Originalarbeit (Titelthema)
Theodor Itten
Bücher zum Themenheft
U. Rauchfleisch: Transsexualität – Transidentität: Begutachtung, Begleitung, Therapie
2014, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 216 S., € 27,-
Dieser Klassiker des Psychoanalytikers und emeritierten Professors der Psychologie an der Universität Basel ist in der vierten, völlig überarbeiteten Auflage für all jene greifbar, die sich mit diesem Schwerpunktthema tiefer gehend sachkundig machen wollen. Das handliche Buch kommt in vier Haupteilen daher: von der Krankheit Transsexualität zur nichtpathologischen Transidentität; die Begutachtung von trans*Menschen; mit welchen Fragen und Problemen sind trans*Menschen konfrontiert? was können trans*Menschen selber tun? Ein autobiographisch angereichertes Essay von Jacqueline Born, selbst Transfrau, mit dem Titel „Free Gender“ gibt einen lebendigen Einblick in die positiven und befreienden Erfahrungen, die als Basis gendertheoretischer Diskussionen über Transidentität dienen können. Rauchfleisch rundet seine quellenreiche Analyse mit zwei professoralen Zusammenfassungen ab, wobei die letzte, auf den Punkt gebracht (10 Punkte), jeder und jedem sozialpolitisch Tätigen schnell schlanke sowie intelligente Argumentationshinweise liefert, um das komplexe, emotionale wie körperliche Thema in seiner gesellschaftlichen Entwicklung klar und deutlich zu machen.
Seit vierzig Jahren beschäftig sich die Psychiatrische Universitätsklinik in Basel mit transsexuellen Frauen und Männern. Rauchfleisch hat über hundert Transsexuelle über und durch diese Jahre begutachtet und in der Übergangsphase therapeutisch begleitet. Er hat erkannt, wie unterschiedlich die Persönlichkeiten mit ihren verschiedenen Entwicklungen und sozial-kulturellen Kontexten sind. „Die Gemeinsamkeit stellt lediglich die durch nichts zu verändernde Überzeugung dar“, schreibt er im Vorwort, „dem Gegengeschlecht anzugehören und eine hormonelle und operative Angleichung an das Gegengeschlecht anzustreben.“ Die vielen Transpersonen, die er begleitet hat, zeigten keine psychopathologischen Zeichen, sondern lebten in einer grossen psychischen Stabilität. Die ab und zu auftretenden depressiven, mit Angst vermischten Verstimmungen wurden durch die für trans*Menschen immer noch schwierigen Lebenssituationen ausgelöst. Diese Personen sollten, so der Autor, heute ihren je eigenen individuellen Wandlungsweg gehen dürfen, ohne den immer noch lästigen und diskriminierenden „Alltagstest“ (vor einer hormonellen und chirurgischen Intervention muss eine Transperson für ein bis zwei Jahre während täglich 24 Stunden in der angestrebten Geschlechterrolle leben). Er fordert schon lange, dass die Fremdbestimmung durch „Fachleute“ beendet wird. Transpersonen sind für sich und ihr Schicksal selbst zuständig. Sie werden heute vermehrt durch transidente Fachärztinnen und Fachärzte sowie selbsterfahrene transidente Psychologinnen und Psychologen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten begleitet.
