Originalarbeit
Markus Erismann
Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Psychotherapiewissenschaft
Zusammenfassung: Wissenschaftstheorie – verstanden als Reflexion auf die wissenschaftliche Tätigkeit –, Methodologie – verstanden als Reflexion auf die wissenschaftliche Verfahrensweise – und Wissenschaftsgeschichte erhöhen den Grad an Methodizität, d. h. der Selbstreflektiertheit einer bestimmten Wissenschaft, wodurch diese ein besseres Selbstverständnis gewinnt. Die vorliegenden wissenschaftstheoretischen Überlegungen sollen zeigen, dass die Psychotherapiewissenschaft für methodologische Selbstreflexion prädestiniert ist, welche den Grad ihrer Methodizität erhöht und zur Anerkennung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin beiträgt. Die Geschichte der Psychotherapiewissenschaft ist gekennzeichnet durch die Bildung einer Vielzahl von Schulen und Methoden, die zum Paradigma der Psychotherapiewissenschaft gehört. Ihr fehlt aber ein schulenumfassender wissenschaftstheoretischer Rahmen, der auch ihrem interdisziplinären Charakter gerecht wird. Weil die psychotherapeutische Situation durch methodische Selbstreflexion gekennzeichnet ist, liegt es nahe, dass der Psychotherapiewissenschaftler über ein ausgeprägtes Bewusstsein der methodischen und methodologischen Selbstreflexion verfügt. Durch die Entwicklung einer eigenen Wissenschaftstheorie, Methodologie und Wissenschaftsgeschichte gelangt die Psychotherapiewissenschaft zu einem reflektierteren Selbstverständnis, das im Hinblick auf ihre Anerkennung als eigenständige Disziplin grundlegend ist.
Schlüsselwörter: Psychotherapiewissenschaft, Methodizität, Wissenschaftstheorie, Methodologie, Wissenschaftsgeschichte, reflektiertes Selbstverständnis
Epistemological considerations to the science of psychotherapy
Summary: Philosophy of science – interpreted as reflection on scientific activity –, methodology – interpreted as reflection on scientific method – and history of science increase the degree of methodicity, i.e. of self-reflection in a certain science, so that it gains a better self-conception. The present epistemological considerations aim at showing that psychotherapy science seems predestined for methodological self-reflection, which increases the degree of its methodicity and contributes to the recognition as an independent scientific discipline. The history of psychotherapy science is marked by the forming of a variety of schools and methods, which belongs to the paradigm of psychotherapy science. But it lacks an epistemological frame, which comprises the different schools and meets its interdisciplinary character. Because the psychotherapeutic situation is marked by methodical self-reflection, it stands to reason, that the psychotherapy scientist has a pronounced consciousness of methodical and methodological self-reflection. By the development of an own philosophy of science, a methodology and a history of science psychotherapy science achieves a reflected self-conception, which is fundamental in view of its recognition as an independent discipline.
Keywords: psychotherapy science, methodicity, philosophy of science, methodology, history of science, reflected self-conception
Riflessioni di natura filosofico-scientifica sulle scienze psicoterapeutiche
Riassunto: La filosofia della scienza - intesa come riflessione sull'attività scientifica - e la metodologia – intesa invece come riflessione sul metodo scientifico - e la storia della scienza aumentano il grado di metodicità, ovvero di autoriflessività di una determinata scienza. Grazie a ciò quest'ultima acquisisce una migliore coscienza di sé. Le presenti riflessioni di natura filosofico-scientifica sono volte a mostrare che le scienze psicoterapeutiche sono predestinate all'autoriflessione metodologica, la quale ne aumenta il grado di metodicità contribuendo al suo riconoscimento quale disciplina scientifica autonoma. La storia della scienze psicoterapeutiche è caratterizzata dalla creazione di una molteplicità di scuole e metodi che appartengono al paradigma delle scienze psicoterapeutiche, alle quali manca tuttavia un quadro filosofico-scientifico che includa le diverse scuole e renda giustizia al suo carattere interdisciplinare. Poiché la situazione psicoterapeutica è caratterizzata dall'autoriflessione metodica, è evidente che chi studia le scienze psicoterapeutiche deve disporre di una grande consapevolezza dell'autoriflessione metodica e metodologica. Attraverso lo sviluppo di una propria filosofia della scienza, metodologia e storia della scienza, le scienze psicoterapeutiche giungono a una coscienza riflessiva di sé, fondamentale in vista appunto del loro riconoscimento come disciplina autonoma.
Parole chiave: scienze psicoterapeutiche, metodicità, filosofia della scienza, metodologia, storia della scienza, coscienza riflessiva di sé
Die folgenden wissenschaftstheoretischen Überlegungen sollen zeigen, dass von der Psychotherapiewissenschaft ein hohes Mass an methodologischer Selbstreflexion zu erwarten ist. Von diesem lässt sich die Anerkennung der Psychotherapiewissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ableiten.
Methodizität als Charakteristikum für Wissenschaftlichkeit
Die Frage, was Wissenschaft ausmacht, lässt sich dahingehend beantworten, dass sich wissenschaftliche Tätigkeit durch einen hohen Grad an Methodizität auszeichnet. Unter Methodizität verstehe ich die methodologische Reflektiertheit einer Wissenschaft, d. h. die Reflexion einer Wissenschaft auf die eigenen Grundlagen, ihre Grundbegriffe und Leitdifferenzen, die Art und Weise der Erkenntnisgewinnung, der Theoriebildung, der Strukturierung und Darstellung gewonnener Erkenntnisse sowie der Entwicklung von Anwendungsverfahren. Methodizität kann als Abgrenzungskriterium gegenüber anderen Arten von Wissen wie etwa dem Alltagswissen oder dem mythischen Wissen dienen.
