
Insbesondere werden empirische Überprüfungen gefordert, zum Beispiel mancher noch praktizierter steriler archäologischer Tätigkeiten in der Vergangenheit des Patienten, die sich als wenig effizient erwiesen haben, während eine grössere kreative und integrative Aufmerksamkeit für effiziente Aktualisierungen notwendig wäre: im Setting und ausserhalb davon.
Stark zusammengefasst, führt Petzold hingegen einen (hermeneutisch-dialektisch-kritischen) Diskurs zu Gunsten einer komplexen, multifaktoriellen und individualisierten – nicht simpliciter verallgemeinerbaren – aber nicht individualistischen, sondern altruistisch auf die sozial-ökonomischen und politischen Bereiche, in denen unsere Patienten leben, ausgerichteten Humantherapie weiter (diesbezüglich wurde auch der Neologismus „Hominität“ geprägt). Das Attribut „human“ ermöglicht es – und das wäre nicht wenig –, den hingegen vom Begriff „psyché“ ins Feld geführten Dualismus klar zu überwinden.
CIdeologie und Macht
Dieser Teil beginnt mit einem bemerkenswerten Beitrag von Paul Parin, der das Ergebnis eines 1994 erschienenen Interviews von Petzold mit Parin ist.
In diesem Interview, das ebenfalls der Macht und ihrer Verästelung gewidmet ist, werden Analogien nicht nur mit der ekklesialen Macht hervorgehoben, sondern auch mit der Entstehung der Ersten Internationale, die noch von Marx selbst organisiert wurde.
Daraus leiten sich die gleichen Tendenzen zur Bürokratisierung, Normierung und Kastration von Kreativität und Innovation ab, ohne dabei andererseits die technokratischen und kommerziellen Moden des Moments übermässig hervorheben zu wollen.
Parin richtet dabei sein Augenmerk vor allem auf die Entwicklung von „élites“ und Kasten. welche die Organisation, Aufnahme der Kandidaten/Novizen, Ausbildung und – schliesslich notwendigen – Ausschlüsse, Psychopathologisierungen und Anathemisierungen der Gegner, jetzt Häretiker, kontrollieren.
Petzold verteidigt ausserdem – beginnend mit Platon und Sant’Agostino, und über Macchiavelli bis zu Nietzsche, Weber, Marcel und Foucault – die Rolle der Philosophie auf unserem Gebiet als nicht mehr nur Diskurs über die Wahrheit, sondern vielmehr Diagnose (!) der Ideologien vom Menschen und der Welt. Psychotherapeutische Ideologien diagnostizieren bedeutet, festzustellen, wo sich die Macht im Maschennetz unserer Wahrnehmung der Wissenschaft, in den von der Forschung verfolgten Optionen und in der ihr zugewiesenen Rolle, in den Ausbildungsformen und in der Kontrolle der Kontrolleure verbirgt. (vgl. Die grossen Themen in Deutschland und ganz aktuell in der Schweiz mit ihren Gesetzesinitiativen und Akkreditierungsverfahren und ihrem Verhältnis zur Autonomie und der menschlichen Kreativität und Schöpfungskraft.)
Auf klinischer Ebene wird zum Beispiel darauf hingewiesen, wie Konzepte wie „autistische und symbiotische Phase“ und „paradoxe Intervention“ – samt den daraus abgeleiteten Techniken – als von der Forschung überholt zu betrachten sind – beginnend mit der des Psychiaters Janet – , und trotzdem verwendet man sie weiterhin oder man geht darüber hinweg, ohne auch nur ein Minimum an Selbstrelativierung zu zeigen.
DKulturkritik, Kulturarbeit und engagierte Praxis
In diesem letzten Teil erscheinen – ausser den reichhaltigen und obligatorischen Kapiteln von Petzold, zum Beispiel eines über iatrogene Schäden – verschiedene Schriften, ebenfalls in Zusammenarbeit mit Sieper und Orth, zu den Themen „Mentalisierung“ (ursprünglich ein sozial-kulturelles Konzept, vgl. Moscovici 2001 und Vygotskij 1931) und „infernalisches Schreien“ in der Musik der rechtsextremen Szene.