Die Psychiaterin Annette Güldenring hat ihre diesbezügliche Erfahrung in einem Gastbeitrag über die andere Sicht, respektive die Sicht vom anderen Ufer aus, vom Mann zur Frau, biographisch und wissenschaftlich redlich dargestellt. Sie schreibt: „Es ist bisher nicht gelungen, eine wissenschaftliche Ursache für Trans* zu finden. Alle Untersuchungen zur Fragestellung atypischer Geschlechtsentwicklungen weisen in keine einheitliche Richtung.“ Trans*, fühlt und denkt sie, ist von Natur aus gegeben. Trans* ist tief in einem Menschen verwurzelt und kommt irgendwann ins Bewusstsein hoch, damit die körperliche Entfaltung in der autonomen Wandlung vollzogen werden kann. Im historischen Überblick beschreibt Rauchfleisch den Übergang von der Einstellung, dass Transsexualität eine Krankheit sei, hin zur nicht pathologisierten Transidentität. Die Situation der trans*Menschen hat sich seit den ersten Operationen im Jahre 1952 um vieles verbessert. Er beschreibt den diagnostischen Ablauf, den Alltagstest (den er keinesfalls als obligatorisch notwendig ansieht), die Hormonbehandlung, die chirurgischen Massnahmen, die notwendige zivilrechtliche Personenstandsänderung und wie trans*Menschen danach psychotherapeutisch nachbetreut werden sollten. Damit kann eine positive Entwicklung durchlaufen und erreicht werden. Was ist wichtig und notwendig bei der Begutachtung von trans*Menschen? Ganz ein der Empirie zugewandter Kollege, beschreibt er berührend seine ersten Begegnungen mit trans*Menschen am Beginn der 1970er-Jahre und seinen Schaffensweg mit den reichhaltigen Erfahrungsfundi, welche er in dieser sowie weiteren Publikationen zu diesem Themenbereich vor uns ausbreitet. Selbstverständlich versteht der Autor den tiefen Wunsch von trans*Personen, ein möglichst gutes „Passing“ vom biologischen Geschlecht in die neue Lebensrolle machen zu können. Er findet, dass seine Klientinnen und Klienten „ihr biologisches Geschlecht, das ja einen bedeutenden Teil ihrer bisherigen Lebensgeschichte ausmacht, wenigstens so weit akzeptieren, dass sie gewisse Merkmale bestehen lassen (vielleicht sogar besonders schätzen können) und nicht einen erbitterten Kampf dagegen führen müssen.“ Die begleitende Psychotherapie für diesen wichtigen Transitionsprozess und die Wirkfaktoren, die zu beachten sind, beschreibt er zusammenfassend nach über 45 Jahren Praxis-Tätigkeit. Wie ein stimmiger Coming-out-Prozess geplant und durchgeführt werden kann, wird ebenso beschrieben wie die Klärung der familiären Beziehungen und der unweigerlich passierenden Auseinandersetzung mit der neuen Geschlechterrolle. Die spezielle Situation von trans*Kindern wird im Buch bedacht und in den Problemkreis der Beratungs- und Behandlungsangebote aufgenommen.
Alles in allem ein tolles und überaus reichhaltiges Handbuch für Transidente, deren Angehörige und verschiedene Fachpersonen.
M. Katzer, H.-J. Voß: Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung: praxisorientierte Zugänge
2016, Gießen, Psychosozial-Verlag, 358 S., € 36,90
Selbstbestimmung geht Hand in Hand mit Vertrauen ins eigene Selbst. So lässt sich Selbstsicherheit und das eigene lebensnotwendige Selbstwertgefühl gut kultivieren. Das Selbstkonzept, das Konzept des Selbst, ist nicht nur vielfältig in den Variationen operativer Definitionen verschiedenster Psychologie und philosophischen Traktaten, sondern weitaus transgeschlechtlicher als bisweilen normativ angenommen. Dieser logische Dachbegriff für die oder den, welche oder welcher wir sind, und dafür, wer oder was wir uns vorstellen zu sein, die sich kontinuierlich entfalten und werden, sein können und sein wollen, ermöglicht verschiedenste Theorien über die tiermenschliche Geschlechtlichkeit. In der Sozialpsychologie sind die Konzepte von Geschlecht, der sozialkulturellen Rolle (männlich/weiblich), die inter- und intrapsychischen Identitäten, die eigene(n) gelebte(n) und gewünschte(n) Sexualität(en), die gelebte Selbstorganisation, die eigene Wirklichkeitswahrnehmung usw. immer schon vom jeweiligen Bestimmungsnetz des gesellschaftlichen Kontexts umfangen. Die Frage, was unter diesen Rahmenbedingungen die geltende Norm ist, die zu einer kollektiven Übereinstimmung führt, beschäftigt die Sozialwissenschaften ohne Ende.