Wissenschaftstheorie – verstanden als Reflexion auf die wissenschaftliche Tätigkeit –, Methodologie – verstanden als Reflexion auf die wissenschaftliche Verfahrensweise – und Wissenschaftsgeschichte erhöhen den Grad an Methodizität, d. h. an Selbstreflektiertheit einer bestimmten Wissenschaft, wodurch diese ein besseres Selbstverständnis gewinnt. Die Methodologie (Heuristik und methodologische Selbstreflexion) und die Geschichte einer Wissenschaft bilden wesentliche Bestandteile der Wissenschaftstheorie. In der Methodologie einer Wissenschaft werden ihre Heuristik und methodologische Selbstreflexion formuliert und explizit gemacht. In der Wissenschaftsgeschichte werden die Entstehungsgeschichte einer Wissenschaft, die Entwicklung ihres Verhältnisses zu anderen Wissenschaften und die Etablierung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin analysiert und beschrieben.
Während eine allgemeine Wissenschaftstheorie oder Wissenschaftsphilosophie auf die Natur der Wissenschaft und die wissenschaftliche Tätigkeit reflektiert, bedarf jede einzelne wissenschaftliche Disziplin der Entwicklung einer eigenen, speziellen Wissenschaftstheorie, Methodologie und Wissenschaftsgeschichte, welche deren Selbstverständnis konstituieren.
Eine wissenschaftstheoretische Perspektive, aus der die reflektierende Erarbeitung eines Selbstverständnisses einer bestimmten Wissenschaft möglich wird, setzt das Hinaustreten des Wissenschaftlers aus dem wissenschaftlichen Prozess, seine Distanzierung von diesem und die Einnahme eines Reflexionsstandpunktes voraus, von dem aus eine Selbstreflexion, Analyse, Kritik und Fundierung der wissenschaftlichen Praxis sowie die Entwicklung einer Wissenschaftstheorie für eine Wissenschaft erfolgen kann. Die Methodologie betrifft vornehmlich die Reflexion auf die strukturelle Dimension, die Wissenschaftsgeschichte vor allem die Reflexion auf die historische Dimension des wissenschaftlichen Prozesses. Die Reflexion auf beide Dimensionen ergibt die Grundlage für die Entwicklung einer Wissenschaftstheorie und des Selbstverständnisses einer Wissenschaft.
Wissenschaftstheorie hat die Konstitutionsbedingungen einer Wissenschaft zu ihrem Gegenstand. So hat sie etwa den Gegenstandsbereich einer Wissenschaft zu definieren und gegenüber anderen Wissenschaften abzugrenzen oder etwa die Grundannahmen und Grundbegriffe ihrer Heuristik zu analysieren und kritisch zu reflektieren. Die grundlegenden, wissenschaftskonstituierenden Strukturen basieren auf methodologischen Entscheidungen, die sich einerseits aus der wissenschaftlichen Praxis ergeben und andererseits diese prägen. So beruht zum Beispiel die Antwort auf die Frage, ob sich eine Wissenschaft auf nur eine gültige Methode, auf eine Vielzahl von Methoden oder auf gar keine bestimmte Methode festlegt, auf einer methodologischen Entscheidung. Ebenso gründet ihre Orientierung auf einem bestimmten Wissenschaftsideal, einem natur- oder geisteswissenschaftlichen, auf einer Entscheidung, welche das Selbstverständnis und die Praxis einer Wissenschaft prägen.
Die Wissenschaftstheorie einer bestimmten Wissenschaft hat deren begriffliche und methodische Grundlagen zu reflektieren und sie zu explizieren. Wenn eine wissenschaftliche Disziplin in Lehre und Forschung eine Vielzahl von Schulen mit untereinander unvereinbaren methodischen Ansätzen und philosophischen Bezügen aufweist, kann es das methodologische und wissenschaftstheoretische Interesse sein, unter Beibehaltung der verschiedenen Ansätze eine allgemeine, schulenübergreifende Methodologie zu formulieren. Eine solche allgemeine Methodologie lässt sich umso leichter finden, je ausgebildeter das Selbstverständnis einer Wissenschaft ist. Wissenschaftstheorie gehört daher nicht nur als Fach in den Lehrplan einer wissenschaftlichen Ausbildung, um die Methodenwahl zu erleichtern, sondern ist Aufgabe einer Wissenschaft, um zu einem Selbstverständnis zu gelangen. Einerseits erfordert die wissenschaftliche Tätigkeit des einzelnen Wissenschaftlers die Entscheidung und Wahl zugunsten einer bestimmten Methode, andererseits verlangen wissenschaftstheoretische Reflexion und die Entwicklung einer schulenumfassenden Methodologie das Offenlassen von Entscheidungsmöglichkeiten. In dieser Spannung zwischen wissenschaftlicher Praxis, in der Entscheidungen zu treffen sind, und wissenschaftstheoretischer Selbstreflexion, die Entscheidungen offen hält, entwickelt sich das Selbstverständnis einer Wissenschaft.
Weiter hat eine wissenschaftliche Disziplin die Aufgabe, durch methodologische Selbstreflexion ihr Verhältnis zu anderen Disziplinen zu klären und zu formulieren. Sie hat sich zum einen von anderen Wissenschaften abzugrenzen, zum anderen ein eigenes Wissenschafts- und Forschungsverständnis zu entwickeln, von dem aus eine wechselseitige Anerkennung und ein interdisziplinärer Dialog möglich werden. Während sich etwa die Mathematik oder die formale Logik selbst genügen, zeichnet sich die Psychotherapiewissenschaft gerade durch ihre Interdisziplinarität aus.
Wissenschaftstheorie umfasst zudem die Analyse der Institutionalisierungs- und Kommunikationsformen als Konstitutionsbedingungen einer Wissenschaft. Wissenschaftliche Tätigkeit ist einerseits zwar nicht unbedingt an universitäre Institutionen gebunden, andererseits bilden aber Ausbildungs- und Forschungsstätten, Berufs- und Fachverbände, wissenschaftsspezifische Zeitschriften und Veranstaltungen, Lehr- und Handbücher die jeweilige Disziplin konstituierende Elemente. Die Analyse und Beschreibung der Entwicklung und Bildung solcher Strukturen fällt in den Bereich der Wissenschaftsgeschichte einer Disziplin.
