Originalarbeit (Titelthema)
Gisela Wolf
Psychotherapeutische Kompetenzen für die Arbeit mit Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung
Zusammenfassung: Befunde aus der Versorgungsforschung machen deutlich, dass lesbische, schwule und bisexuelle KlientInnen offenbar relativ häufig Psychotherapie in Anspruch nehmen. In dem Artikel werden die Bedürfnisse und Erfahrungen dieser KlientInnen in psychotherapeutischen Behandlungen skizziert. Darauf aufbauend werden die „Empfehlungen zur Psychotherapie und Beratungsarbeit mit lesbischen, schwulen und bisexuellen Klient*innen“, die vom Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen (VLSP*1 e.V) in der Psychologie für den deutschen Sprachraum entwickelt worden sind, vorgestellt.
Schlüsselwörter: Psychotherapie; psychotherapeutische Versorgung; lesbische, schwule und bisexuelle KlientInnen; Leitlinien; Diskriminierung und Gewalt; Intersektionalität
Psychotherapeutic competencies when working with people with a homosexual or bisexual orientation
Summary: Findings emerging from patient-centered research show clearly that lesbian, homosexual men and bisexual clients apparently make use of psychotherapy relatively frequently. In this article the needs and experiences of these clients in psychotherapy treatment is outlined. It is envisaged that it will form the basis for “Recommendations for psychotherapy and consultative work with lesbian, male homosexual, bisexual, transsexual, intersexual and queer people in psychology”, that the Professional Association VLSP* 2, a registered association (Association for Lesbian, Male Homosexual Men, Bisexuals, trans*, Inter-sexuals and Queer people in Psychology), will develop for the German speaking area.
Key words: psychotherapy, psychotherapeutic provisions, lesbian, male homosexual and bisexual clients; guidelines; discrimination and violence; intersectionality
Competenze psicoterapeutiche nel lavoro con persone a orientamento omosessuale o bisessuale
Riassunto: La ricerca nel campo dell'assistenza dimostra che le/i clienti lesbiche, gay e bisessuali ricorrono relativamente spesso a trattamenti psicoterapeutici. L'articolo descrive a grandi linee le necessità e le esperienze di queste/i clienti nel rapporto psicoterapeutico. Ne derivano le “raccomandazioni relative alla psicoterapia e al lavoro di consulenza con clienti* lesbiche, gay e bisessuali”, sviluppate dall'associazione professionale VLSP*3, associazione registrata (Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie - Associazione per persone lesbiche, gay, bisessuali, trans*, intersessuali e queer nella psicologia) per le aree linguistiche germanofone.
Parole chiave: psicoterapia; assistenza psicoterapeutica; clienti lesbiche, gay e bisessuali; linee guida; discriminazione e violenza; intersezionalità
Einleitung
Lesbische, schwule und bisexuelle KlientInnen gehören zu den Personengruppen mit einer relativ starken Inanspruchnahme der psychotherapeutischen Versorgung. Statistisch ist damit zu rechnen, dass nahezu jede/r PsychotherapeutIn, der/die bislang mehr als 20 KlientInnen behandelt hat, darunter auch homo- und bisexuelle KlientInnen hatte.
Angesichts der vielseitig dokumentierten negativen Erfahrungen von homo- und bisexuellen KlientInnen im Gesundheitssystem (Wolf, 2010), insbesondere in medizinischen und psychoanalytisch ausgerichteten Behandlungen, erstaunt die intensive Inanspruchnahme von Psychotherapie durch lesbische, schwule und bisexuelle KlientInnen zunächst. FachkollegInnen vertreten vielfach noch die Ansicht, dass das Thema doch gar nicht so relevant sei, unter anderem, weil in ihrer Klientel keine homo- und bisexuelle KlientInnen vorkämen, oder weil sie ja doch „alle gleich“ behandelten. Die Einschätzung, noch keine lesbischen, schwulen und bisexuellen KlientInnen behandelt zu haben, begründet sich jedoch wahrscheinlich weniger in der Realität, sondern vielmehr in einer Abwendung der Wahrnehmung von der Existenz und den spezifischen Versorgungsbedürfnissen dieser Klientel. Diese Wahrnehmungsabwendung der PsychotherapeutInnen ist wesentlich Tabuisierungsprozessen, also einem aktiven und immer wieder reifizierten Verschweigen nicht heterosexueller Orientierungen im Verlauf der psychotherapeutischen Professionalisierung, zuzuschreiben.