Der von ihnen herausgegebene spannende Sammelband möchte laut Katzer und Voß keine weitere Klärung der Begriffe leisten, was ich schade finde, sondern beruht meist auf den Erfahrungen der Selbstbestimmung in den jeweiligen kulturellen Grenzen der vorgefundenen ökonomischen und technischen Bedingungen, in denen der einzelne Mensch lebt. Das Geschlecht, mit dem wir geboren werden, ist traditioneller Weise in der Yin-Yang-Schlaufenbasis (Zweigeschlechtlichkeit f/m) eingewoben. Wer mit der eigenen leiblichen Geschlechtlichkeit sich sexuell nicht im Einklang findet, sollte einen Wechsel zwischen den angebotenen Identitäten machen dürfen. trans*Personen sind jedoch immer beschäftigt, sich auf der zeitlichen Wippe, ob als trans*Frau oder trans*Mann, zurechtzufinden. Was passiert in der Sexualität, wenn bei Trans* ihr Zugang problematischer ist, weil ihre Genitalien nicht „stimmig“ sind? Anja Gruber nimmt uns mit auf einen Antwortweg, der direkt ins Zentrum dieser Vielfalt von transgeschlechtlichen Identitätsentwürfen führt. Sie recherchiert viele Studien zur sexuellen Zufriedenheit, korrelierend mit Selbstbestimmung, Kommunikationswünschen und Befriedigung der Zärtlichkeitsbedürfnisse. Je wohler wir uns in unserer Verkörperung fühlen, desto positiver bewerten wir meist unser Sexualleben. In Studien zu Trans* und sexueller Zufriedenheit sind trans*Männer üblicherweise zufriedener als trans*Frauen. In Partnerschaften sind trans*Männer nach operativer Angleichung mit ihren Partnerinnen glücklich, weil diese ihre weiblichen Emotionen und Verhaltensweisen kennen und wahrnehmen, was als verbindend erlebt wird. Trans*Männer sind allgemein besser sozial integriert, akzeptiert als trans*Frauen, die es laut diversen Studien schwerer haben, obschon sie sich nun in ihrem Körper wohler fühlen. Gruber zitiert und diskutiert verschiedene Studien und hat vor allem, dies ein Grund sie hier hervorzuheben, eine eigene Interviewstudie zu sexueller Zufriedenheit von Trans* während und nach dem Geschlechterwechsel durchgeführt. Vor und nach Hormoneinnahme und/oder operativen Eingriffen.
Was gilt als Erfolg für ein gelungenes „Passing“. Sie schreibt: „Die Aussagen der Interviewten lassen den Schluss zu, dass ein positives Körperbild im Allgemeinen und ein individuell stimmiges Verhältnis von Körperlichkeit und Geschlechtsidentität im Speziellen einen direkten Einfluss auf die sexuelle Zufriedenheit haben.“ Melitta Mitscherlich hat mit ihrer Forschung zum Körperbild und Mutterbindung dies schon in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts positiv hervorgehoben. Wie lässt sich die seelische Verteilung im Teilen des Körpers harmonisieren? Die Kongruenz von Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität ist bei trans*Personen immer eine gewordene. Die Identität wird von der durch die Geburt erhaltenen Körperbiologie abgehoben, „anderseits sind trans*Personen auf Leiblichkeit angewiesen, um ihre Identität zu leben, denn sie ersehnen ja meist einen anderen Körper,“ schreibt Anja Krober in ihrer Zusammenfassung und weist darauf hin, dass trans*Frauen diesem Paradox stärker ausgesetzt sind als trans*Männer. In der heutigen westlichen Gesellschaft ist das Verlangen nach sexueller, genitaler, gendermässiger