Die Aufgabe der Methodologie einer Wissenschaft besteht einerseits in der Entwicklung einer Heuristik (Erkenntnistheorie und Forschungsmethoden) und einer Methodik der Theoriebildung, Strukturierung und Darstellung des gewonnenen Wissens sowie von Verfahren und Techniken der Anwendung des theoretischen Wissens, andererseits in der selbstreflexiven, kritischen Befragung und Offenlegung der Grundlagen dieser Erkenntnis- und Anwendungsmethoden. Je ausgebildeter und reflektierter die Methodologie einer Wissenschaft ist, desto höher ist der Grad ihrer Methodizität.
Eine methodologische Frage ist z. B., inwiefern eine Wissenschaft die Heuristik anderer Wissenschaften übernimmt oder selbst eine ihrem Gegenstand, ihrer Erkenntnissituation und ihrem Erkenntnisziel angemessene Heuristik entwickelt. In jedem Fall bedarf es einer selbstreflexiven Analyse des Gegenstandes und der geeigneten Erkenntnis- und Forschungsmethoden sowie der Erkenntnissituation und Praxis, aus welcher sich eine Wissenschaft entwickelt. Die Methodologie einer Wissenschaft hat aufzuweisen, worin die Spezifität ihrer Erkenntnissituation, ihre grundlegende Fragestellung und ihr Erkenntnisziel besteht, wodurch sie ein Selbstverständnis gewinnt, das ihr ermöglicht, sich gegenüber anderen Wissenschaften und Heuristiken zu positionieren und abzugrenzen.
Methodologische Selbstreflexion bezieht sich einerseits auf die Erkenntnissituation, d.h. die Praxis der Erkenntnisgewinnung, andererseits auf die methodischen Grundbegriffe, Leitdifferenzen und die Verfahren der Theoriebildung. Somit hat sie auch auf das wechselseitige Verhältnis zwischen Theorie und Praxis zu reflektieren. Methodologische Selbstreflexion verlangt die Bereitschaft des Wissenschaftlers und einer Wissenschaft zur Selbstkritik und Selbstveränderung, zur Reorganisation ihrer Begrifflichkeiten, zur Veränderung der Erkenntnispraxis und zur Offenheit für alternative Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten. Sie bildet zusammen mit dem historischen Wissen um ihre Traditionen und philosophischen Bezüge, ihre Entstehung und Entwicklung die Basis für das Selbstverständnis einer Wissenschaft, für die Erhöhung des Grads ihrer Methodizität und für ihre Etablierung als eigenständige Disziplin.
Geschichte und Struktur der Psychotherapiewissenschaft
Die Geschichte der eher geisteswissenschaftlich orientierten Psychotherapiewissenschaft lässt sich zum einen im Verhältnis zur Entwicklung ihrer an naturwissenschaftlicher Methodik orientierten Nachbardisziplinen Medizin (Psychiatrie) und (klinische) Psychologie und als Prozess der Abgrenzung von diesen, zum anderen als Differenzierungsprozess mit der Entstehung verschiedener Schulen und Methoden und als Entwicklung eines die verschiedenen Schulen umfassenden Selbstverständnisses verstehen.
Aufgrund ihres Ansatzes, „den leidenden Menschen in dessen leibseelischer Ganzheit innerhalb der konkreten Lebenssituation und lebensgeschichtlichen Entwicklung“ anzusprechen (Schweizer Charta für Psychotherapie, 2014, S. 7), steht die Psychotherapiewissenschaft – wie die Psychologie – zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Als hermeneutische Erkenntnis- und Behandlungsmethode, in der es um zwischenmenschliches Verstehen durch Empathie und die Veränderung durch Gespräch, Beziehungsgestaltung, Selbstreflexion und Bewusstwerdung geht, steht sie den Geisteswissenschaften näher als den Naturwissenschaften.
Eine umfassende Geschichte der Psychotherapiewissenschaft, die als Wissenschaftsgeschichte Bestandteil der Wissenschaftstheorie der Psychotherapiewissenschaft wäre und zum Selbstverständnis dieser Wissenschaft beitragen würde, liegt meines Wissens noch nicht vor. Ein erster wissenschaftshistorischer Ansatz für die Geschichte und Entwicklung der Psychotherapiewissenschaft in der Schweiz bietet der Artikel von Buchmann et al. (1996), auf den ich mich unter anderen im Folgenden beziehe.
Ausgehend von der psychoanalytischen Methode Freuds stellen die Autoren jenes Artikels die Geschichte und den Entwicklungsprozess der Psychotherapie und Psychotherapiewissenschaft einerseits als „eine Verästelung im Sinne von Spaltungen in der Psychotherapie“ (Buchmann et al., 1996, S. 82) dar, andererseits als sich wiederholende, scheiternde Integrationsversuche, welche die durch die Spaltungen entstandenen unterschiedlichen und unvereinbaren Schulen und Methoden zusammenführen sollten, um dadurch die Anerkennung der Psychotherapie als eigenständige Wissenschaft zu ermöglichen.
Dieser Prozess der Spaltungen in eine Vielzahl von Ansätzen und vergeblichen Integrationsbemühungen lässt sich, wie dies etwa Fischer (2008) oder van Deurzen-Smith und Smith (1996, S. 21) tun, als Charakteristikum einer präparadigmatischen Wissenschaft im Sinne von Kuhns (1962) Wissenschaftstheorie verstehen: „Kuhn (…) hat gezeigt, dass jede entwickelte Wissenschaft eine ausgedehnte Phase des Theorienpluralismus und der Konfusion durchläuft, die er als präparadigmatische Phase charakterisiert. In Kuhns Ansatz zur Wissenschaftsgeschichte und philosophie wird treffend behauptet, dass eine Wissenschaft, sobald sie ein hochentwickeltes Stadium erreicht, ein ‚Paradigma‘ annimmt – ein zentrales Verständnis des betreffenden Gegenstandsbereiches und der ihm angemessenen Untersuchungsverfahren, dem nahezu alle WissenschaftlerInnen anhängen.“
Initiiert vom Schweizer Psychotherapeutenverband (SPV/ASP) wurde zwischen 1989 und 1991 ein schulenübergreifendes Grundlagenpapier, die Schweizer Charta für Psychotherapie, ausgearbeitet und im März 1993 von verschiedenen psychotherapeutischen Weiterbildungsinstitutionen, Fach- und Berufsverbänden unterzeichnet. Das psychotherapiewissenschaftliche Selbstverständnis dieser Charta unterscheidet sich wesentlich von der oben zitierten Position: Während letztere die Schulen- und Methodenvielfalt dem präparadigmatischen Zustand einer Wissenschaft zuschreibt, sieht die Charta diese Vielfalt und Unterschiedlichkeit der therapeutischen Ansätze als Qualitätsmerkmal, das der Pluralität der Gesellschaft und der Verschiedenheit der Menschen entspricht. Die Vielfalt der Schulen und Methoden ist demnach ein Charakteristikum des Paradigmas der Psychotherapiewissenschaft und ein Qualitätsmerkmal, das es zu bewahren gilt.
