Rezension
Theodor Itten
A. von Wyl, V. Tschuschke, A. Crameri, M. Koemeda-Lutz, P. Schulthess (Hrsg.): Was wirkt in der Psychotherapie?
Ergebnisse der Praxisstudie ambulante Psychotherapie zu 10 unterschiedlichen Verfahren
2016, Gießen, Psychosozial-Verlag. Reihe: Forschung Psychosozial. 173 S. € 29,90 (DE)
Endlich ist das Buch zur Praxisstudie ambulanter Psychotherapie Schweiz (PAP-S) da.
Die verschiedenartigen Ergebnisse werden unseren Wissenstand sicherlich bereichern. Ein wichtiger, nun empirisch validierter Aspekt ist, wie das Ausmass der psychischen Eingangsbelastung der Patientin, des Patienten und die Persönlichkeit, Reife und Erfahrung der Therapeutin, des Therapeuten zusammenpassen.
Die Herausgeber(innen) und zwei weitere Autoren präsentieren das Entstehen dieser bis heute einzigartigen naturalistischen Praxisstudie. Erzählt werden der Anfang und der Kern des Forschungsprozesses von 2005 bis 2012. Die danach erfolgte genaue Ausarbeitung der Resultate und ihre vielseitige und versierte lebhafte Diskussion zeigen eindrücklich, wie mit diesem naturalistischen „gold standard design“ die Fragen, wie, warum, wieso und wozu Psychotherapie wirkt, differenziert beantwortet werden können. Die Literatur im Bereich der Psychotherapie-Forschung ist in meinem 40-jährigen Berufsleben, monumental angewachsen. Die Bibliografien, welche jedes Kapitel begleiten, sind diesbezüglich ein Ort des freudigen Entdeckens.
Das Buch ist in zwölf Kapitel aufgeteilt. So eine Psychotherapiestudie durchzuführen, braucht einen langen Atem, schreibt Agnes von Wyl, Professorin im Departement Psychologie an der ZHAW, im Vorwort, in dem sie die Hintergründe, Durchführung und Ergebnisverarbeitung aufzählt.
Wie kam es überhaupt zu der PAP-S Studie? Peter Schulthess, Margit Koemeda-Lutz und Mario Schlegel, alle drei über Jahrzehnte aktiv in der Wissenschaftskommission der Schweizer Charta für Psychotherapie, beschreiben prägnant die Vorgeschichte der Studie. Die traditionell gewachsene und grosse Methoden- und Modalitätenvielfalt in der Schweiz begünstigte eine solche wissenschaftlich notwendige Untersuchung. Berufspolitische Aktivitäten und Diskussionen über die Eigenständigkeit der Psychotherapie als Heilkunst und als eigenständige Wissenschaft werden in den Diskurs einbezogen. Die 14 Jahre seit der Deklaration zur Wissenschaftlichkeit aller in der Charta vereinigten Ausbildungsinstitute waren gleichzeitig geprägt durch Versuche, ein eigenes Psychotherapieberufsgesetz zu bekommen. Was schlussendlich obsiegte, war ein Psychologieberufe Gesetz, welches in sich die Ausübung und das Erlernen der Psychotherapie als einen angewandten Psychologieberuf regelt. Dies ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Nur die Debatte ist momentan gelaufen und das PsyG seit April 2013 in Kraft. Wichtig ist, wie die 27 Ausbildungsinstitute, Berufs- und Fachverbände sich der im Gesetz verankerten Herausforderung zur Beforschung der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit unseres Berufes stellen. Lange bevor diese Forderung politisch gestellt wurde, hat die Wissenschaftsdeklaration die unterzeichnenden Methodenvertreter(innen) verpflichtet, den Wirksamkeitsnachweis zu erbringen. Gemeinsam sind wir stärker, spürten die Chartavertreter(innen). Somit wurde dieses Studienprojekt vorangebracht. Spannend liest sich die Geschichte der Projektrealisierung vom März 2007 bis Dezember 2012, vor allem, wenn man als Patient(in) oder Praktiker(in) selber mitgemacht hat. Neben den Patient(inn)en, den Psychotherapeut(inn)en, die direkt beforscht wurden, brauchte es Assessment-Zentren. Die Charta initiierte die eigene Schulung von unabhängigen Diagnostker(inne)n. Wie das geniale Rating-Manual entwickelt wurde, schliesst diesen Buchauftakt ab.