So wird sexuelle Orientierung in den psychotherapeutischen Ausbildungen kaum thematisiert. In der Regel sind psychotherapeutische Aus- und Weiterbildungen heterozentrisch ausgerichtet. Dies bedeutet, dass sowohl explizit als auch implizit heterosexuelle Lebensweisen als unhinterfragte Norm dargestellt werden. Dies erfolgt durchgängig über alle vermittelten Inhalte hinweg, also auch bei der diagnosespezifisch ausgerichteten Thematisierung von bestimmten psychischen Beeinträchtigungen oder beim Vermitteln spezifischer therapeutischer Methoden. Aufgrund der heterozentristischen Agenda innerhalb der psychotherapeutischen Ausbildungsgänge treffen lesbische, schwule und bisexuelle KlientInnen in der Regel auf TherapeutInnen, die für eine therapeutische Arbeit mit Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung weder hinreichend fachlich qualifiziert worden sind noch über eine entsprechende fachlich reflektierte Selbsterfahrung verfügen (Frossard, 2000; Gruskin, 1999; Heinrich & Reipen, 2001; Wolf, 2003).
In diesem Artikel sollen die psychotherapeutischen Bedarfe lesbischer, schwuler und bisexueller KlientInnen und ein fachkompetentes psychotherapeutisches Eingehen darauf gezeigt werden. Es werden Gründe für das starke psychotherapiebezogene Inanspruchnahmeverhalten lesbischer, schwuler und bisexueller KlientInnen analysiert und diesem die Prozesse der Tabuisierung nicht heterosexueller Lebensweisen in der psychotherapeutischen Professionalisierung kontrastierend gegenübergestellt. Hierbei wird insbesondere auf die Bedeutung der intersektionalen Überschneidung von marginalisierten Zugehörigkeiten und in diesem Zusammenhang auf Gruppen von Lesben, Schwulen und Bisexuellen hingewiesen, deren psychotherapeutische Versorgungssituation trotz vorhandener Indikation wahrscheinlich besonders prekär ist.
Auf der Grundlage der seitens des VLSP* e.V.(Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie) entwickelten Empfehlungen zur psychotherapeutischen und beratenden Arbeit mit lesbischen, schwulen und bisexuellen KlientInnen (Wolf et al., 2015) sollen abschließend Grundqualifikationen für die Arbeit mit lesbischen, schwulen und bisexuellen KlientInnen skizziert werden. Diese umfassen sowohl fachspezifisches Wissens als auch eine fundierte Beziehungsgestaltung zu den KlientInnen und die Selbsterfahrung der Behandelnden in Bezug auf sexuelle Orientierung.
Ziel des Artikels ist die Erarbeitung einer therapeutischen Haltung, die für lesbische, schwule und bisexuelle KlientInnen ein hilfreiches und bedarfsgerechtes psychotherapeutisches Versorgungsangebot gestalten kann.
Sichtbarkeit und Stigmatisierungserfahrungen homo- und bisexueller Personen in der Gesamtgesellschaft
Mit dem zunehmenden Offenleben gerade jüngerer, gut gebildeter und gut in lesbische, schwule, bisexuelle und queere Communitys eingebundener Lesben, Schwuler und Bisexueller nimmt auch die Anzahl derjenigen Personen zu, die in Untersuchungen angeben, homo- und bisexuelle Erfahrungen gemacht zu haben, und die diese auch in ihrem kommunizierten soziosexuellen Selbstkonzept zum Ausdruck bringen. Der in empirischen Studien fassbare Bevölkerungsanteil homo- und bisexueller Personen erweist sich damit als eng mit soziokulturellen Entwicklungen verbunden, insbesondere damit, inwieweit ein soziokulturelles Umfeld das Sprechen über nicht heterosexuelle Orientierungen ermöglicht.
Gegenwärtig lässt sich in Deutschland, der Schweiz, Österreich und den angloamerikanischen Ländern davon ausgehen, dass ungefähr 5 % der erwachsenen Bevölkerung eine lesbische, schwule und/oder bisexuelle Selbstdefinition zur Beschreibung ihrer soziosexuellen Erfahrungen wählen (Cerwenka & Nieder, 2015; Mustanski et al., 2014; Sell et al., 1995; Wolf, 2003; Wolf et al., 2015). Die Anzahl von Personen, die sich als „queer“ bezeichnen, nimmt insbesondere in urbanen Räumen bei jüngeren Menschen stetig zu. Dabei gelingt die Wahl einer solchen Selbstdefinition am ehesten bei Personen, die über Ressourcen verfügen, die diese jeweilige Selbstdefinition unterstützen. Menschen, die in einem Umfeld leben, welches nicht-heterosexuelle Lebensweisen stark sanktioniert oder umfassend tabuisiert, erleben wahrscheinlich ähnlich häufig in ihren Fantasien emotional und sexuell geprägte Zuneigung zu gleichgeschlechtlichen Personen, drücken diese jedoch aus Angst vor sozialer Ausgrenzung und weiterer Diskriminierung und Gewalt nicht aus und bezeichnen sich auch seltener als lesbisch, schwul, bisexuell oder queer.
