Originalarbeit
Theodor Itten
„Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen“: integrative Psychotherapie im Schulheim Hochsteig 1
Zusammenfassung: Das Gedicht „Was wahr ist“ von Ingeborg Bachmann ist der rote Faden in diesem Essay zur Integrativen Psychotherapie in einem Ostschweizer Sonderschulheim. Die verschiedenen Voraussetzungen für eine gelungene, Fachkompetenz übergreifende, integrative Zusammenarbeit aller Beteiligten in einem solchen Wirkungsort werden aus der Sicht des Psychotherapeuten geschildert. Eine Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen ist eine auf der direkt erlebten subjektiven Wahrheit beruhende Behandlung. Der Lebenskontext der Erwachsenen beeinflusst das seelische und schulische Wohlbefinden und/oder dessen Störung von Jugendlichen immens. Sinn und Unsinn von Psychopharmaka in der Kinder- und Jugendpsychotherapie werden diskutiert. Die folgenden Fragen werden beantwortet. Was passiert, wenn normale kindliche Verhaltens- und Erlebnisweisen als nunmehr psychische Krankheiten erfunden werden? Wem dient eine solche sozialpsychologische Entwicklung?
Schlüsselwörter: Integrative Psychotherapie, Sonderschulheim, Jugend, Wahrheit
„What is true does not pull the wool over your eyes“ - Integrative Psychotherapy in the residential school Hochsteig
Summary: The poem by Ingeborg Bachmann, quoted in the title, is the central theme in this essay about Integrative Psychotherapy in a special school located the eastern part of Switzerland. The various requirements for a successful, multi-disciplinary, comprehensive integrative collaboration of all parties involved in such a work-place, is described from the psychotherapists’ perspective.
Psychotherapy with children and youths is a treatment based on a directly experienced subjective truth. The adult’s life context influences the young people’s wellbeing in psychological and school matters and/ or their disturbances, immensely.
The sense or lack of sense of using psychotropic drugs in psychotherapy with children and youth is discussed. The following questions will be answered: what happens when normal childlike behaviour and modes of experience are now fabricated as psychological illnesses? Who is served by such a socio-psychological development?
Keywords: Integrative Psychotherapy, special school, youth, truth
"Quel ch’è vero non sparge sabbia nei tuoi occhi" - Psicoterapia integrativa presso il Schulheim Hochsteig
Riassunto: La poesia di Ingeborg Bachmann è il filo conduttore di questo saggio sulla psicoterapia integrativa in una scuola speciale nella Svizzera orientale. Le diverse premesse per una collaborazione integrativa riuscita per tutti gli interessati, che consideri le diverse competenze specialistiche in un simile ambito, vengono descritte dal punto di vista dello psicoterapeuta. Una psicoterapia con bambini e adolescenti, è un trattamento che si basa sulla verità soggettiva direttamente vissuta. Il contesto di vita degli adulti influenza immensamente il benessere psicologico e scolastico degli adolescenti e/o il loro disturbo. Viene discusso il senso e il non senso degli psicofarmaci nella psicoterapia dei bambini e degli adolescenti. Si risponde alle domande seguenti: cosa accade se il normale comportamento di un bambino viene sempre più considerato come una nuova malattia psichica? Che scopo ha un simile sviluppo della psicologia sociale?
Parole chiave: psicoterapia integrativa, scuola speciale, gioventù, verità.
I
Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen,
was wahr ist, bitten Schlaf und Tod dir ab
als eingefleischt, von jedem Schmerz beraten,
was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab.
Das Gedicht „Was wahr ist“ von Ingeborg Bachmann (1926–1973), 1956 veröffentlicht im Lyrikband „Anrufung des Großen Bären“, ist für mich ein Überlebensappell an das zum Schweigen niedergelegte „Ich“. Es ist der rote Faden in diesem Essay. Es ist ein parat Machen, um mit dem Unerwarteten gut genug umgehen zu können. Die im Schulheim Hochsteig Tätigen bieten den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen eine bedürfnisangepasste, themenfokussierte Förderung und Behandlung an. Stoll (2013, S. 32) schreibt in ihrer Biografie über Ingeborg Bachmann: „Am 16. März 1945 wusste die damals Achtzehnjährige, dass sie nicht länger mitspielen würde. … Keinen Tag länger wollte sie den wahnhaften Anordnungen der NS-Kriegsgesellschaft Folge leisten. Die Deutungshoheit auf das, was gemeinhin als ‚vernünftig‘ gelten musste, hatten die ‚Herren Erzieher‘, die uns umbringen lassen wollten, in ihren Augen längst verspielt. … Mit scharfem Blick und spitzer Feder gab sie die Autoritäten ihrer Jugend, die bei Luftangriffen schleunigst das Weite suchten, aber nicht die geringsten Skrupel zeigten, Schülerinnen und angehende Lehrerinnen auf den ungeschützten Feldern Gräben ausheben zu lassen, um Klagenfurt im Angesicht der näher rückenden Alliierten ‚bis zum letzten Mann und zur letzten Frau‘ zu verteidigen, der Lächerlichkeit preis.“
Unsere Kindheitslandschaften, die Psychogeographie, in die wir geboren wurden, beeinflusst lebenslang unser Heimat-Geborgensein-Gefühl. Am 15. März 1945 wurde Klagenfurt verheerend bombardiert. Die Zerstörung der vertrauten Strassen und Plätze ihrer Kindheit und Jugend war erschütternd. Bachmann wohnte damals alleine in einem Reihenhaus. Vater war im Krieg, Mutter mit den beiden jüngeren Geschwistern im väterlichen Herkunftsort Obervellach. Die jugendliche Ingeborg hatte eine Lehrerinnen-Ausbildung angefangen, damit sie nicht nach Polen in den Reichsarbeitsdienst verschickt wurde. Aus diesem seelischen und sozialpsychologischen Hintergrund ist das obige Zitat um die neue Deutungshoheit der Jugend nach dem 2. Weltkrieg verständlich.