Selbstbestimmung wieder die Norm geworden. In den vergangenen 20 Jahren wurden die gesetzlichen Reglementierungen in vielen westlichen Staaten dank des sozialpolitischen Engagements (bodypolitics) vieler trans*Personen, lesbischer, homosexueller und heterosexueller Menschen an die gelebte moderne Wirklichkeit angepasst. Das sich entwickelnde Empfinden der eigenen Geschlechteridentität sowie das der eigenen sexuellen Orientierung sind kulturell und sozial lebensnotwendig. Manchmal decken sie sich, manchmal sind sie asymmetrisch. Eine Parallele von „anima“ und „animus“ führt gerne in die seelische Spiegelung der gegengeschlechtlichen und sich ergänzenden Persönlichkeitsdynamik. Nur nichts verdrängen. Aber wie denn, ohne berührt zu werden? Sind unsere Geschlechter nur konzeptuelle Artefakte, wie die postmodernen Theoriejonglierer postulieren, sich trotzdem leibhaftig in ihren weiblichen und/oder männlichen Aspekten und Geschlechtervorurteilen in Cafés am Boulevard des Seins unterhalten? Jein ist in dieser „off-modern“ Gegenwart die übliche ausweichende Antwort. Es ist bunt, die Zeiten von Schwarz-Weiss sind passé. Unsere geschlechtlichen Identitäten sind vermischt, ob wir es wahrhaben wollen oder verdrängen. Die weibliche Maskulinität und die maskuline Weiblichkeit sind nur zwei von möglichen Variationen.
Wenn wir PsychologInnen und PsychotherapeutInnen wieder mal ein sozialanthropologisches Buch öffnen, um dort eine Passage über Pubertätsrituale erneut zu lesen, frischen wir unser Gedächtnis auf, dass Menschen in der alten Welt, immer schon Cross-over-Zeremonien gefeiert haben. Buben tragen Mädchenkleider und Mädchen tragen Bubenkleider. Sogar die grossen Geschichten der Menschheit (Mythen) zeugen rund um den Globus von dieser uralten Tradition. Das Leben ist schön, auch ohne Scham. Von den 18 MitschreiberInnen in diesem empfehlenswerten Sammelband in der Buchreihe „Angewandte Sexualwissenschaft“ sind die elf Frauen erfreulicherweise in der Überzahl. Das Buch hat drei Hauptteile: geschlechtliche Selbstbestimmung; sexuelle Selbstbestimmung; reproduktive Selbstbestimmung. In Teil eins sind die Kapiteltitel schon Programm. Der Selbstbestimmung von Trans* zum Durchbruch verhelfen. Die Transidentität, sexuelle Zufriedenheit und die Sexualberatung. Die ärztlichen Erfahrungen und deren Empfehlungen hinsichtlich Transsexualismus und Intersexualität. Diese dann im Bezug zur Individualität und Selbstbestimmung in der Psychoanalyse. Darstellungen, wie diese Themen in der Bildung, Pädagogik und sozialen Arbeit anwendet werden und die Intergeschlechtlichkeit und Beratungshilfe gelebt werden, runden diesen fast hundertsiebzigseitigen Teil mit vielen zitierten empirischen Forschungsresultaten ab. Wenn es dann um die breit akzeptierte sexuelle Selbstbestimmung geht, wird erst eine diskursive Annäherung an eines der letzten Tabuthemen gewagt, nämlich die Asexualität. Indem das Unsichtbare dieser sexuellen Orientierung sichtbar gemacht wird, entspannt sich dieses romantische Liebesbedürfnis ohne Sex. Die Troubadours haben uns im Mittelalter schon ein Liedchen oder zwei davon gesungen. Viele asexuelle Menschen fühlen sich missverstanden mit ihrer sexuellen Orientierung und der gelebten sexuellen Praxis.