Eröffnet wird er mit einem Beitrag zum Gedenken des jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1906-1995) zu den Themen Intersubjektivität, Identitätskonstruktion und Verantwortungsethik.
Es folgt ein kompaktes Rundfunkinterview über „Patienten als Partner“, das den beruflichen und sexuellen Missbrauch in der Therapie sowie Versuche und Vorschläge für geeignetere Strukturen zur Regelung der deontologischen und teleologischen Aspekte unseres Berufs thematisiert. Auch hier gilt die „par condicio“: Es werden die manchmal in zynisch-sadistischer Weise angewandte Abstinenzregel und das ins Wanken geratene Konzept des kollektiven Unbewussten gewisser psychodynamischer Schulen, einige in der Kognitiven Verhaltenstherapie fortgeführte aggressive Desensibilisierungstechniken sowie in der Systemischen Familientherapie noch gebräuchliche Paradoxe an den Pranger gestellt. Alle diese Kunst- und Behandlungsfehler werden manchmal noch durch starre und ideologische Interpretationen verschlimmert. Die wissenschaftlichen Grundlagen der Kritik können sich nur auf die Forschung und ihre Rezeption stützen (z. B. vgl. Fischer).
Schliesslich wird ein kompaktes Essay (2012) über die „Mentalisierung der dunklen Zeiten“ vorgestellt, das (S. 401-618) die Thematik der kognitiv-affektiv-emotionalen Verarbeitung von Ereignissen mit Bezug zum Neolithikum bis in unsere Tage thematisiert: Von der Südtiroler Mumie Ötzi zum III. Reich, Ex-Jugoslawien und dem 11. September. Es wird mit reichhaltigen und vielfältigen Quellen von Luther bis Hitler gearbeitet, um besser verstehen und analysieren zu können, was eine Masse dazu bringt, so stark und homogen an den Mythos zu glauben.
Auch hier handelt es sich um einen auf den Neurowissenschaften, der Forschung und dem kulturpolitischen Engagement begründeten bio-psycho-sozial-ökologischen Ansatz. Es wird ein möglicher „melioristischer“ (vom Neologismus „Meliorismus“, S. 411) säkularer Prozess erarbeitet, definiert und beschrieben, der es erlaubt, zu einem von den meisten gemeinsam geteilten, auf säkularen Werten, wie den Menschenrechten, aut-/altruistisch dialektisch begründeten Kosmopolitismus zu gelangen, wobei die Themen Familie, Erziehung und Dialog zwischen den Generationen behandelt werden. Diesbezüglich soll daran erinnert werden, dass Petzold als Experte bei den Prozessen der Wiederaussöhnung für die Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens und in Zusammenarbeit mit verschiedenen Einrichtungen für das deutsche „Dritte Alter“ arbeitete.
Diese Werte dürfen jedoch zum Beispiel nicht die eigenen jüdisch-christlichen und abendländischen Ursprünge verleugnen, sondern sie laizistisch (auch dies ein hellenistisch-christlicher Terminus) integrieren in der dynamischen Begegnung mit dem Anderen als vollwertigem Subjekt: heute primär von der islamischen Kultur repräsentiert.
Dem schliesst sich ein kürzeres Essay an, in dem man, ausgehend von der Jugendszene, ihrer Musik und ihrem virtuell-ludisch-kinematographischen Milliarden-Konsum (von Horror zu Der Herr der Ringe zu Harry Potter), über den intersubjektiven und psychoedukativen Wert – als Verantwortungsethik (Lévinas und Jonas) – der Interiorisierung durch einen Teil der Individuen in der Gruppe und der Gruppen von Individuen mit gemeinsamen Werten reflektiert: Dies ist die inter- und intrapersonelle, agogische und kulturelle Arbeit, die zu tun ist.
Von einem biologisch-evolutionistischen und ethnologischen Standpunkt aus kann man die These, nach der der Mensch a priori gut sei, aber a posteriori durch traumatische Ereignisse-Verhalten geschädigt wurde, nicht mehr verteidigen. Der grösste Teil dieser Ereignisse ist in der Tat auch menschlicher Natur. Freud verdanken wir – aus psychotherapiegeschichtlicher Sicht – den Mut, den Menschen auch als aggressiv und destruktiv in sich und für den Anderen anzusehen. Bataille (1933) konnte jedoch in seiner Analyse des „kriminellen Geistes“ des Faschismus noch über Freud hinausgehen, während es Jung wegen eines gut dokumentierten filo-destroiden Schattens nicht gekonnt hätte.