Wir benutzen unsere Sprache so gut es geht, leben in und mit ihr. Die eigene Wirklichkeit entsteht in der Aufmerksamkeitsbetrachtung, respektive an den Grenzen dessen, was wir als Zwischenräume im Bedeutungsnetzwerk als psychische Wirklichkeit wahrnehmen. Als 18-Jähriger liebte ich im Duden-Band 7, „Das Herkunftswörterbuch: Etymologie der deutschen Sprache“, zusammen mit dem Band 5, „Fremdwörterbuch“, zu lesen, damit meine aktive Sprachfähigkeit angereichert wurde. Wir waren damals drei Freunde, die unter der Woche immer mehrere Seiten darin lasen, damit wir am Wochenende in der Clique, und vor allem bei unseren Freundinnen, mit fremden Wörtern wie „Dichotomie“ oder „Zyklon“ starken verbalen Eindruck machen konnten. Ich sei nicht ganz gebacken, dachte ich damals, gleich alt wie die Bachmann im Krieg. Später, als ich ein Foto des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt sah, wie er an seinem grossen Schreibtisch werkelte und die zwölf Duden-Bände wie ein Sprachwall schützend vor ihm standen, fühlte ich mich besser. Ich stell’ mir vor: Ein Kind radelt voller Freude und Genuss durch einen Wald und kommt von der Kurve ab. Nun ist sein Fahrrad voller Laub und kleinem Gehölz. Es weint, ist wütend und verzweifelt, schmeisst sein Rad auf den Waldboden und schaut sich nach Hilfe um. Wie weiter? Als Psychotherapeut bin ich ein Begleiter, um ihm in solchen Lebensmomenten hilfreich zur Seite zu stehen, damit es sich wieder auf den eigenen Weg begeben kann. In dieser Metapher reinigen wir gemeinsam das Fahrrad, damit es wieder fahrbar wird. Die verschiedenen Gründe, weshalb es aus der Kurve geraten sein könnte, werden analytisch bedacht und bestärken seine frische Aufmerksamkeit und neue Umsichtigkeit.
Der Psychoanalytiker und Psychiater Ronald David Laing (1927–1989), bei dem ich in der Lehre war, sagte viel zu unserer und für unsere Besinnung darauf, was uns als Kinder, Jugendliche und erwachsene Personen verstören kann. Seine Familienforschungen beschäftigten sich mit der Frage: „Sind die Erfahrungen und das Verhalten, in denen der oder die Psychiaterin Symptome und Anzeichen einer seelischen Störung sehen, sozial verständlicher als bisher angenommen?“ (Laing & Esterson, 1975, S. 8). Ja, das sind sie. Die evidenzbasierte Forschung und die therapeutischen Behandlungen, welche darauf basieren dürfen, zeigen effektive Resultate. Einer von Laings Superioren in seiner Ausbildung zum Psychoanalytiker war der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Woods Winnicott (1896–1971). Seine wichtigsten therapeutischen Arbeitskonzepte waren das Übergangsobjekt, der Übergangsraum – also das Psychotherapiezimmer und dessen Erweiterung, wenn wir mit den Kindern nach draussen gehen –, sowie die provisorische Wirklichkeit. Seine Bücher zur psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern tragen Titel wie „Playing and Reality“ (Vom Spiel zur Kreativität) und „The Maturational Processes and the Facilitating Environment“ (Reifungsprozesse und fördernde Umwelt). Für meine Seelenheilkunst ist er einer der wichtigsten, indirekten Mentoren.
Die eigene Selbstreflektion, unsere Selbsterfahrung sowie die Selbstinfragestellung sind in unserem psychotherapeutischen Berufsfeld das A und O der täglichen Tätigkeit. Als Seelenmusiker muss ich unbedingt mein eigenes Instrument gestimmt haben, um emotional stimmig mit dem anderen spielen zu können. Die Grundlage ist das Erkennen dessen, was mir in der primären Familiengeschichte passierte, was mein Überlebensstil in diesem Szenario wurde, der später durch Gewohnheit meinen Charakter, meine Persona, geprägt hat. All die Seelennarben, die eigenen und die der anderen, sind im Licht der Praxis und des Prozesses des Familien-Nexus verständlicher als wir es uns selbst vorerst gedacht haben. Unsere dadurch gelernten Gewohnheiten und antrainierten Modi können uns ganz schönen Kummer bereiten. Als Kinder tragen wir all dies mit uns herum, ob bewusst oder unbewusst. In den Konzepten des inneren Kindes, des inneren Teams, sind verschiedenste Lösungsansätze bereitgelegt.
In der begleitenden Arbeit mit Kindern, sei das als Pädagogin, Sozialarbeiterin, Sozialpädagogin, Logo-, Ergo- oder Psychotherapeutin (Männer immer mitbedacht), ist es von eminenter Wichtigkeit, die eigene Wahrheit der Gefühle aufrichtig mitzuteilen. Für diese Gefühle die wahren und passenden Worte zu finden, ist eine semiotische Kunst, unabhängig davon, was der Inhalt dieser gefühlten Wahrheit nun ist. „Das semiotische Dreieck stellt die Relation zwischen dem Symbol, dem dadurch hervorgerufenen Begriff und dem damit gemeinten realen Ding dar.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Semiotisches_Dreieck). Dies ist eine Kulturleistung, geprägt durch die eigene situative und tagesemotionsgestimmte Reflektiertheit, die primäre soziale Klasse und das Sprachsystem, in dem jeder/jede von uns aufgewachsen und kultiviert worden ist. Eine der drei wesentlichen Erkenntnisse der 2008 veröffentlichten soziologischen Studie zur Kindheit in der Schweiz ist: „Ein ganz erheblicher Teil der Heranwachsenden haben mit Problemen zu kämpfen, die eindeutig als Folge bestimmter ‚Lebenslagen‘, das heisst genauer, sozialer Benachteiligungen im Zusammenhang mit Schichtzugehörigkeiten ausgemacht werden können.“ (Schultheis et al., 2008, S. 176) Hier befindet sich unser Treffplatz der integrativen Psychotherapie. Unsere Unterschiede der Erfahrungen und Sprachlebendigkeit fördern und fordern den Austausch unserer Meinungen, welche die Betreuung und Behandlung umfassender gestalten. Je mehr verschiedene Meinungen, empirische und theoretische Ansichten ehrlich und offen zum Ausdruck kommen und mit anderen geteilt werden, wo keine Fachgruppe ihre eigene Kompetenz über die der anderen stellen will (die Teamebene als Machtthema), finden wir uns versammelt in einem einmaligen Ereignis.