Und was, bitte schön, passiert, wenn wir ins Gefängnis kommen mit unserer gelebten Sexualität, ob Trans*, hetero, lesbisch, homosexuell, asexuell? Drei Kapitel, alle von Männern geschrieben, geben hierzu wichtige und erhellende Antworten, wie Gewalt, Homophobie, Liebesbedürfnis und sexuelle Geborgenheit als Folgen der Tabuisierung von Geschlechtlichkeit und Sexualität in Haftanstalten gelebt werden können. Die Macht als Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung beklemmt hier die Leseerfahrung. Nach neunzig Seiten sind wieder drei Autorinnen am Werk. Zunächst Finale zum Thema der reproduktiven Selbstbestimmung und des Rechts auf Abtreibung. Stimmig ist das weitere Kapitel zum Thema der Behinderung und der reproduktiven Selbstbestimmung. Wie die moderne, durch die medizinische, pharmazeutische Wissenschaft ermöglichte Vielfalt von menschlicher Reproduktion ausserhalb des üblichen, von der Natur verordneten heteronormativen Zeugungsverfahrens als eine Befreiung vom geschlechtlichen Zeugungsakt von Frau und Mann, Ovum und Spermium, kritisch gesehen und gewürdigt wird, beendet das zu einem wunderbar anmächeligen Umdenken herausfordernde Buch. Eine Zusammenfassung und ein Register wäre kein Luxus für uns LeserInnen gewesen.
Trotzdem, dieses aktuelle Zeitzeugnis im Spannungsfeld von leiblichem Bedürfnis und theoretischem Aufsperren von Menschenwürde, ohne Denkschablonen, dieser achtzehn engagierten SozialwissenschaftlerInnen ist ohne Wenn und Aber zu empfehlen.
C. Krannich: Geschlecht als Gabe und Aufgabe: Intersexualität aus theologischer Perspektive
2016, Gießen, Psychosozial-Verlag, 79 S., € 16,90
In diesem schlanken, dicht und fast dissertationshaft geschriebenen Buch des evangelischen Theologen wird das geschlechtliche Selbsterleben ins Zentrum des Diskurses gelegt. Er fragt keck: Wie lebt sich Intersexualität? Wie arrangieren wir uns in der bipolaren Geschlechterordnung von Frau oder Mann? Es scheint einerseits ganz einfach zu beantworten. Frauen lieben Frauen. Frauen lieben Männer. Männer lieben Männer. Männer lieben Frauen. Sobald die innere, gefühlte Leiblichkeit dazu kommt, gibt es neben der sozial-kulturellen Geschlechterkonstruktion und den biologischen Fakten weitere, ambivalente, ja vitale Kombinationen von sexueller und geschlechtlicher Identität. Da passiert es, dass eine frauenliebende Frau von Sex mit Männern träumt, genauso wie sie, als sie männerliebend war, von Sex mit Frauen träumte. Wir leben und werden gelebt: Das Unbewusste regiert mit.
Die Relevanz dieser Abhandlung zur binären Geschlechterkonfiguration ist wichtig, da theologisch die menschlichen Wesen, ob in diversen Schöpfungsgeschichten oder religiösen Traktaten, im Bewusstsein der Geschlechtlichkeit primär als Frau oder Mann verkörpert sind. Was für ein Geschlecht die Engel oder andere romantischen Gottheiten haben, ist je nach religiös-politischem Schreibprogramm verschieden. Hindu-Göttinnen und Götter und all die dazugehörenden Mischwesen sind für jüdisch-christliche und muslimische normativ funktionierende TheologInnen meist nicht nur lästig, sondern Blasphemie. Der als Vikar in der evangelischen Kirche Mitteldeutschlands aktive Autor behauptet, dass das Thema Intersex in kirchlichen Stellungnahmen meist konsequent ausgeblendet wird. Warum? Aus oder gar trotz Schamgefühlen? Für seine Kritik an der jüdisch-christlichen Ordnungskategorie der körperlichen Geschlechtlichkeit – die als göttliche Fügung anerkannt wird – nährt sich seine Argumentation aus Gesprächen mit Intersexen, wie er Menschen benennt, die Zweigeschlechtlichkeit als Relevanz nicht nur in Frage stellen, sondern zusätzlich Wandlungserfahrungen von einem Geschlecht zum anderen schildern können. Eine weitere seiner Thesen ist, dass sich die biologisch-medizinische Forschung zur Geschlechtsdetermination heute als logische Fehlkonzeptionalisierung erweist. Intersex ist laut Krannich eine theologisch-anthropologische Herausforderung, die er in diesem Pamphlet lustvoll gediegen annimmt.