Die todbringenden, selbstverletzenden, misanthropischen und gewalttätigen Mythen (wie im Fall von Allin (USA, 1991) oder der Burzum (Norwegen, 2004)) können eine Entladungs- und Transformationsfunktion haben, aber nach Petzold muss – aus neuro-rekursiver und neuro-plastischer Sicht – die Aufmerksamkeit auch auf ihre destruktive anziehende und erzieherische Kraft speziell für Kinder und Jugendliche, aber eben auch für junge Erwachsene und Erwachsene, gerichtet sein. So zeigt sie sich auch in der schnellen und massiven Ausbreitung in den USA, aber auch in der deutschen Neonazi-Szene, über die mit rassistischer und antisemitischer Thematik beladene Musik gewisser Bands und Aktion gewisser Gangs.
Die Psychotherapie kann nicht in ihrer akademischen Haltung verharren, sondern muss in der Geselligkeit die eigene Rolle als „Bildnerin der Kultur und der transversalen Fundamente des Bewusstseins” von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter (wieder)entdecken und stärken. Sie kann die eigenen unveräusserlichen und unumgehbaren ethischen Positionen nicht mehr leugnen, umso weniger, je impliziter sie sind oder eben unbewusst.
Bei den beiden letzten Essays neueren Datums ist es ein rekursiver Ansatz (wieder-eintretend nach dem neurowissenschaftlichen Modell) von intra- und intermentalen Phänomenen, die aus dem Hirnsubstrat auftauchen (vgl. S. 510) und von der nachgewiesenen Neuroplastizität gestützt werden, die sich nicht nur im pathogenen Sinn, sondern auch im salutogenen und sozial-agogischen Sinn ausdrückt.
Eine transzendente Grundlage für alles dies könnte auch vorliegen, aber nach der wertvollen Lehre von Kant könnte sie nicht Objekt eines naturwissenschaftlichen Diskurses sein.
Dieser Teil schliesst mit dem „Manifest der integrativen Kulturarbeit 2013“, das absolut aktuell ist, gerade auch hinsichtlich eines differenzierten und auch im post-christlichen und hermeneutisch-moderaten islamischen Umfeld notwendigen Dialogs und Engagements.
EBibliographie
Bei der Bibliographie erstaunt die Abwesenheit jeglicher italienischen Literatur: Man hätte dieses eine Mal über die Alpen schauen können, aber auch die nordamerikanische Literatur ist im Verhältnis nur minimal repräsentiert.
Wie bereits in der Fussnote erwähnt, ist Petzold ziemlich aufmerksam in Hinblick auf die philosophische Literatur, aber nur die kontinentale, und keine analytische. Wobei es eben wegen des „therapeutischen” Charakters, den diese Denker für sich in Anspruch nehmen, interessant gewesen wäre, wenn er sie integriert hätte.
Zusammenfassung
Der Schreibstil kann manchmal überladen und zu reich an Fremdwörtern oder Verweisen zu anderen Autoren erscheinen, andererseits können genau diese Aspekte einen didaktischen Wert haben und das Werk europäischer wirken lassen. Man hätte da und dort eine Zusammenfassung der Hauptthesen einfügen können, oder ein kurzes Schema, wie es im dritten Teil hingegen optimal gemacht wurde.