In der ersten Sprechstunde bitte ich das Kind oder die Jugendliche, mir sein Fahrrad zu zeichnen. So kann ich sehen, was seine, im Hier und Jetzt skizzierte Wirklichkeitswahrnehmung ist. Mit den Kindern gehe ich das Fahrrad durch, was ist da, z. B. ein dicker Sattel, guter Lenker, Bremsen oder Licht, was fehlt, z. B. die Kette, die Pedale oder die Reifen. Danach besprechen wir das Warum und Wozu dieser Zeichnung. Von den Symptomen, also dem, was sich in der Zeichnung zeigt, zum inneren Thema (entspricht dem Fehlen der Kette oder der Pedale eine Antriebslosigkeit?). Darin ausgedrückt sind ihr Kummer und ihre Sorgen, die sie zu mir gebracht haben. Ein mögliches Fallbeispiel. „Die Mutter kam in meine Sprechstube, weil sie wegen dem Klavierüben mit ihrem Sohne stritt“, schreibt Francoise Dolto (1989, S. 65), die bekannte französische Kinderärztin und Psychoanalytikerin, „Sie wollen, dass Ihr Sohn Klavier spielt, weil Sie selbst vielleicht gern Klavier spielen würden?“, fragte sie die Mutter, die antwortete: „Ja, ich habe so bereut, nie Klavier gespielt zu haben“, worauf Dolto erwiderte: „Es ist aber noch nicht zu spät für Sie, damit zu beginnen, doch hören Sie auf, ihrem Sohn Schwierigkeiten zu machen, nur weil er Ihren eigenen Wunsch befriedigen soll.“ Die betroffene Mutter dachte darüber nach. Das Klavierspiel fing sie dann mit grosser Freude an. Ihr Sohn wurde später Musikwissenschaftler und seine Mutter wurde, nachdem sie mit 48 Jahren damit begonnen hatte, im hohen Alter Pianistin. Dolto befruchtete die Psychotherapie mit Kleinkinder- und Mutter-Kind-Setting, indem sie dem Kind einen Subjektstatus gab, die Voraussetzung für seine „Menschwerdung“. Diese Anerkennung erfährt das Kind in der Begegnung mit dem Erwachsenen durch dessen, so Dolto, „wahre Worte“. Sie distanzierte sich ausdrücklich von der beginnenden Medikalisierung der Kinderpsychiatrie und Psychotherapie.
Erwartungen an die Kinder, also transgenerationale Delegationserwartungen, falls nicht bewusst gemacht, führen meist zu Spannungen und Unzufriedenheit aller Beteiligten. Wir Helfer(innen) können selbst allzu schnell in eine sich dabei entwickelnde negative Spirale geraten. Gemeinsame interdisziplinäre Intervisionsgespräche können aus dieser Spirale hinausführen. Als externer Psychotherapeut in der Hochsteig schätze ich dies sehr, weil die Lehrerin, die Gruppenbetreuerin, die Heimleiterin u. a. ihre je eigene Erfahrung mit dem Kind oder Jugendlichen haben, welche sich in ihnen widerspiegelt und in einer Helferkonferenz-Intervision ausgesprochen werden kann.
In meiner Psychotherapie-Vorbereitungssitzung versuche ich, die Auslöser der affektiven Störung im Kind gemeinsam mit dem Gruppenteam, der Lehrerin, den Eltern, der Beiständin, zu finden. Zusätzlich gebe ich den „Diagnostischen Eltern-Fragebogen“ ab. Wenn dieser teilweise oder vollständig ausgefüllt zurückkommt, kann ich mir ein reichhaltigeres Bild von der sozialen Situation und Geschichte des Leidens machen (Kontextualisierung). Was sind die Lebenslichter, was wird durchs falsche Selbst geschützt gelebt, die alte Traurigkeit, die aktuellen Spannungen zu Hause und auf der Wohngruppe, die Gewalt gegen das Kind und in der Familie, die eventuelle emotionale Vernachlässigung, emotionaler, sexueller und physischer Missbrauch usw. Vielerlei Elend kann die Störung des Kindes hervorrufen, mit der sie oder er uns dann „stört“. Kinder erraten alles. Jedoch können sie nach einem Leidensweg oft nur noch indirekt mit ihrer Mitwelt, kommunizieren, ob durch Symptome in Leib und Seele oder/und durch ihr Verhalten und Spielen.
II
Was wahr ist, so entsunken, so verwaschen
in Keim und Blatt, im faulen Zungenbett
ein Jahr und noch ein Jahr und alle Jahre –
was wahr ist, schafft nicht Zeit, es macht sie wett.