Erst beschäftigt er sich mit der Vieldeutigkeit des biologischen Geschlechts, zwischen Konstruktivismus und Realismus, zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit. Erstes Fazit: Das biologische Geschlecht ist a priori in sich selbst nicht selbstverständlich männlich oder weiblich. Diese Definitionen (operativ oder/und normativ) sind immer eine im gegebenen kulturell-soziologisch-biologischen Rahmen beliebige Interpretation. Wird hier wieder einmal ein diffiziles Thema mit „anything goes“ abgeschwächt? Ist alles, was denkbar, imaginierbar und lebbar ist, auch machbar? Im Abschnitt zu Intersex behauptet Krannich, dass Gott den Menschen nicht nur als Frau und Mann geschaffen hat. Nur, wer hat Gott geschaffen, frag ich mich kritisch? Vielleicht ist ja ein Intersex-Mensch das vollkommene Wesen, wie William Blake sie in seinem wunderbaren Werk zu Himmel und Hölle gestaltet hat. Da wirkt mir das Traktat doch etwas zu polemisch. Jedoch, genauen, theologisch-theoretisch exakten Diskursbeiträgen, versucht der Autor nun die Leib-Seele Dichotomie neu zu ordnen. Der menschliche Wunsch nach Eindeutigkeit, als paradiesische Sehnsucht, findet in der Kreuzigung der Geschlechter keine ergiebige Erlösung. Ohne Ostern, also die Wandlung zur Auferstehung, macht das ganze Leben hier auf Erden christlich-theologisch keinen Sinn. „Die medizinisch-technische Sorge um den Menschen nicht typischer Geschlechtlichkeit verdrängt das nicht auszulöschende Unverstandene menschlicher Existenz.“ Ach, die Wirklichkeit, die sich in Konzepte, in Definitionen, in wirklichkeitsgestaltende Diskurse eingezwängt fühlt. Das Nichteindeutige im Intersex, im Transsex, im Multiplesex, im Middlesex vermag dieser intelligente, akademisierte theologischen Effort plausibel und teilweise akzeptierbar zu machen. Das Selbsterleben ist nach wie vor die Grundlage jeder theoretischen Verbosität. Daraus entstehen neue und frische Handlungsimpulse, die den Schleier, der die Geschlechtlichkeit und die Sexualität seit Eva und Adam verhüllt, wegziehen. Was für Menschen sehen wir da enthüllt? Nach wie vor Menschen, deren Psyche in einer geschlechtlichen Identität, Frau oder Mann, und einer sexuellen Orientierung ihren Wünschen nachgeht. Wünsche können bekanntlich nicht irren. Dieses Büchlein macht den Weg zu einer angst- und schamfreien Diskussion über die sexuelle und geschlechtliche Vielseitigkeit unserer menschlichen Existenz frei.
Z. Cetin, H.-J. Voss: Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität: kritische Perspektiven
2016, Giessen, Psychosozial-Verlag, 146 S., € 19,90
Dr. Cetin, Dozent für Sozialarbeit in Berlin, forscht zur Queer-Bewegung in der Türkei und sieht diese als eine wichtige Form des sozialen Widerstandes in der jeweiligen Zivilgesellschaft. Sein Mitautor, Professor für Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, ist engagiert in einem Forschungsprojekt zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Traumatisierung. Die Hauptthese der Autoren ist, dass es keine einheitliche schwule Identität gibt. Je nach Klassen- und Rassenzugehörigkeit, Sozialisierung, Homonationalismus und Geschlechtervorurteil wird die sexuelle und geschlechtliche Identität geprägt. Transgenerationale Weitergabe von Gentrifizierungen sind zusätzlich prägend für die homosexuelle Identität. Dieses schmale emanzipatorische Thesen-Buch beschäftigt sich aktuell mit den wachsenden sexuellen Übergriffen in der deutschen Gesellschaft, vor allem auch auf homosexuelle Immigranten und Flüchtlinge.