Hinsichtlich des grossen Themas der Religionen und der auch in atheistischen Bewegungen und Organisationen (zum Beispiel im Leninismus) vorhandenen religiösen Elemente, und der tiefgreifenden Kritik, der sie der Autor – als Theologe - unterzieht, erlaube ich mir, die Tatsache hervorzuheben, die man, wie mir scheint, manchmal beim Schreiben aus den Augen verliert, das rekursive Element, auch Schlüssel für ein mögliches Verstehen dessen, was in diesen Monaten zwischen dem Isis und dem Westen passiert. Wenn man vom Verhältnis zwischen Religionen und gewalttätiger Macht spricht, muss dies nach der Lehre von Morin von einer stärker dialektischen und komplexeren Basis aus gemacht werden: Wie ein Dreieck, an dessen jeweiligen Scheitelpunkten der Homo sapiens (mit seiner biologisch angelegten aggressiven Ladung) – der Bürger (mit seinem sozial-politisch-organisatorisch-ökonomischem Ökö-Kontext) – der Gläubige (mehr oder weniger Atheist). Der Gewaltakt oder die Repression und die historisch überlieferten Religionskriege entstehen aus dieser Verflechtung und sind im Inneren der Dreiecksfläche angesiedelt, während bei Petzold hier manchmal die Tendenz besteht, sie an den Scheitelpunkten auszurichten.
Die Lektüre ist in jedem Fall angenehm und stimulierend – manchmal merklich stärker „von links“ als „von rechts“ beeinflusst, aber dies wird offen erklärt und kohärent entwickelt.
Ich empfehle sie in besonderer Weise den Ausbildenden aus den folgenden Gründen:
•Lektüre der Geschichte der Entwicklung der Psychotherapie im Allgemeinen und der Integrativen Psychotherapie im Besonderen.
•Kontextualisierung in den entsprechenden sozial-kulturellen, politischen und ökonomischen Panoramen.
•Das Problem der Macht und ihres schlechten Managements in den theoretischen und metatheoretischen Entwicklungen und in der Lehre einer Schule statt einer anderen.
•Das Problem der Transparenz und der Authentizität in der Psychotherapie und in der Ausbildung.
•Das Problem der Kunstfehler und der Psychotherapieschäden.
Die Mythen der Psychotherapie und ihrer Lehrgänge – ich würde auch hinzufügen: der Forschung und ihrer Qualitätsprozesse – ausgraben und explorieren, darf nicht heissen, eine banale und ebenso pseudo-wissenschaftliche Entmythologisierung nach Bultmann-Art zu initialisieren – ein Element hier und da ist auch in einigen Beiträgen versteckt vorhanden (zum Beispiel in dem von Ellis) – was sich auf wissenschaftlichen Gebieten, wie dem technologischen und dem exegetischen, als genauso wenig wirksam erwiesen hat.
Als Ausbildender an einem psychoanalytischen Institut in der italienischen Schweiz (Fondazione Istituto Ricerche di Gruppo) möchte ich meine Rezension mit einer Bekräftigung der Idee Petzolds schliessen, dass Gesetzgebung und Akkreditierung nicht Kreativität und private Initiativen ersticken dürfen: In der Tat halte ich den psychoanalytischen Diskurs, in dem ich mich bewege, für ziemlich gesund und resistent gegenüber solchen von unserem Kollegen diagnostizierten Viren.
Meine Absicht ist es, den Blick auf die Zukunft zu lenken und die tragischen Ereignisse unserer Zeit, wie die des Bataclan in Paris, als Indikatoren für die kommende unsichere Zeit (und eine Einzel- und Gruppen-Psychologie) zu lesen. Es handelt sich darum, Lösungsperspektiven zu erdenken, in denen die (transversale) Vernunft gegenüber der Barbarei (Resultat exzessiver Mythotropismen und Mythotrophien) überwiegt, statt wesentlich einzugreifen, um die von der barbarischen Inklination verursachten Schäden zu heilen. Die Psychotherapie der Zukunft kann sich diesem Imperativ nicht entziehen. Deshalb ist es notwendig, die von Bion vorgeschlagenen Kanons einer kritischen Neubetrachtung zu unterziehen und ihre Fruchtbarkeit und tiefe Aktualität zu beurteilen. Ich mache zwei Beispiele: Wie ist es möglich, Konzepte wie „Der Terror ohne Namen“2 oder die zur Definition der Unterscheidungskriterien zwischen psychotischem Anteil und nicht-psychotischem Anteil der Persönlichkeit herangezogenen, zu vernachlässigen?