Eine Sitzung der Stille, gut aushaltbar für mich als Psychotherapeuten, damit das Kind oder die Jugendliche sich getraut, zu trauern, andere Gefühle zu zeigen. Sie oder er zeigt mir, dass die Psychotherapie von ihnen auch gewünscht ist. Ansonsten dürfen sie mir sagen, was ihnen hier im Schulheim und Internat nicht passt. Wir klären das. Wir suchen dann gemeinsam, für wen, als Ersatzhandlung, hier eine Psychotherapie stattfinden sollte. Es können dies die Eltern sein, das Team in der Hochsteig, die Schul- und Vormundschaftsbehörde, via der Beiständin, die einweisende Klinik etc.
Beispiel: Wenn er von seinem Leiden in und an der Familie spricht, so erzählt er, von innen her, seinen Kummer und ist so, indem ich ihm zuhöre, mit seinen affektiven und effektiven Beweggründen nicht mehr allein. Ich bin ein „Dazwischen-Seiender“, ein Offenhalter des Seelenraumes des Kindes oder Jugendlichen. Wir müssen, wenn wir wollen und können, verstehen lernen: „wenn etwas wahr ist, ist man von dem Symptom befreit, wenn es gesagt wird“ (Dolto, 1989, S. 113). Keine sozialpädagogischen und psychotherapeutischen Heucheleien wirken. Wir dürfen, falls wir können und wollen, Fragen des Kindes aufrichtig beantworten, weil das Kind (wir erinnern uns als Erwachsene) immer schon mehr ahnt, als wir wissen. Als Erwachsene in einem Betreuungsgespräch erklären wir uns je nach Kontext und Umgebung des Kindes, basierend auf der gegenwärtigen Erfahrung des uns anvertrauten Kindes. Wir spüren in uns, ich jedenfalls, was das Kind mir „vorspielt“. Es „produziert“ in mir das Gefühl, welches es in seinem eignen Leben zu Hause oder im Kinderheim bekommt. Dazu arbeite ich entlang der Figur einer liegenden 8. „Touch trauma, access resources“. Das heisst, die Narben der grossen Wunde berühren, die Kindheit und ihre Muster, und im Übergang auf die eigenen heutigen Kräfte und Fähigkeiten im Hier und Jetzt zugreifen. Dadurch zusätzlich die Weichenstellungen zur Erweiterung des Gefühlsrepertoires, zum Wachsen der Frustrationstoleranz und zur Kultivierung der Gefühlsmitteilung ermöglichen. Wir lernen, nicht nur als Kinder, durchs Nachmachen und Nachahmen. Ich lasse mich hier gerne von den Reflektionen des Trauma-Therapeuten Peter A. Levine (2010) leiten.
III
Was wahr ist, zieht der Erde einen Scheitel,
kämmt Traum und Kranz und die Bestellung aus,
es schwillt sein Kamm und voll gerauften Früchten
schlägt es in dich und trinkt dich gänzlich aus.
Der achtjährige Bub klammert sich ans Bein des Stiefvaters, „weil ich so meine Mutter schützen will.“ Der gewaltsame Stiefvater schlägt auf seine Mutter ein. Er sagt zu ihr: „Sag dem Bengel, dass ich nicht sein Vater bin“. Der Bub, mein heutiger Patient, musste sofort, zur Sicherheit, seine überwältigenden Gefühle in sich begraben. Als Ablenkung sagt er zum Stiefvater: „Kommst du joggen“, als verzweifelter Versuch, seine Mami in Sicherheit zu bringen. Jedoch: „Er packt mich und schmeisst mich an den Kachelofen“. Heulen, heulen, heulen. Der vermeintliche Papi ist voller gewaltsamer Aggression. Alles zerbricht in Sekundenschnelle in Scham und Schande. Gegen aussen wird weiterhin Frieden, Freude, Eierkuchen gelebt. Spricht der Bub in seiner seelischen Not, von innen her kommend, seine erlebte Wahrheit der Erwachsenen an, führt dies meist zu einer Bestrafung, die da sein konnte: ohne Abendbrot ins Bett gehen oder, schlimmer, in den stockdunklen Keller eingeschlossen werden. Einmal, als Sechsjähriger, vermochte er mutig durchs Kellerfenster zu flüchten. Da es draussen kalt war, klingelte er nach einer Weile notgedrungen an der Haustüre Sturm, bis aufgemacht wurde. „Papi hat mich drinnen geschlagen, bis ich nicht mehr wusste, wie schreien.“ Wenn solch ein Bub bei mir in der Psychotherapie ist, ich in seine Augen hineinblicke, sehe ich die tiefe, alte Trauer hinter seinem maskierenden Schutzschleier. Dieser kann sich ist ganz verschieden zeigen: als schüchtern, aufmüpfig, verlogen, gewalttätig, hinterlistig, zahm, heuchlerisch, anpassend, hingebungsvoll, still, in sich gekehrt, ja sogar als Struwwelpaula oder peter getarnt (Alf et al., 1994). (An dem Tag, an dem dieser Text vorgetragen wurde, dem 16. Mai, hatten im Jahr 1944 sich die Roma und Sinti im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, indem sie sich, mit Steinen und Werkzeugen bewaffnet, in den Baracken verbarrikadierten, ihrer drohenden Vernichtung widersetzt. Sie konnten sie aufschieben, aber nicht verhindern. In der Nacht vor ihrer Vernichtung in den Gaskammern schrien die fast dreitausend Gefangenen die ganze Nacht durch [„Gedenken an KZ-Aufstand der Roma und Sinti“, Deutschlandradio Kultur, 16.05.2014].)