Als nächstes wird die aktive Zusammenarbeit der Charta mit zwei renommierten Hochschulen in der PAP-S-Studie erzählt. Peter Schulthess und die Professoren Hugo Grünwald (ZHAW) und Volker Tschuschke (Universität zu Köln) erzählen reichhaltig und differenziert im Bezug zu den bis anhin existierenden Forschungsdesigns von der Notwendigkeit naturalistischer Praxisforschung. „Die PAP-S-Studie wird nicht nur die Basis für zahlreiche wissenschaftliche Beiträge – auch noch in Zukunft – sein und damit einen wertvollen Beitrag zum Wissenstand und der Theorieentwicklung in der Psychotherapie leisten“, bemerken sie. Zusätzlich wird dieser grosse Fundus an Einsichten und empirischen Belegen unserer beruflichen Aktivität junge Studierende beflügeln, diesen Beruf mit Freude und wissenschaftlichem Enthusiasmus auszuüben.
Von Wyl elaboriert im dritten Kapitel das Studiendesign. Es waren 86 Therapeut(inn)en aus neun Instituten, die bereit waren, in dieser Studie mitzumachen. Sie konnten 238 Patientinnen und 124 Patienten im Alter zwischen 17 und 72 Jahren dafür gewinnen mitzumachen. Wer forscht, bleibt wissenschaftlich flott und à jour. Die Methoden, welche im Gesamtdesign angewandt wurden, und die Tests und Fragebögen, welche in den Assessment-Zentren zur Anwendung kamen (SKID-Interview, OPD-Diagnostik usw.), werden schematisch dargestellt. Die ersten Resultate werden kritisch gewürdigt. Erfreulich ist, dass die meisten Patient(inn)en, die an der Studie teilnahmen, viel eigene Lebenszeit für diese Forschung hergaben, die zwei- oder mehrstündigen Assessments absolviert haben. Diese Leistung von Betroffenen ist beachtlich und wird gebührend gewürdigt. Peter Müller-Locher, Psychotherapeut und Qualitätsforscher, in dieser Kapazität langjähriger Vorsitzender der Qualitätskommission der Charta, schildert seine persönliche Erfahrung im OPD-Ratingprozess. Der notwendige Aufbau von und das Kultivieren von Rating-Fähigkeiten, das verantwortungsvolle Leiten von Assessments durch Fachkolleg(inn)en wurden in Charta-internen Aufbaukursen, Weiterbildungen und Fortbildungen mit Zuzug von Spezialisten geleistet. In über 20 Workshops schulten sich die Rater(innen) gemeinsam und prüften ihre Interraterreliabilität auf die qualitative Zuverlässigkeit, welche die PAP-S-Studie benötigte. Der Lernertrag dieser zu Expert(inn)en aufgestiegenen engagierten Mitforschenden wird erfreulicherweise gut gewürdigt.
Wie die psychotherapeutischen Interventionstechniken in einem Rating-Manual zusammengestellt wurden, was es an Geduld, Zusammentragen von Wissen und Bedeutungsdiskussionen brauchte, um so ein Instrument schaffen zu können, schildern Tschuschke, Koemeda-Lutz und Schlegel übersichtlich und objektiv. Ihre These ist, dass konzeptspezifische Interventionen der verschiedenen Methoden überprüft werden und, zusätzlicher Bonus, in Relation zu anderen Faktoren des psychotherapeutischen Prozesses gesetzt werden können. Was die Bedeutung von Konzepttreue in der Psychotherapie für die jeweiligen Schulen in ihrem theoretischen und praktischen Aspekt ist, wird vom renommierten Psychotherapieforscher Tschuschke anhand der vorliegenden Resultate diskutiert. Erste Stichproben haben ergeben, dass von acht verschiedenen Therapiekonzepten bis zu gut 30 % konzepttreu (spezifisch) und bis zu über 73 % nicht spezifisch interviert wurde. Spannende Erkenntnisse, welche in seine erste Schlussfolgerung einfliessen, dass Psychotherapie ein hochkomplexer zwischenmenschlicher Prozess ist, in dem einzelne schulenspezifische Behandlungskonzepte in geringerem Masse angewendet werden, als bisher angenommen werden konnte. Was die Psychotherapiebehandlung