Die Psychotherapiewissenschaft befindet sich jedoch aus einem anderen Grund noch in einem präparadigmatischen Zustand. Für Buchmann et al. (1996, S. 78) sind „sowohl die Vermischungsversuche, der Eklektizismus oder eine allgemeine Psychotherapie als auch die gehässige Kampfatmosphäre zwischen den Richtungen“ – also Symptome der Konfusion präparadigmatischer Wissenschaft – aufgrund des Fehlens „einer reflektierten und klar deklarierten Erkenntnistheorie“ entstanden. Der Psychotherapiewissenschaft fehlt aber nicht nur eine solche Erkenntnistheorie, sondern überhaupt eine Wissenschaftstheorie, welche ihr einen einheitlichen, schulenumfassenden und unabhängigen Rahmen unter Beibehaltung der Pluralität ihrer Ansätze und Methoden gibt, dem psychotherapiewissenschaftlichen Selbstverständnis der Charta entspricht und die Entstehung eines eigenständigen Paradigmas ermöglicht. Die Entwicklung einer eigenen Wissenschaftstheorie für die Psychotherapiewissenschaft ist aber – da es um die Bildung ihres Selbstverständnisses aus der Praxis der Psychotherapie geht – nicht aussenstehenden Wissenschaftstheoretikern, sondern den Psychotherapiewissenschaftlern selbst aufgegeben. Die Charta als erstmalige Formulierung eines psychotherapiewissenschaftlichen Selbstverständnisses kann als Ausgangspunkt der Entwicklung einer Wissenschaftstheorie für die Psychotherapiewissenschaft dienen.
Neben der Pluralität ihrer Schulen und Methoden ist ihre Interdisziplinarität ein weiteres Charakteristikum und Strukturmerkmal des Paradigmas der Psychotherapiewissenschaft. Zwar steht diese zu ihren naturwissenschaftlich orientierten Nachbardisziplinen Medizin und Psychologie in bestimmten Verhältnissen, vor allem aber unterhält die Psychotherapiewissenschaft als humanwissenschaftliche Disziplin Beziehungen zu anderen Human- und Geisteswissenschaften wie Kunstwissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Theologie und Pädagogik, von denen sie nicht nur Anregungen erhält, sondern die psychotherapiewissenschaftlichen Methoden dienen in diesen Wissensgebieten als Forschungsmethoden. Dieser interdisziplinäre Charakter der Psychotherapie findet sich in ausgesprochener Weise bereits bei der Psychoanalyse Freuds, die er als Forschungsmethode verstand und durch die die Beziehungen zu den verschiedensten Disziplinen hergestellt werden, „die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer grossen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen“ (Freud, 1948 zit. nach Buchmann et al., 1996, S. 81).
Eine Wissenschaftstheorie der Psychotherapiewissenschaft hat deren interdisziplinäre Verhältnisse zu sowohl den naturwissenschaftlichen als auch den humanwissenschaftlichen Disziplinen hinsichtlich ihrer Erkenntnis- und Anwendungsmethoden methodologisch zu klären, d. h. zu analysieren, zu explizieren und vergleichend darzustellen. Und sie hat sich zudem in ein Verhältnis zu allgemeinen wissenschaftstheoretischen Positionen und Fragen der Wissenschaftlichkeit zu setzen, um so ein wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis zu entwickeln, das ihr zur Anerkennung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin verhilft.
Zur Methodizität der Psychotherapiewissenschaft
Methodische und methodologische Selbstreflexion
Eine entwickelte Methodologie aufgrund methodologischer Selbstreflexion erhöht den Grad der Methodizität einer Wissenschaft, lässt diese aus einem präparadigmatischen in einen paradigmatischen Zustand treten und ermöglicht ihre Anerkennung als eigenständige Disziplin. Im Folgenden soll gezeigt werden, weshalb gerade die Psychotherapiewissenschaft in einem besonderen Mass zu einer solchen methodologischen Selbstreflexion prädestiniert ist.
Insofern Freuds Psychoanalyse als ein Ausgangspunkt für die Entwicklung der Psychotherapie betrachtet werden kann, dient die Anführung der wissenschaftsphilosophischen Beurteilung von Habermas (1975) zum Verständnis der methodologischen Bedeutung dieses Anfangs. Für Habermas (1975, S. 262) ist die Psychoanalyse „als das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft relevant.“ Selbstreflexion wird bei Freud zur wissenschaftlichen Methode. Dies hat noch nichts mit der methodologischen Selbstreflexion einer Wissenschaft zu tun, sondern bezieht sich erkenntnistheoretisch lediglich auf die Methodik der Forschung und Erkenntnisgewinnung der Psychoanalyse. Freuds Entwicklung der Psychoanalyse als Wissenschaft basiert aber dennoch auch auf methodologischer Selbstreflexion: Freud hat „indem er eine neue Disziplin entwickelte, deren Voraussetzungen reflektiert“ (Habermas, 1975, S. 262). Habermas’ methodologische Einschätzung der Psychoanalyse kann als Leitgedanke für die nachfolgende Analyse der methodologischen Anforderungen, die die Psychotherapiewissenschaft an sich selber zu stellen hat und die sich aus ihrer besonderen methodologischen Situation ergeben, genommen werden. Das heisst etwa, dass die Entwicklung der Psychotherapiewissenschaft von Beginn an von einer permanenten wissenschaftstheoretischen – methodologischen und wissenschaftshistorischen – Selbstreflexion begleitet werden sollte, die ihr Paradigma fundiert und konstituiert.