Im psychotherapeutischen Austausch, im Miteinander des Hin-und-Her-Gebens die eigene Wirklichkeit in der Präsenz des Seins zeigen können, entwickelt eine heilende Kraft. So kann eine Wirkungsgemeinschaft in einem Schulheim mehr als eine geschäftige, konformierende, informierende und ermöglichende Kraft für aufwachsende Menschen sein. Sie hat eine heilende Natur. Oft intervenieren wir Praktiker, als ob wir schon wüssten, je einzeln oder als Team, was die jungen Personen von uns wirklich brauchen. Fragen wir zuerst, wünschen wir uns ihre Hinweise, schützen wir für sie die Freiräume. Das Kind oder die Jugendliche, die bei mir in Psychotherapie ist, sehe ich als eine von uns, die sich im gleichen Ringen um ein Ich, um ein erfüllendes persönliches Dasein befindet. Psychotherapie ist selbstverständlich eine intensive, seelische und gefühlvolle Interaktion. Vaihinger (1986, S. 14) begann seine „Philosophie des Als-ob“ mit der provokativen Ausgangsfrage: „Wieso erreichen wir oft Richtiges mit bewusst falschen Annahmen? Das menschliche Vorstellungsgebilde der Welt ist ein ungeheures Gewebe von Fiktionen voll logischer Widersprüche, d. h. von wissenschaftlichen Erdichtungen zu praktischen Zwecken bzw. von inadäquaten, subjektiven, bildlichen Vorstellungsweisen, deren Zusammentreffen mit der Wirklichkeit von vornherein ausgeschlossen ist. Nützliche Fiktionen erhalten ihre Legitimation durch den lebenspraktischen Zweck, damit sind sie für viele Bereiche unentbehrlich. Auf dem Umweg des Als-ob erreicht man das Gegebene, so lange bis ein kürzerer Weg durch ein neues Modell von Wirklichkeit gefunden wird.“ Klar doch – solange ich mir bewusst bin, dass diese theoretischen Abkürzungen Fiktionen sind. Die eigenen kindlichen Erinnerungen weben sich zu Assoziationen in der Spiel- und integrativen Körper- Psychotherapie zusammen. Die Hochsteig ist für diejenigen, die hier im Internat wohnen, ein zweites Daheim. Das kann, muss aber nicht, eine emotionale Ernährung für ihre Seele sein. Die in/an einem solchen Ort Tätigen sind herausgefordert, im eigenen Vorleben der Gefühle verlässlich zu sein. Immer wieder das Menschenbild, welches die Leitlinien unseres pädagogischen und therapeutischen Wirkens bestimmten, reflektieren zu können. Dranbleiben und sich mutig voll einlassen ins „Geschichten machen“ (Marcoli, 2013)
IV
Was wahr ist, unterbleibt nicht bis zum Raubzug,
bei dem es dir vielleicht ums Ganze geht.
Du bist sein Raub beim Aufbruch deiner Wunden;
nichts überfällt dich, was dich nicht verrät.
Hier spricht das Drängen nach etwas, was gesagt werden muss. Der Film „Alphabet“ des Regisseurs Erwin Wagenhofer (2013) zeigt hauptsächlich die Haltung hinter unserer leider immer noch etablierten und respektierten konservativen Bildungspolitik, welche nicht nur einzelne Schülerinnen und Schüler, sondern auch Lehrkräfte, Eltern und Generationen von Bildungspolitiker(inne)n in den Wahn treibt. Dieser Film hat mich an Alexander Sutherland Neill (1883–1973) und Summerhill erinnert. Dort wie da die tagtäglichen Themen der Selbstregulation, Sexualität, wie Schülerin sein, Elternzusammenarbeit, Unterrichtsgestaltung, die Religion und Psychologie. Die Fragen, wie es anderen Schulen im Vergleich mit uns geht. Wieweit ist das Persönliche in der eigenen Freiheit zu geben und zu nehmen. „Eine Schule“, so Neill (1971, S. 94), „sollte an den Gesichtern ihrer Schülerinnen gemessen werden, nicht an ihrem akademischen Erfolg.“ Auch im Schulheim Hochsteig wird der Falle des schulischen Erfolges Beachtung geschenkt. Die Kinder und Jugendlichen, die in so einer Schule begleitet, erzogen und gefördert werden, sind meist in der Gruppe der eher „schwierigsten“ Schüler(innen) anzutreffen. In anderen Schulen waren sie als Personen nicht mehr tragbar. Darum kommen sie zu uns. Wie ertragen wir sie? Tragen wir Sorge um sie und ihr seelisches, geistiges, intellektuelles, emotionales Wohlbefinden? Ja, das tun wir, so gut wir in und mit unseren eigenen Begrenzungen dies können. Was sind professionelle und individuelle Einschränkungen in diesem Sorgetragen? Eine mögliche Liste:
•die Annahmen, dass wir wissen, worum es in der Bildung und Heimerziehung geht;
•die eigenen Erfahrungen und familiäreren Strukturen, in denen wir alle je eigen konditioniert wurden;
•die eigenen seelischen Verletzungen, welche wir als Kinder erlebt haben und oft zu wenig reflektiert oder aufgearbeitet haben;
•die theoretischen Leit- und Glaubenssätze, welche, falls unreflektiert, uns unbemerkt ein Ei legen können.
Jedes Mal, wenn mich ein Kind aufregt, kann ich in mir merken, was es ist, das er oder sie mir spiegelt, und warum dies passiert.
Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gilt: L’éducation c’est la répétition! Ein Bildungs- und Lebensort wie das Schulheim Hochsteig vereint selbstverständlich verschiedene Berufs- und soziale Kompetenzen. Sozialpädagoginnen, heilpädagogische Lehrerinnen, Praktikantinnen von verschiedenen ersten Berufsausbildungsstätten, Therapeutinnen fürs Lernen und Psychotherapeutinnen. Dazu kommen die Eltern, die Kinder und ihre Angehörigen. Die Personen der strukturellen Fachkompetenz wie Verwalterin, Koch, Hauswart und Reinigungskräfte. Diese Personen halten zusammen und können sich gut ergänzen, so dies von der Institutionsleitung wirklich gewünscht wird. Das Team kann dann seine eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten einbringen. Wenn es zum Beispiel einen Krach in der Garderobe hinter meinem Sprechzimmer gibt und ich höre, dass einer (eine) meiner Patient(inn)en darin involviert ist, kann es sein, muss aber nicht, dass ich aufstehe und nachschaue, was dort denn vor sich geht. Eventuell ist da schon die Lehrerin des Kindes, das sich schreiend in sich verkriecht, nichts mehr mitmachen will. Sich dadurch verzweifelt an dem, was es denkt und fühlt, festhält. Schuld sind immer die anderen. Dieses Mantra wäre so eine tolle und süsse Lösungsstrategie, würde sie nur funktionieren. Tut sie leider nicht. Die Frage, was ich getan habe, dass ich so behandelt werde, sucht Antworten. Nichts, sagt es, alles ist ungerecht und die quälen mich. Doch die großmütterliche Frage ist wichtig, gerade für so ein Kind: „Was hast du getan, bevor du nichts getan hast?“ Das bringt Erinnerungen an die Geschichte der eigenen Gefühle, an die Geschichte des Aufwachsens als ein Überleben in der zeitlich und geographisch und sozialpsychologisch gegebenen Situation eines menschlichen Beziehungsnetzes.
V
Es kommt der Mond mit den vergällten Krügen.
So trink dein Maß. Es sinkt die bittre Nacht.
Der Abschaum flockt den Tauben ins Gefieder,
wird nicht ein Zweig in Sicherheit gebracht.
Seit Jahren schon beschäftigen wir in Schulheimen Tätigen uns mit den Psychopillen zum Pausenbrot. Die vielen neuen Konzentrationspillen, die als Wundermittel zur Ruhigstellung angepriesenen Ritalin, Concerto und Medikinet usw. Laut Bericht des Bundesamtes für Statistik wurden in der Schweiz 1999 im Durchschnitt pro Apothekenhändlerin 38 kg Psychopillen verkauft. 2004, als ich als externer Psychotherapeut in die Hochsteig kam, waren es schon 110 kg. 2009 dann 256 kg und für 2014 rechneten die Statistiker mit ca.340 kg. Es ist ein Wachstumsmarkt ohnegleichen. Novartis als Ritalin-Hersteller hat das Kinderbuch „Hippihopp“ als Pharmamärchen herausgebracht. Dieses „Kinderbuch“ zeigt auf, wie die soziale und wirtschaftliche Überforderung der Eltern von Novartis missbraucht wird. Die Geschichte der Krake Hippihopp (achtarmiger Tintenfisch) richtet sich an Kinder mit ADHS und macht ihnen mit niedlichen Zeichnungen den Umgang mit dem Betäubungsmittel Ritalin schmackhaft. „Ich bin absolut schockiert. Dass es so etwas überhaupt gibt, ist ein Skandal“, sagte Dr. Michael Winterhoff, Autor von „Lasst Kinder wieder Kinder sein“ („Wenn Krake Hippihopp zum Ritalin rät“, Die Welt, 29.11.2011). Die Zahlen der Deutschen Bundesopiumstelle zeigen, dass die explosionsartige Zunahme des Verbrauchs von Methylphenidat (Wirkstoff u. a. von Ritalin) seit 2010 wieder etwas eingedämmt werden konnte, auf rund 55 Millionen Tagesdosen in Deutschland. In den USA nahmen im Jahr 1970 300 000 Kinder und gut 30 Jahre danach rund fünf Millionen Kinder verhaltensverändernde Medikamente. Die Gewinne mit diesen Medikamenten alleine gehen bei den beteiligten Pharma-Unternehmen in die dreistelligen Milliarden-Summen. Ein harmloser Anfang, ein Zufallsfund im Labor: im Jahr 1944 synthetisierte Leandro Panizzon, damals noch Ciba-Geigy (1996 fusioniert mit Sandoz zu Novartis), die Substanz Methylphenidat und probierte sie im Selbstversuch aus. Keine nennenswerten Ergebnisse. „Seine Frau Marguerite, genannt Rita, naschte ebenfalls von der Substanz – und registrierte eine durchaus belebende Wirkung. Fortan nahm Rita den Stoff gelegentlich vor dem Tennisspielen ein, weshalb Chemiker Panizzon die Substanz nach ihr benannte: Ritalin“ (Blech, 2003, S. 114). Angesichts der zunehmenden Diagnoseraten bin nicht nur ich sorgenvoll. Drogen gegen Erziehungsprobleme sind der falsche Weg. „Bei immer mehr Kindern und Jugendlichen in Deutschland stellen Ärzte (…) Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen fest. Die Zahl der diagnostizierten Fälle stieg bei den unter 19-Jährigen zwischen 2006 und 2011 um 42 Prozent, wie aus dem (…) Barmer-Arztreport 2013 hervorgeht. Im Alter von elf Jahren erhielten rund sieben Prozent der Jungen und zwei Prozent der Mädchen eine Verordnung mit dem Medikament Ritalin. (…) ADHS hat den Ruf, eine willkommene Modediagnose zu sein, wenn Kinder nicht so funktionieren, wie sie sollen. Die Trennung zwischen einem anstrengenden, aber gesunden Kind und einem, das tatsächlich an der Aufmerksamkeitsstörung leidet, fällt auch Experten mitunter schwer. (…) Nach den Daten der Hannoveraner Gesundheitsforscher steigt das Risiko einer ADHS-Diagnose für Kinder, deren Eltern weniger gut ausgebildet, arbeitslos oder unter 30 Jahren alt sind. Bei Kindern gut verdienender Familien wird ADHS weniger oft festgestellt“ („Aufmerksamkeitsstörung bei Kindern“, Spiegel Online, 29.01.2013). Vermutlich gibt es in letzteren Familien mehr Anregungen, angenehmere Mit- und Umweltbedingungen und wirtschaftliche Gelassenheit.