Um die notwendige theoretische Gewissheit zu erreichen, beschäftigen sich die Autoren damit, in ihrem Schreibprozess klarer und gewissenhafter die Identitäten der sexuellen Präferenzen zu erkennen und dem starren operationalen Definieren, das die Gender- und Sex-Debatte bestimmt, zu entkommen. Diese Streitschrift kommt in drei Teilen daher. Im ersten werden die Homosexualität und die Anderen besprochen. Um sich in seiner sexuellen Identität in Bezug auf Nationalität, Rasse und westliche Kultur zeigen und anerkennen zu können, braucht es einen Aktions- und Anerkennungsraum. Danach wird die Homosexualität im Kontext von Naturwissenschaft und Pädagogik ausgiebig reflektiert. Diese Elaboration, gespickt mit wissenschaftlich-historischen Bezügen, vielen Zitaten und einer Debatte, welcher nur schwer zu folgen ist, weil ausserordentlich dicht geschrieben, ist der Kern des Buches. Um diese prozessorientierten theoretischen Überlegungen praxisnah zu verankern, beschreibt Cetin im dritten Teil, die homo- und queerpolitischen Dynamiken und Gentrifizierungsprozesse in Berlin. Hier wird die vielfältige homosexuelle Lebensweise als individuelle Bereicherung dargestellt. Wie sich Menschen in der Psychopolitik einer grossen Metropole zurechtzufinden, ist hier wunderbar und eindrücklich beschrieben.
Einige weitere Titel der AutorInnen dieses Heftes:
Constance Ohms
•Spagat ins Glück: Erzählungen von Lesben und Schwulen mit Migrationsbiografie. 2014, Berlin, Querverlag
•Das Fremde in mir: Gewaltdynamiken in Liebesbeziehungen zwischen Frauen: soziologische Perspektiven auf ein Tabuthema. 2008, Bielefeld, transcript
•Gewalt gegen Lesben. 2000, Berlin, Querverlag
•Frauen Kampf Kunst. 1997, Berlin, Orlanda
Martin Plöderl
•Sexuelle Orientierung, Suizidalität und psychische Gesundheit. 2005, Weinheim, Beltz
Udo Rauchfleisch
•Anne wird Tom – Klaus wird Lara: Transidentität / Transsexualität verstehen. 2013, Ostfildern, Patmos-Verlag
•Begleitung und Therapie straffälliger Menschen, 4. Aufl. 2013, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
•Mein Kind liebt anders: ein Ratgeber für Eltern homosexueller Kinder. 2012, Ostfildern, Patmos-Verlag
•Gleich und doch anders: Psychotherapie und Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen. 2002, Stuttgart, Klett-Cotta
•Menschen in psychosozialer Not: Beratung, Betreuung, Therapie. 2004, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
•Alternative Familienformen: Eineltern, gleichgeschlechtliche Paare, Hausmänner. 1997, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
Lisa Schmuckli
•Passion der Differenz: ein Kaleidoskop von Frauenwelten. 2007, Königstein/Taunus: Helmer
Gisela Wolf
•Erfahrungen und gesundheitliche Entwicklungen lesbischer Frauen im Coming-out-Prozess. 2004, Herbolzheim, Centaurus-Verlag
Weiter zu empfehlen
Das Schwerpunktheft Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis 47. Jg., Heft 1, 2015 (Tübingen, DGVT) zu Gesundheit und therapeutische Versorgung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*Personen und ihren Familien.
C. Birch, I. Loynes: Wie ich einen Hügel hinabrollte und unten ein ganz anderer war: Geschichte einer Verwandlung
2016, Zürich, Orell Füssli
Diese Biographie beschreibt einen Schlaganfall, welcher den Autor in seiner sexuellen Orientierung veränderte. Er wurde schwul.