Situatives Zusammenfallen von Heilen und Forschen
Die Psychoanalyse und die Psychotherapie zeichnen sich durch eine epistemologische Eigenart aus: Behandlung und Forschung, die Anwendung von Heil- und Forschungsverfahren fallen situativ zusammen. Selbsterkenntnis als Erkenntnisziel der Analyse mittels methodischer Selbstreflexion auf der einen, psychoanalytische und allgemeine psychologische Erkenntnisse mittels Reflexion auf das therapeutische Geschehen auf der anderen Seite werden in der konkreten, intersubjektiven therapeutischen Situation zwischen Patient und Therapeut durch das Gespräch, die Beziehungsgestaltung und den Prozess der Bewusstwerdung erreicht. Diese situative Verbindung von Heilen und Forschen ist ein Grund für die hohe Komplexität der psychotherapeutischen Situation.
Psychotherapie verlangt daher nicht nur ein methodologisches Behandlungskonzept, dem die angewendeten Behandlungsmethoden und techniken zu entsprechen haben, sondern auch ein erkenntnistheoretisches Konzept, das der Anwendung von Forschungsmethoden zur Erkenntnisgewinnung – sei es zur Selbsterkenntnis oder zur Erkenntnis allgemeiner psychologischer Zusammenhänge – zugrunde liegt. Methodologische Selbstreflexion der Psychotherapie und Psychotherapiewissenschaft beinhaltet die stete, kritische Befragung sowohl der Behandlungs- und der Forschungsmethodik als auch der diesen zugrunde liegenden Behandlungs- und Erkenntniskonzepte.
Psychotherapeutische Situation
Aufgrund des Prozesses hermeneutischen Verstehens, der dem psychotherapeutischen Geschehen zugrunde liegt, wird dieses methodologisch durch den hermeneutischen Zirkel geprägt. Die Bildung eines Verständnisses der Problematik des Patienten geht seitens des Therapeuten von einem von Vorurteilen bestimmten Vorverständnis aus. In einer spiralförmigen Bewegung nähert sich der Therapeut durch empathisches Gespräch und eine das Vorverständnis verändernde Selbstreflexion dieser Problematik an. Soweit die psychotherapeutische Situation methodologisch vor allem als ein hermeneutischer Prozess verstanden wird, der auf Empathie und Selbstreflexion beruht, liegt sie einer geisteswissenschaftlichen Perspektive und Methodik näher als einer naturwissenschaftlichen. Da es sich im psychotherapeutischen Selbstverständnis beim therapeutischen Geschehen um ein wechselseitiges Beziehungsgeschehen zwischen Patient und Therapeut handelt, geht es in der Hermeneutik der psychotherapeutischen Situation nicht nur um ein einseitiges Verstehen der Problematik des Patienten seitens des Therapeuten, sondern um eine dialogische, intersubjektive Beziehungsgestaltung und um ein Verstehen der Beziehungsstruktur zweier Subjekte. Das Beziehungsgeschehen ist in der Psychotherapie nicht nur Rahmenbedingung der Behandlung, wie etwa in der Medizin, sondern „eines der wichtigsten Mittel, um therapeutische Veränderung zu bewirken“ (Wagner, 1996, S. 230).
Zum einen wird dieser Prozess des wechselseitigen Verstehens und der intersubjektiven Beziehungsgestaltung nicht nur durch äusseres, beobachtbares Verhalten, sondern vor allem auch von dem subjektiven Beziehungserleben bestimmt, das auf inneren, seelischen Vorgängen beruht. Während das äussere Verhalten durch Beobachtung mehr oder weniger objektivierbar ist, ist das innere, subjektive Empfinden, Erleben und Erkennen seitens sowohl des Patienten als auch des Therapeuten erst durch Selbstreflexion objektivierbar. Soweit es in der Psychotherapie sowohl um eine intersubjektive Beziehungsgestaltung und Bildung eines wechselseitigen Verständnisses des Beziehungsgeschehens als auch um das empathische Verstehen des wechselseitigen Beziehungserlebens geht, bestimmt ein subjektiver Faktor die psychotherapeutische Situation mit. Eine psychotherapeutische Hermeneutik, die auf Empathie und Selbstreflexion beruht, geht daher mit dem „Einbezug des Subjektiven“ einher: dieser „ist das wesentlich Eigene der Psychotherapie auch aus wissenschaftstheoretischer Sicht“ (Schweizer Charta für Psychotherapie, 2014, S. 13).
In der Psychotherapiewissenschaft bezeichnet „Methode“ zum einen eine bestimmte psychotherapeutische Schule und Richtung mit einem bestimmten Menschenbild und einer anthropologischen Theorie, zum anderen bestimmte Verfahrensweisen und Techniken in der psychotherapeutischen Praxis. Die therapeutische Situation wird einerseits von der Problematik des Patienten, andererseits von der praktischen Methodik des Therapeuten, die sich von dessen Menschenbild herleiten lässt, mithin von der wechselseitigen Beziehung zwischen Praxis und Theorie bestimmt. Die praktische Anwendung einerseits einer Behandlungs-, andererseits einer Forschungsmethode geschieht auf dem Hintergrund einer anthropologischen Theorie, einem Wissen über allgemeine psychologische Vorgänge unter Einbezug von Erkenntnissen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Psychotherapie als Prozess der Bewusstwerdung und Selbsterkenntnis bedarf einer permanenten Selbstreflexion seitens sowohl des Patienten als auch des Therapeuten. Die Selbstreflexion des Therapeuten basiert sowohl auf der während seiner Ausbildung gemachten praktischen Selbsterfahrung in der von ihm gewählten Methode als auch auf einem theoretischen Methodenverständnis.