Diagnostisch hatten wir, geschichtlich gesehen, erst funktionelle Verhaltensstörung, dann minimale zerebrale Dysfunktion, psychoorganisches Syndrom und hyperkinetische Störung. 1987 erfand der amerikanische Psychiatrieverband das Kürzel ADHS. Der Pharmaka-Markt mit Kinderpsychopillen explodierte. Eli Lilly attackiert Ritalin mit Atomoxetin, welches das soziale und familiäre Funktionieren verbessern soll. Janssen-Cilag brachte Concerta raus, das 12 Stunden lang im Gehirn der Kinder wirkt. Wer und was hat eigentlich das Verhalten der Kinder hervorgebracht, die wir wild, lärmig und bewegungsfreudig nennen? Neuerdings mit dem DSM-5 haben wir wieder eine neue Krankheit: Parental Alienation Syndrom. Kinder leiden unter der Trennung der Eltern. Doch „mit bildgebenden Verfahren lassen sich die Gehirne von Hyperaktiven und normalen Kindern nicht unterscheiden.“ (Blech, 2014, S.125) Die uns zum Teil bekannten Nebenwirkungen sind psychomotorische Erregungszustände, Appetitverderben, Wachstumsstörungen. Aber das Mittel ermöglicht die soziale Kontrolle. Oft höre ich die Bitte der Eltern, dieses Thema in der Gegenwart ihres Kindes nicht mehr anzusprechen. Dr. Otremba aus Sankt Gallen mache das schon richtig. Er hat sich mindestens einmal über mich beim damaligen Leiter, Martin Brunner, der St. Gallischen Kinderheilstätte Bad Sonder (in der ich von 1986 bis 2006 als externer Psychotherapeut tätig war) dahingehend beschwert, dass er die medizinische Fachperson sei. Das stimmt ganz klar. Als Mediziner muss er jedoch wissen, dass stimulierende Drogen in Tieren – und Menschen sind Tiere – spontane und soziale Verhaltensformen unterdrücken. Diese Gefühle und Regungen unterwerfenden Drogen machen mehr Anpassungsleistung (was wieder zu einer Anpassungsstörung führen kann) und fördern zwanghaftes Verhalten, was zu einer psychosozialen Erschöpfung führen kann (Breggin, 2001; Moncrieff, 2008).
Ein Junge, der seit dem Kindergarten Ritalin bekommen hatte und bei mir bis zu seinem Lehranfang als Hotelfachmann in psychotherapeutischer Behandlung war, wünschte sich als 19-Jähriger für seine Lehrabschlussprüfung Ritalin, da er über einige Kollegen an der Uni Sankt Gallen wusste, dass diese Substanz hilfreich sei, um sich an der Prüfung bestens zu fokussieren. Jetzt, als er selbst diese Droge freiwillig wollte, bekam er diese von seinem ehemaligen Kinderarzt nicht mehr verschrieben. Was soll da der empörte Ärger, wenn 14- bis 16-jährige Jugendliche im Geheimen rauchen, Bier oder Wodka-Cola trinken, ja gar haschen? Methylphenidat untersteht als verschreibungspflichtige Substanz dem Betäubungsmittelgesetz. Wir Helfer sollten mit Methylphenidat-Substanzen genauso sorgsam umgehen wie mit anderen bewusstseinsverändernden Substanzen. Angebracht ist das wiederholte Fragen: Wie fühlt sich das Kind? Wie sind seine Beziehungen zu seinen Eltern oder Lego-Familien, den Nebeneltern, den Gruppen-Betreuer(inne)n? Wie viel mehr braucht sie oder er von unserer professionellen Aufmerksamkeitszeit? Die Konfliktachsen-Themen sind da, damit wir soziale Berufspersonen uns mit den Erlebnis- und Verhaltensweisen auseinandersetzen. Wandel, Änderungen ermöglichen und nicht Anpassung war ein wichtiges Motto in meiner Ausbildung zum Psychotherapeuten Mitte der 1970er Jahre. Veränderungen im Alltag sind möglich, wie die Geschichte eines jungen Engländers zeigt, der seine überschüssige Energie abreagierte, in dem er nach jeder Schulstunde ums Schulhaus rannte. Der Alltag wurde damit für Lehrer und Schüler erträglicher. Als Achtzigjähriger gab er dann auf die Frage, was sein Rezept für gutes Altern sei, die Antwort: «No sports“. Sein Name: Winston Churchill. ADHS ist tatsächlich ein Paradebeispiel für eine „fabrizierte Erkrankung“ (Blech, 2014; Eisenberg, 2009). Die ganze Debatte um genetische, hirnorganische, soziale, kulturelle und psychoevolutionäre Theorien wird heftig geführt. Einige Modelle trösten und entlasten uns Erwachsene, ob als Eltern oder Helfer(innen). Die sozialen, familiären, ökonomischen, bildungspolitischen und psychosozialen Zusammenhänge eines seelisch Leidenden müssen immer als und ihrerseits wieder im Kontext berücksichtigt werden. Ansonsten führt uns jegliches Modell, wie die gegenwärtig populärsten, das genetische und das hirnorganische, in eine absurd naive und deterministische Sinnlosigkeit, ausser, wir sind als Aktienbesitzer Teilhaber an einer Pharmaka-Fabrik oder stehen auf deren Soldliste. Hüten wir uns, den Kindern eine psychische Krankheit oder Störung anzudichten oder anzuhängen. Der Reifungsprozess wohnt der menschlichen Natur inne. Was dieser braucht, um gut genug zu gedeihen, ist die unterstützende menschliche Umgebung, welche ein Schulheim bietet. In meinem zeitlich eher bescheidenen Beitrag von 50 Minuten Psychotherapie pro Woche für ein Kind ergibt, laut einer wichtigen Metastudie zur Wirksamkeitsforschung, die eigene Beziehungsgestaltung und Beziehungshaltung 30 % der Wirksamkeit. 40 % Wirksamkeit stellen die soziale, wirtschaftliche und emotionale Lebenssituation des Kindes und seiner Eltern und Familie dar. Nur gerade mal 15 % ergeben die angewandten Modelle, Theorien, Methoden und ihre Techniken, und damit gleichviel wie das Bündel aus Erwartungshaltung der Eltern, Teammitglieder und der Patientin, des Patienten als Wirkfaktoren (Lambert & Barley, 2001). Das kann uns alle etwas bescheidener und demütiger machen im Jonglieren von theoretischen Besserwissereien.