Bedenken Sie zum Beispiel die vier Faktoren, welche die Dominanz der psychotischen Ordnung begünstigen 3:
a)die zerstörerischen Instinkte – so vorherrschend, dass sie auch den Impuls, zu lieben, mit sich tränken, der sich in Sadismus verwandelt;
b)der Hass gegenüber der inneren und äusseren Realität; ein Hass, der sich auf alles erstreckt, was sie hervortreten lässt;
c)Angst vor einer imminenten Vernichtung;
d)die Bildung frühreifer und überstürzter Objektbeziehungen (darunter als erste die Übertragungen), die charakterisiert sind von einer Fragilität gleich der Beharrlichkeit, mit der sie sie unterhalten.
Sind es nicht vielleicht Züge, die die Persönlichkeit des Terroristen (in uns allen vorhanden) auszeichnen, über die Verweise auf jede Form des religiösen Glaubens hinaus?
Von unserer Seite aus haben wir schon vor längerer Zeit eine Forschungsarbeit über die Gruppentherapie nach Bion begonnen (wie empfohlen auf S. 53), in der in innovativer Weise – auch vom philosophischen und linguistischen Standpunkt aus – der entscheidende und grundlegende Unterschied zwischen „ein Elternteil sein“ und für unsere Patienten „einen Elternteil repräsentieren“ behandelt und vertieft wird, wobei versucht wird, das setting an die Bedürfnisse unserer Zeit anzupassen, um dieser mächtigen Metapher mehr Leben zu geben. In dieser Differenzierung zwischen Realität und Metapher – von Petzold wurde letztere mit dem Begriff „ähnlich“ hervorgehoben – verbirgt sich diese zwischen psychotischem Anteil und nicht-psychotischem Anteil der Persönlichkeit. Statt die barbarische Entwicklung der ersten zu fördern (durchzogen von einem Gefühl der Omnipotenz und Allwissenheit), haben wir uns gefragt, wie man die Evolution der Neigung zur Vernunft der zweiten verstärken kann.
In diesem Sinne betreiben wir ausserdem eine originelle therapeutische Praxis (die subjektiv alle Mitarbeiter des Instituts beschäftigt), mit der wir – über eine zeitgemässe Neuauslegung des freudianischen Ödipus – das zu identifizieren versuchen, was uns der zentrale Kern der inter- und intrasubjektiven psychischen Konfliktualität unserer Zeit zu sein scheint, und das wir auf die Spannung zwischen Symbolisierungsmodalitäten zurückführen, welche die Grenze anerkennen und anderen, welche dazu neigen, sie durch Agieren oder Omnipotenzgedanken zu umgehen,. Auf der Ebene der intrapsychischen und intersubjektiven Phantasmatisierung findet diese Fähigkeit, die Grenze anzuerkennen, eine Figuration in der Konstruktion dessen, was wir als das „innere Elternpaar“ definieren und das uns als das Ergebnis eines Reifungsprozesses erscheint, der Ödipus – und hier ist der Unterschied zur freudianischen Psychoanalyse offensichtlich – als Punkt der maximalen Entwicklung des menschlichen Geistes. Aufgabe der Therapie kann in der heutigen Zeit – die uns mehr von der Figur des Narziss als der des Ödipus beherrscht zu sein scheint – nicht mehr die Überwindung des Ödipus sein, sondern seine Konstruktion.
Vielleicht kann dieser fruchtbare Nord-Süd-Dialog – mit der Bildung eines Dreiecks mit dem analytischen angelsächsischen Gedanken, der uns fehlt, wie wir bereits sagten – in Zukunft auch in anderen Formen weitergehen.
Korrespondenz
Nicola Gianinazzi ist freischaffender psychoanalytischer Psychotherapeut
Ausbildender am Istituto Ricerche di Gruppo in Lugano (Tessin-Schweiz).
Aktiv in der Berufspolitik in Zusammenarbeit mit der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP)
1 Hier kann man auf die Tatsache hinweisen, dass die philosophischen Referenten von Petzold nur “kontinental” sind und es hier keine anglo-nordamerikanische analytische Verfahren mehr gab. Die hat ein eigenes Interesse, da die Opposition analytisch-kontinental sich auf dem Philosophischen als Psychotherapie zwischen Kognitiver und Psychodynamik.
2 W.R. Bion, Analisi degli schizofrenici e metodo psicoanalitico - Una teoria del pensiero, Roma 1988: cap. VIII, § 104, p. 178.
3 ibidem, p. 75.