erfolgreich macht, ist eine gute Passung. Die Resultate der Prädiktoren und zeitlichen Verlaufsaspekte der therapeutischen Techniken werden behutsam präsentiert und interpretiert. Beim Lesen wird hier wieder mal klar, warum und wieso wir uns im Studium die wissenschaftliche Methodenlehre und die soziale Statistik zu Gemüte führen mussten. Ohne mindestens zweimaliges Lesen werden sich die vielen Erkenntnisse nicht plausibel erkennen lassen. Koemeda-Lutz zeigt, wie die allgemeinen Interventionen viel mehr angewendet wurden als die spezifischen. Diese sind der gemeinsamen Boden unsres Berufes. Sie schreibt: „Es wäre wünschenswert, wenn zukünftige Studien den zeitlichen Beginn von Äusserungen von TherapeutInnen und PatientInnen separat messen und aufzeichnen wurden, um patientenseitige Verarbeitungsprozesse von therapeutischen Interventionen trennen zu können.“ Neues kann und wird aus den Veränderungsprozessen entstehen. Je stärker die Patientin, der Patient leidet, je grösser und komplexer ihr Leiden, desto wichtiger ist die Person der Therapeutin, des Therapeuten. Tschuschke zeigt, wie die Passung und die Kompetenz der Behandler(innen) in der therapeutischen Beziehung gemäss den Resultaten der Schlüssel zur wirksamen psychotherapeutischen Behandlung sind. Die therapeutische Beziehung ist ein Hauptgefäss für die kurativen und emanzipativen Erfolge.
Aurelio Crameri, der als Forschungsmitarbeiter und Dozent für Forschungsmethoden an der ZHAW engagiert mitwirkte, präsentiert und diskutiert die Resultate. Zentral ist seine Aussage, dass die PAP-S-Ergebnisqualität im Stichprobenvergleich mit den evidenzbasierten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Verfahren zeigt, dass die Effektivität von humanistischen und tiefenpsychologischen Verfahren vergleichbar groß, wenn nicht größer ist. Dieses Resultat ist politisch brisant für die Erhaltung der Methodenvielfalt. Dazu kommen die Erkenntnisse, wie, warum, wieso und wofür Psychotherapeut(inn)en unterschiedlich erfolgreiche Effektivitäten aufweisen.
Tschuschke beschäftigt sich zusätzlich mit dem Einfluss von Geschlechts- und Gender-Aspekten in der Behandlung. Nach seiner Präsentation der bisherigen Studien zur dieser Thematik arbeitet er die Ergebnisse der PAP-S-Studie heraus, mit dem Fazit, dass das Geschlecht nicht direkt die Behandlungsergebnisse beeinflusse. Jedoch im Allgemeinen und grundsätzlich sind die Therapeutinnen ausgeprägter mitfühlend und ihre Interventionen sind unterstützend, jedoch könnten sie etwas konfrontativer arbeiten. Die unbewussten Geschlechterprägungen in der Sozialisation sind erkennbar.
Von Wyl nimmt diesen Faden auf und bespricht die Resultate, welche sie in den Kontext von anderen Studien und dem Prozess Q-Set von Enrico E. Jones einordnet. Es konnten insgesamt 33 signifikante Geschlechterunterschiede im Therapieprozess (Erleben und Verhalten) erkannt werden. Das sind, verglichen mit den Patient(inn)en, doppelt so viele geschlechterrollenspezifische Verhaltensweisen. Die Autorin staunt über diese Resultate, weil Therapeut(inn)en sich meistens während der Ausbildung in einem Bewusstwerdungsprozess mit der eigenen Sozialisation und den transgenerationalen Geschlechtervorurteilen auseinandersetzen.
Die Freude ob der vielen Ergebnissen dieser Studie und der daraus gewonnenen, hier präsentierten Erkenntnisse ist gross. Am Schluss des Buches schwingt Frau oder Mann sich wieder in verschiedene Kapitel hinein und schaut sich die detaillierten Resultate auf der Website www.psychotherapieforschung.ch an.
Dieses Buch – aus der Praxis für die Praxis – ist ein Muss. Es gehört in die goldene Abteilung des Büchergestells.