Das konkrete, praktische therapeutische Geschehen mit der Entwicklung eines Verständnisses für die Problematik des Patienten auf der einen Seite, der Theoriebildung auf dem Hintergrund des theoretischen Vorverständnisses des Therapeuten auf der anderen Seite, bildet einen spiralförmigen Verstehens- und Erkenntnisprozess, der seitens des Therapeuten von einer fortwährenden Reflexion auf das therapeutische Geschehen und einer Selbstreflexion auf sein eigenes Vorverständnis und theoretisches Wissen begleitet wird. Voraussetzung für Bewusstwerdung, Erkenntnisgewinn und Veränderungen des Seelenlebens ist die Offenheit für die selbstreflexive, kritische Befragung des eigenen Selbstverständnisses. Der diese Selbstreflexion begleitende Supervisionsprozess ermöglicht ihre Objektivierung. Hinsichtlich der Methode – sei es der angewendeten Behandlungs- und Forschungsmethodik, sei es des methodisch-theoretischen Hintergrundes der gewählten Schule – heisst dies, dass ihre Grundannahmen, Grundbegriffe und Leitdifferenzen bewusst gemacht, in Frage gestellt und allenfalls verändert werden. Diese methodologische Überprüfung hat jeder Therapeut immer wieder von Neuem an sich selbst durchzuführen. In dieser durchgängigen Verbindung zwischen therapeutischem Geschehen, Reflexion auf dieses Geschehen und Selbstreflexion ist der hohe Komplexitätsgrad der therapeutischen Situation gegründet.
Leibseelische Ganzheit des Menschen
Die psychotherapeutische Situation in ihrer ganzen Komplexität gehört in den Gegenstandsbereich der Psychotherapiewissenschaft. Sie ist der Ort, an dem die Heilbehandlung „den leidenden Menschen in dessen leibseelischer Ganzheit innerhalb der konkreten Lebenssituation und lebensgeschichtlichen Entwicklung anspricht“ (Schweizer Charta für Psychotherapie, 2014, S. 7). Der leidende Mensch in seiner leibseelischen Ganzheit ist der eigentliche, nicht minder komplexe Gegenstand der Psychotherapiewissenschaft. Von ihm aus ergibt sich die Stellung der Psychotherapiewissenschaft zwischen den Naturwissenschaften mit ihrer auf das Materielle gerichteten, objektivierenden und quantifizierenden Methodik auf der einen Seite und den Geisteswissenschaften mit ihrer auf das Geistige gerichteten, das Subjektive einbeziehenden und qualitativen Methodik auf der anderen Seite. Die Psychotherapiewissenschaft hat die Aufgabe beide Perspektiven zu verbinden. Walach (2013), der eine Wissenschaftstheorie für die Psychologie vorgelegt hat, sieht zwar diese Doppelseitigkeit nicht als Charakteristikum der Psychotherapiewissenschaft, sondern der Psychologie. Sein Konzept der Komplementarität kann aber geradezu auf die Psychotherapiewissenschaft übertragen werden. Wenn der Mensch in seiner leibseelischen Ganzheit erfasst werden soll, dann lässt sich seine leiblich-körperliche Seite mit der naturwissenschaftlich-messenden Methodik, seine geistig-psychische Seite mit der geisteswissenschaftlich-verstehenden Methodik untersuchen. Demnach verbindet die Psychotherapiewissenschaft die beiden Perspektiven, indem sie Methoden, die sich scheinbar gegenseitig ausschliessen, auf denselben Gegenstand anwendet (vgl. Walach, 2013, S. 84). Wie immer die Psychotherapiewissenschaft ihr Verhältnis zu den Naturwissenschaften bestimmt, so hat sie dieses Verhältnis wissenschaftstheoretisch, methodologisch und heuristisch zu klären und zu formulieren. Sie hat „sowohl die Minimalerfordernisse der Naturwissenschaftler als auch die der hermeneutischen Forscher“ zu erfüllen (van Deurzen-Smith & Smith, 1996, S. 29).
Von der leibseelischen Ganzheit des Menschen als Gegenstand der Psychotherapiewissenschaft und der damit verbundenen Stellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften her erklärt sich auch ihr interdisziplinärer Charakter. Sie bedient sich einerseits der Methoden und Forschungsergebnisse anderer Disziplinen, um ihre aus der klinischen Erfahrung stammenden Daten zu untersuchen, ihre eigenen Methoden und Erkenntnisse werden aber andererseits auch in anderen Wissensgebieten, sei es für die Forschung in anderen Wissenschaften oder zur Erhellung von Vorgängen im praktischen Alltag, angewandt.
Das Verhältnis zwischen den Methoden der Natur- und der Geisteswissenschaften zu klären, ist nicht Aufgabe der Psychotherapiewissenschaft, sondern einer umfassenderen, allgemeineren Wissenschaftstheorie. Dennoch hat die Psychotherapiewissenschaft ihre eigenen, qualitativen und das Subjektive einbeziehenden Methoden mittels methodologischer Selbstreflexion in ein Verhältnis zu quantifizierender und objektivierender Methodik zu setzen, dieses Verhältnis zu reflektieren und eine Methodologie zu formulieren, die beide wissenschaftlichen Sichtweisen verbindet, wodurch sich die Psychotherapiewissenschaft ein eigenes methodologisches Fundament schafft, das einer interdisziplinären Denkweise entspricht.
Obwohl sie die leibseelische Ganzheit des Menschen im Blick hat und Ergebnisse der Naturwissenschaften und der Medizin, die sich vor allem auf die leibliche Seite richten, in ihre Konzepte und Theoriebildung einbezieht, steht in der Psychotherapiewissenschaft die auf die geistig-seelische Seite, mithin auf das Bewusstsein gerichtete hermeneutische Methode im Vordergrund. Die psychotherapeutische Situation kann schulenübergreifend als hermeneutische Situation gelten, in der es um das Verstehen mittels empathischen Gesprächs, Beziehungsgestaltung, Selbstreflexion und Bewusstwerdung geht. Ausgehend von der Hermeneutik der psychotherapeutischen Situation hat die Entwicklung einer Methodologie und Wissenschaftstheorie der Psychotherapiewissenschaft einerseits „nach aussen“ ihrer Interdisziplinarität, andererseits „nach innen“ ihrer Schulen- und Methodenpluralität Rechnung zu tragen.
