Editorial

Rosmarie Barwinski

Editorial

Die vorliegende Ausgabe der „Psychotherapie-Wissenschaft“ ist ein sogenanntes freies Heft, d. h., es beinhaltet Artikel, die nicht auf einen Themenschwerpunkt konzentriert sind, sondern Psychotherapiewissenschaft aus verschiedenen Perspektiven beleuchten.

Im ersten Beitrag, „Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Psychotherapiewissenschaft“, zeigt der Zürcher Philosoph Markus Erismann auf, dass die Psychotherapiewissenschaft für methodologische Selbstreflexion prädestiniert ist, welche den Grad ihrer „Methodizität“ erhöht und zur Anerkennung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin beiträgt. Er hält fest, dass die Geschichte der Psychotherapiewissenschaft durch die Bildung einer Vielzahl von Schulen und Methoden gekennzeichnet ist, die zum Paradigma der Psychotherapiewissenschaft gehört. Ihr fehlt aber ein schulenumfassender wissenschaftstheoretischer Rahmen, der auch ihrem interdisziplinären Charakter gerecht wird. Weil die psychotherapeutische Situation durch methodische Selbstreflexion gekennzeichnet ist, liegt es nahe, dass der Psychotherapiewissenschaftler über ein ausgeprägtes Bewusstsein der methodischen und methodologischen Selbstreflexion verfügt. Durch die Entwicklung einer eigenen Wissenschaftstheorie, Methodologie und Wissenschaftsgeschichte gelangt für Erismann die Psychotherapiewissenschaft zu einem reflektierten Selbstverständnis, das im Hinblick auf ihre Anerkennung als eigenständige Disziplin grundlegend ist.

Um den Gegenstand der Psychotherapiewissenschaft zu definieren, geht Erismann von der leibseelischen Ganzheit des Menschen aus und leitet davon ihre Stellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ab. Psychotherapiewissenschaft müsse geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Methoden integrieren, um ihrem Forschungsgegenstand gerecht zu werden. Dieses Verhältnis zu reflektieren und eine Methodologie zu formulieren, die beide wissenschaftlichen Sichtweisen verbindet, schaffe ein eigenes methodologisches Fundament, das einer interdisziplinären Denkweise entspricht. Voraussetzung für eine solche Wissenschaftstheorie der Psychotherapie ist, dass jede einzelne Schule mittels methodologischer Selbstreflexion ihre eigenen methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen und Leitdifferenzen reflektiert und expliziert. Aufgrund der dadurch gewonnenen Darstellungen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses jeder einzelnen Schule lässt sich aus einer wissenschaftstheoretisch unabhängigen Perspektive zum einen eine komparative Analyse und Darstellung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Schulen erarbeiten, zum anderen ein schulenumfassendes, die Verschiedenheit der Schulen achtendes wissenschaftstheoretisches Grundkonzept und Selbstverständnis der Psychotherapiewissenschaft entwickeln. Markus Erismanns Vorschlag wurde meiner Meinung nach zum Teil bereits im Rahmen der Charta verwirklicht und könnte weiterhin darin verwirklicht werden.

Der anschliessende Artikel von Xenia Petry greift Aspekte der Überlegungen von Markus Erismann auf, indem sie Gütekriterien diskutiert, die Gültigkeit für sowohl quantitative als auch qualitative Methoden beanspruchen. Ihr Artikel fasst Ergebnisse ihrer Dissertation zusammen, in der sie Qualitätskriterien psychotherapeutischer Forschung ausarbeitete und anhand unterschiedlicher Studientypen überprüfte. Sie betont den Sachverhalt, dass in der psychotherapeutischen Fachwelt die Qualität wissenschaftlicher Erkenntnisse hauptsächlich an der Forschungsmethodik gemessen wird. Dabei sind randomisierte kontrollierte Untersuchungen (RCTs) die Methode der Wahl, da sie methodische Qualitätsstandards vorweisen können – systematische Einzelfallstudien gelten als „unwissenschaftlich“. Qualitäts- und damit Bewertungskriterien für Psychotherapieforschung müssen, wie Petry hervorhebt, allerdings dem Gegenstand und nicht der Methode gerecht werden. Mit acht von Petry entwickelten Bewertungskriterien für Psychotherapieforschung können sowohl systematische Fallanalysen als auch experimentelle Studiendesigns (RCTs) in ihrer Güte und Geltung beurteilt werden, sodass eine methodenunabhängige Qualitätssicherung von Psychotherapieforschung erfolgt.

Der Artikel von Kurt Greiner knüpft an die Methodendiskussion an. Greiner vertritt die These, dass Psychoanalyse weder als eine „wissenschaftliche Verirrung noch als eine kausalanalytische Wissenschaft, sondern als eine hermeneutisch operierende Forschungs- und Praxisrichtung“ zu begreifen sei. Er zeigt auf, dass die hermeneutischen Prinzipien des Psychoanalysierens der traditionellen Auffassung von geisteswissenschaftlicher Hermeneutik widersprechen, weshalb psychoanalytisches Forschen auch nicht mit dem klassischen Hermeneutik-Begriff gleichgesetzt werden kann.