VI
Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten,
doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand.
Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten,
dem unbekannten Ausgang zugewandt.
In unserer betreuenden Begleitung, ob sozialpädagogisch und psychotherapeutisch, warten wir auf die gestalterische Entdeckung der kindlichen Seele, die hier, in ihrem Kummer und Sorge, eine verweilende ist. Damit der je eigene innere Gesichts- und Bezugspunkt der gelebten Gesundung aus dem zentralen Selbst dieser jüngeren Menschen in unserer Obhut herauskommen kann. Vieles passiert in unserem Wirken nonverbal, wie in der Musik. Dies gehört zum lebendig Sein. Das Verhalten und Erleben der jungen, aufwachsenden Menschen, die wir unterstützen, ist manchmal weniger angemessen, als wir es in der jeweiligen Situation von uns als Erwachsenen selbst erwarten. Sie sind noch am sich Einüben ins Erwachsenwerden. Die Bindung, das Vertrauen, die Aufrichtigkeit und die Kooperation sind zentral in unseren Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen. Berührend sagt es für mich die Dichterin Rose Ausländer (1986, S. 190): „Immer sind es die Menschen, du weisst es. Ihr Herz ist ein kleiner Stern, der die Erde beleuchtet.“
Copyright-Vermerk
Ich danke dem Piper Verlag für die Abdruckerlaubnis des Gedichtes „Was wahr ist“ von Ingeborg Bachmann: Werke, Bd. 1. Gedichte, © 1978 Piper Verlag GmbH, München
Autor
Theodor Itten, geb. 1952 in Langenthal, lebt und arbeitet als Psychotherapeut ASP/UKCP und Graduate Member of the British Psychological Society, MBPsS, in Sankt Gallen und Hamburg.
Bücher: Politik der Erfahrung: kritische Überlegungen zur Entwicklung von Psychologie und Psychotherapie (mit Ron Roberts; Übersetzt aus dem Englischen von Dörte Fuchs, 2016), Grössenwahn: die Psychologie der Selbstüberschätzung (2016), Jähzorn: psychotherapeutische Antworten auf ein unkontrollierbares Gefühl (2. Aufl., 2015), R. D. Laing: 50 years since The Divided Self (Hrsg. mit Courtenay Young, 2012).
Korrespondenz
Theodor Itten
Magniberg 10
CH - 9000 Sankt Gallen
E-Mail: info@ittentheodor.ch
Literatur
Alf, R., Henninger, B., Hogli, Krause, U., Kurze, C.-P., & Marcks, M. (1994). Struwwelpaula: struwwelige Geschichten und haarige Bilder. Berlin: Rütten und Loening.
Ausländer, R. (1986). Die Menschen. In: Wieder ein Tag aus Glut und Wind, 1986 (S. 190). Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag.
Bachmann, I. (1978). Was wahr ist. In: Bachmann, I., Gedichte (S. 118; Werke, Bd. 1). München: Piper.
Blech, J. (2003). Die Krankheitserfinder: wie wir zu Patienten gemacht werden. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Blech, J. (2014). Die Psychofalle: wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Breggin, P. R. (2001). What people need to know about the drug treatment of children. In: Newnes, C., Holmes, G., & Dunn, C. (Hrsg.), This is madness too (S. 47–58). Ross-on-Why: PCCS.
Dolto, F. (1989). Alles ist Sprache: Kindern mit Worten helfen. Weinheim: Quadriga.
Eisenberg, D., Downs, M. F., Golberstein, E., & Zivin, K. (2009). Stigma and help-seeking for mental health among college students. Medical Care Research and Review 66, 522–541.
Laing, R. D., & Esterson, A. (1975). Wahnsinn und Familie. Köln: Kiepenheuer & Witsch
Lambert, M. J., & Barley, D. E. (2001). Research summary on the therapeutic relationship and psychotherapy outcome. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training, 38, 357–361.
Levine, P. A. (2010). In an unspoken voice: how the body releases trauma and restores goodness. Berkeley, Calif.: North Atlantic Books.
Marcoli, F. (2013). „Geschichten machen“ mit Kindern. Lugano: IRG, Istituto Ricerche di Gruppo.
Moncrieff, J. (2008). The myth of the chemical cure: a critique of psychiatric drug treatment. London: Palgrave Macmillan.
Neill, A. S. (1971). Talking of Summerhill. London: Victor Gollancz.
Schultheis, F., Perrig-Chiello, P., & Egger, S. (Hrsg.) (2008). Kindheit und Jugend in der Schweiz: Ergebnisse des nationalen Forschungsprogramms „Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel“. Weinheim: Beltz.
Stoll, A. (2013). Ingeborg Bachmann: der dunkle Glanz der Freiheit. München: Bertelsmann.
Vaihinger, H. (1986). Philosophie des Als-ob. Aalen: Scientia.
1 Als Vortrag präsentiert im Schulheim Hochsteig in Wattwil (SG) am 16. Mai 2014.