Pluralismus psychotherapeutischer Schulen und Methoden
Das Geschehen in der psychotherapeutischen Situation, der psychotherapeutische Prozess, spielt sich seitens des Therapeuten auf dem Hintergrund der von ihm gewählten Methode und anthropologischen Theorie ab. Die zur Auswahl stehenden Schulen unterscheiden sich hinsichtlich der angewendeten Behandlungsmethoden und techniken, der Forschungs- und Erkenntnisverfahren sowie des Welt- und Menschenbildes.
Die Entstehung der Vielfalt an psychotherapeutischen Schulen lässt sich als ein Prozess von Abspaltungen, scheiternden Integrationsversuchen und Bemühungen, die gegenseitige Bekämpfung der verschiedenen Schulen durch einen wissenschaftlichen Diskurs zu überwinden, darstellen. Eine Wissenschaftsgeschichte der Psychotherapie und Psychotherapiewissenschaft, die die Entwicklung der Vielfalt von Therapiemethoden analysiert und darstellt, wäre wesentlicher Bestandteil einer Wissenschaftstheorie der Psychotherapiewissenschaft. Die Pluralität an Schulen und Methoden wird von den Psychotherapiewissenschaftlern wissenschaftstheoretisch verschieden eingeschätzt: Während einige – z. B. Fischer (2008) – sie als Merkmal einer Wissenschaft im präparadigmatischen Zustand sehen, wird sie von anderen – etwa von den Verfassern der Schweizer Charta für Psychotherapie (2014) – als Qualitätsmerkmal verstanden, das der pluralistischen Gesellschaft entspricht, das es zu bewahren gilt und das folglich zum Paradigma der Psychotherapiewissenschaft gehört.
Doch selbst wenn die vorhandene Pluralität der Methoden als Qualitätsmerkmal anerkannt wird, bleibt ein Mangel spürbar: Es fehlt eine allgemeinere, schulenübergreifende und die Pluralität doch bewahrende Perspektive, von der aus eine Wissenschaftstheorie der Psychotherapiewissenschaft erarbeitet werden könnte, die dieser zu einem umfassenden Selbstverständnis verhelfen würde. Dazu bedarf es der Bereitschaft der verschiedenen Schulen für den „Austausch der Erkenntnisse“ und der „Achtung der Verschiedenartigkeit der Ansätze“ und das Angehen gemeinsamer Fragen „auf dem Hintergrund einer reflektierten und klar deklarierten Erkenntnistheorie“ (Buchmann et al., 1996, S. 77 f.). Zwar mag es sein, dass die einzelnen Schulen über mehr oder weniger ausgearbeitete Erkenntnistheorien und methoden (etwa phänomenologische, psychoanalytische, dialektische, empirisch-analytische oder hermeneutische) verfügen, was aber fehlt, ist eine schulenunabhängige Wissenschaftstheorie und Methodologie, in der die verschiedenen methodischen Ansätze einander gegenübergestellt und ihre Grundlagen vergleichend analysiert und reflektiert werden. Voraussetzung für eine solche Wissenschaftstheorie der Psychotherapie ist, dass jede einzelne Schule mittels methodologischer Selbstreflexion ihre eigenen methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen und Leitdifferenzen reflektiert und expliziert. Aufgrund der dadurch gewonnenen Darstellungen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses jeder einzelnen Schule lässt sich aus einer wissenschaftstheoretisch unabhängigen Perspektive zum einen eine komparative Analyse und Darstellung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Schulen erarbeiten, zum anderen ein schulenumfassendes, die Verschiedenheit der Schulen achtendes wissenschaftstheoretisches Grundkonzept und Selbstverständnis der Psychotherapiewissenschaft entwickeln.
Diesen Weg geht die Schweizer Charta für Psychotherapie (2002), indem sie zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Psychotherapie eine „Deklaration der Schweizer Charta für Psychotherapie zu Begriff und Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit der Psychotherapieverfahren“ verfasst hat. Darin formuliert sie von einem schulenumgreifenden Standpunkt aus wissenschaftstheoretische Perspektiven und Aufgaben der Psychotherapiewissenschaft und der einzelnen psychotherapeutischen Richtungen. Ein „Reglement zur Deklaration der Schweizer Charta für Psychotherapie“ präzisiert die wissenschaftlichen Kriterien der Psychotherapieverfahren (http://www.psychotherapiecharta.ch/charta/fdownloads/Charta%20Dokumente/reglement-d.pdf).
Entwicklung einer Wissenschaftstheorie für Bildung eines Selbstverständnisses und Anerkennung der Psychotherapiewissenschaft als eigenständige Disziplin
Wissenschaftstheorie als Reflexion auf die Natur von Wissenschaft und die wissenschaftliche Tätigkeit bedarf der Einnahme eines Reflexionsstandpunktes, der ausserhalb der wissenschaftlichen Tätigkeit liegt. Die Entwicklung einer Wissenschaftstheorie für ein bestimmtes Fachgebiet verlangt zwar, dass der Wissenschaftler einerseits aus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hinaustritt und einen Reflexionsstandpunkt ausserhalb dieser einnimmt, aber seine wissenschaftstheoretische Selbstreflexion auf sein eigenes Fachgebiet soll bei der Analyse der praktischen Ausübung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ansetzen.