Die Behauptung, bei psychoanalytischem Interpretationswissen handle es sich um hermeneutisch gewonnene Erkenntnisse kausalanalytischer Art – ein Argument, das zur Verteidigung des wissenschaftlichen Werts psychoanalytischer Auslegungen häufig gebraucht wird – stellt er infrage. Er warnt vor dem problematischen Bild einer hermeneutischen Ursachenforschung, weil diese Begriffskombination eine „contradictio in adiecto“ darstelle. Da Hermeneutik und Kausalanalyse per definitionem nicht zusammenpassen, lautet der von Greiner zur Diskussion gestellte Alternativvorschlag: Über psychoanalytische Deutungsarbeit, die eine logopoietische Praxis des heilungsfördernden Textverwebens repräsentiert, wird ein versteh- und damit handhabbares Sinnprodukt geschaffen, welches für die weitere therapeutische Verwertung zur Verfügung steht.

Der Beitrag von Joachim Bauer beschäftigt sich mit sozialen Neurowissenschaften. Hier steht einerseits die Frage im Vordergrund, wie sich positive oder negative soziale Erfahrungen, die uns andere Menschen zufügen, auf unser Gehirn auswirken. Andererseits geht es darum, welchem neurobiologischen „Radarsystem unseres Gehirns“ wir es verdanken, dass wir das Fühlen und Denken eines anderen Menschen wahrnehmen und verstehen können. Bauer verweist auf ein neuronales Resonanzsystem, welches uns auch dann in sozialen Kontakt kommen lässt, wenn uns höhere kognitive Funktionen noch nicht zur Verfügung stehen. Grundlage dieses Resonanzsystems ist das System der Spiegelneuronen (mirror neuron system). Dieses System ist auch für die Fähigkeit von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, mit ihren Patientinnen und Patienten in intuitiven Kontakt kommen und diese verstehen zu können, von Bedeutung.

Der Artikel von Brigitte Schigl setzt die von Eva Jaeggi 2014 begonnenen Überlegungen zur Feminisierung von Psychotherapie fort. Schigl fokussiert auf die Situation in den Ausbildungsgängen zur Psychotherapeutin, zum Psychotherapeuten, in denen fast 80 % weibliche Kandidatinnen zu finden sind. Welche Implikationen dieser Sachverhalt für die Teilnehmer(innen), für die Lehrtherapeut(inn)en und die Ausbildungseinrichtungen hat, wird skizziert. Brigitte Schigl kommt zum Schluss, dass ein Festhalten an einer Gleichverteilung von weiblichen und männlichen Lehrenden (zumindest in den Gruppenselbsterfahrungen) nicht angebracht ist. Die in jeder Konstellation erwachsenden Gender-Dynamiken zu reflektieren, ist ihrer Meinung nach unumgänglich.

Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit integrativer Psychotherapie und interdisziplinärer Zusammenarbeit im Kinder- und Jugendbereich.

Monika Dreiner widmet sich in ihrem Beitrag dem Thema der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen. Üblich ist, dass entweder über eine richterliche Anordnung oder auf Betreiben der leiblichen Eltern ein mehr oder weniger regelmässiger Besuchskontakt des Kindes mit den leiblichen Eltern arrangiert wird. Für die Bestimmungen zum Umgang der Eltern mit ihren Kindern werden oftmals die Regelungen von Kindern aus Scheidungsfamilien generalisiert, ohne die spezifischen Bedürfnisse anderer Kinder zu berücksichtigen.

Besonders bei Kindern, die pränatal und früh von ihren primären Bezugspersonen traumatisiert worden sind, sind die Besuchskontakte in der Regel kontraindiziert. Bisherige Regelungen drängen die Ersatzbezugspersonen vielfach in eine Position, in der sie zu Übeltäter(inne)n werden, womit die Helfersysteme in einer Zwickmühle geraten. Der Aufsatz möchte darauf aufmerksam machen, die spezifische Situation dieser Kinder wahrzunehmen und das Wohl dieser Kinder unter diesem besonderen Aspekt zu sichern.

Ein Gedicht von Ingeborg Bachmann ist der rote Faden im Essay von Theodor Itten zur integrativen Psychotherapie in einem Ostschweizer Sonderschulheim. Die verschiedenen Voraussetzungen für eine gelungene, Fachkompetenz übergreifende, integrative Zusammenarbeit aller Beteiligten werden aus der Sicht des Psychotherapeuten geschildert. Eine Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen ist eine auf der direkt erlebten subjektiven Wahrheit beruhende Behandlung. Der Lebenskontext der Erwachsenen beeinflusst fördernd oder hindernd das seelische und schulische Wohlbefinden von Jugendlichen immens. Sinn und Unsinn von Psychopharmaka in der Kinder- und Jugendpsychotherapie werden diskutiert.

Ich wünsche Ihnen bei der zum Teil anspruchsvollen, interessanten und berührenden Lektüre viel Vergnügen!