Für eine Wissenschaftstheorie der Psychotherapiewissenschaft heisst dies, dass der Psychotherapeut und der Psychotherapiewissenschaftler einerseits seine methodologische Selbstreflexion auf die eigene Methodik und den theoretischen Hintergrund, vor dem er die Methodik einsetzt, von einem Standpunkt ausübt, der ausserhalb der psychotherapeutischen Tätigkeit und des theoretischen Hintergrundes liegt, dass er aber andererseits seine wissenschaftstheoretische Reflexion bei der Analyse der praktischen psychotherapeutischen Tätigkeit, d. h. bei der Analyse der psychotherapeutischen Situation ansetzt. Wie in der psychotherapeutischen Praxis hat der Psychotherapiewissenschaftler sich von dieser zu distanzieren, um auf sie reflektieren zu können – „reflexives Bewusstsein muss eben diese Schleife machen: weg von sich selbst, um zu sich selbst zu kommen“ (Slunecko, 1996, S. 312). Weil die psychotherapeutische Situation selbst in ihrem Kern durch methodische Selbstreflexion bestimmt ist, liegt es nahe, dass der Psychotherapiewissenschaftler über ein ausgeprägtes Bewusstsein der Selbstreflexion als Methode und der methodologischen Selbstreflexion, mithin über ein Bewusstsein für wissenschaftstheoretische Fragen, die die Psychotherapiewissenschaft betreffen, verfügt. So stellt etwa Wagner (1996, S. 235) für die Psychoanalyse fest, dass sie die Schule „mit der längsten Tradition der Auseinandersetzung mit wissenschaftstheoretischen Fragestellungen“ ist. Von der Psychotherapiewissenschaft ist daher zu erwarten, dass sie selbst eine ihre Entwicklung begleitende Wissenschaftstheorie erarbeitet.
Aufgaben einer solchen Wissenschaftstheorie für die Psychotherapiewissenschaft sind u. a., deren epistemologischen und methodologischen Grundlagen zu untersuchen und darzustellen, die Grenzen zu anderen Disziplinen hinsichtlich Gegenstand und Methode aufgrund vergleichender Untersuchungen zu ziehen, einerseits die einzelnen Schulen wissenschaftstheoretisch und methodologisch zu analysieren, andererseits eine allgemeine, schulenunabhängige, die Vielfalt der Schulen beachtende Methodologie zu erarbeiten sowie die Genese und Entwicklung der Psychotherapiewissenschaft wissenschaftshistorisch stetig nachzuzeichnen.
Eine solche wissenschaftshistorische Analyse findet sich etwa in dem Artikel von Tschuschke et al. (2016). Darin wird die Genese der wichtigsten psychotherapeutischen Konzepte auf dem Hintergrund allgemeinerer historischer Entwicklungen dargestellt.
Es ist die Aufgabe jeder einzelnen Schule, auf ihre spezifische wissenschaftliche Grundlage zu reflektieren und deren Grundbegriffe und Leitdifferenzen sowie die Art und Weise der Theoriebildung und die innere Struktur sowohl ihrer Theorie der Methodik als auch der anthropologischen Theorie analysierend und explizierend offenzulegen.
So ist ein Resultat der von der Schweizer Charta eingeführten, regelmässig stattfindenden Wissenschaftskolloquien der von Schlegel et al. (2011) herausgegebene Sammelband „Psychotherapien“, in dem die psychotherapeutischen Ausbildungsinstitutionen, die die Charta unterzeichnet haben, sich selbst von innen her darstellen. Ein vorgegebenes Raster, an dem sich diese Darstellungen orientieren, ermöglicht einen Vergleich hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Schulen.
Die Entwicklung einer Wissenschaftstheorie für die Psychotherapiewissenschaft, die deren Grad an Methodizität erhöht, ist also nicht Aufgabe einer aussenstehenden, allgemeinen Wissenschaftstheorie oder Wissenschaftsphilosophie, sondern der Psychotherapiewissenschaft selbst, die dadurch zu einem reflektierteren Selbstverständnis gelangt, das im Hinblick auf ihre wissenschaftliche Anerkennung als eigenständige Disziplin grundlegend ist.
Autor
Markus Erismann, Dr. phil., Studium der Philosophie und Germanistik, 1996 Promotion am Philosophischen Seminar der Universität Zürich. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie und Methodologie
Korrespondenz
Literatur
Buchmann, R., Schlegel, M., & Vetter, J. (1996). Die Eigenständigkeit der Psychotherapie in Wissenschaft und Praxis: die Bedeutung der Schweizer Psychotherapie-Charta. In: Pritz, A. (Hrsg.), Psychotherapie – eine neue Wissenschaft vom Menschen (S. 75–121). Wien: Springer.
Fischer, G. (2008). Logik der Psychotherapie: philosophische Grundlagen der Psychotherapiewissenschaft. Kröning: Asanger.
Freud, S. (1948). Zur Frage der Laienanalyse. In: Freud, S., Werke aus den Jahren 1925–1931 (S. 209–296; Gesammelte Werke, Bd. 14). London: Imago.
Habermas, J. (1975). Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Kuhn, T. (1962). The structure of scientific revolutions. Chicago: University of Chicago Press.
Schlegel, M., Meier, I., & Schulthess, P. (Hrsg.) (2011). Psychotherapien: ein Führer der Schweizer Charta für Psychotherapie für die in ihr vertretenen tiefenpsychologischen, humanistischen und integrativen Psychotherapieverfahren. Zürich: Verein Schweizer Charta für Psychotherapie.
Schweizer Charta für Psychotherapie (2002). Deklaration der Schweizer Charta für Psychotherapie zu Begriff und Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit der Psychotherapieverfahren. Psychotherapie Forum, 10, 228–230.
Schweizer Charta für Psychotherapie (Hrsg.) (2014). Schweizer Charta für Psychotherapie. Zürich: Verein Schweizer Charta für Psychotherapie.
Slunecko, T. (1996). Einfalt oder Vielfalt in der Psychotherapie. In: Pritz, A. (Hrsg.), Psychotherapie – eine neue Wissenschaft vom Menschen (S. 293–321). Wien: Springer.
Tschuschke, V., von Wyl, A., Koemeda-Lutz, M., Crameri, A., Schlegel, M., & Schulthess, P. (2016). Bedeutung der psychotherapeutischen Schulen heute: Geschichte und Ausblick anhand einer empirischen Untersuchung. Psychotherapeut, 61, 54–65.
van Deurzen-Smith, E., & Smith, D. (1996). Ist die Psychotherapie eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin? In: Pritz, A. (Hrsg.), Psychotherapie – eine neue Wissenschaft vom Menschen (S. 19–43). Wien: Springer.
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