Sexuelle Orientierungen äußern sich mehrdimensional auf verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung und des Ausdrucks einer Person, konkret in den Erlebensbereichen der sexuellen und beziehungsbezogenen Fantasien, Handlungen sowie in der Selbstbeschreibung, und in der Teilhabe an soziosexuellen Communitys (also z. B. der schwulen Community) sowie auch in gesellschaftspolitischen Haltungen (z. B. einer machtkritischen Haltung bei queeren oder lesbisch-feministischen Personen). Über die Lebensspanne können sich sexuelle Erlebens- und Handlungsweisen und auch die sexuelle Orientierung einer Person verändern.
Eine nicht-heterosexuelle Orientierung stellt in dieser Gesellschaft immer noch ein Merkmal dar, wegen dem Menschen stigmatisiert, diskriminiert und angegriffen werden (European Union Agency for Fundamental Rights, 2013; Hanafi El Siofi & Wolf, 2012). Die Stigmatisierung homosexueller und bisexueller Menschen erweist sich dabei besonders eng verwoben mit sexistischen Ausgrenzungspraktiken. Lesben, Schwule und Bisexuelle werden vielfach nicht ausschließlich dann ausgegrenzt, angegriffen und abgewertet, wenn sie eine gleichgeschlechtliche PartnerInnenwahl sichtbar machen, sondern zusätzlich und oft auch schärfer, wenn sie den gesellschaftlichen Normvorstellungen eines geschlechtsspezifischen Habitus nicht entsprechen. So erlebt die feminine Aspekte zeigende und parodierende schwule Tunte in der Regel mehr und umfassendere Sanktionen als ein schwuler Mann, der über einen männlich gelesenen Habitus verfügt.
Gesellschaftliche Ausgrenzung führt bei den davon betroffenen Personen zu einer erhöhten Gefährdung durch belastungsassoziierte körperliche und psychische Erkrankungen (Mundle et al., 2015). Um diese Gefährdung abzuwenden, benötigen Menschen, die von der Ausgrenzung betroffen sind, spezifische Ressourcen in Form sozialer, informationeller, rechtlicher und ökonomischer Unterstützung, sichere Orte, an denen sie ihre Erfahrungen ohne erneute Stigmatisierung kommunizieren und verarbeiten können, sowie auch eine angemessene Versorgung und Kompensation der erlittenen Verletzungen. Insbesondere Personen, die wegen mehreren Zugehörigkeiten stigmatisiert und ausgegrenzt werden (siehe „Intersektionalität“), befinden sich hierbei in der Situation, dass ihnen durch das Überschneiden von Ausgrenzungspraktiken der Zugang zu Ressourcen in besonderer Weise erschwert bis unmöglich gemacht wird.
Lesbische, schwule und bisexuelle KlientInnen in der psychotherapeutischen Versorgung
Lesbische, schwule und bisexuelle KlientInnen nehmen laut Studienbefunden relativ häufig Psychotherapie in Anspruch und versuchen dort auch, ihre sexuelle Orientierung sowie soziokulturelle Erfahrungen damit anzusprechen (Brown, 1999; Jones & Gabriel, 1999; Roberts & Sorensen, 1995; Wolf, 2003). Dies betrifft insbesondere Lesben, Schwule und Bisexuelle mit einem formell mittleren oder höheren Bildungsabschluss, die Kontakt zu lesbischen, schwulen, bisexuellen und queeren Communitys haben und relativ offen leben.
Die starke Inanspruchnahme lässt sich auf der Seite des Bedarfs aber auch auf eine recht hohe Prävalenz an belastungsassoziierten Symptomatiken bei lesbischen, schwulen und bisexuellen KlientInnen zurückführen. So zeigen mehrere Übersichtsarbeiten, dass Lesben, Schwule und Bisexuelle relativ häufig an selbstschädigendem Substanzgebrauch, Angststörungen, Depressionen und Suizidalität leiden (Dennert 2006, Institute of Medicine of the National Academies, 2011; King et al., 2008; Lee, 2000; Leu, 2008; Plöderl, 2006; Plöderl et al., 2009; Wolf, 2015). Zur Erklärung dieser relativ hohen dokumentierten Prävalenz gerade dieser spezifischen psychischen Beeinträchtigungen wurde in den 1990er Jahren das Minority-stress-Modell entwickelt, das die Internalisierung und Selbstwendung von gesellschaftlicher Marginalisierung, Diskriminierung und Gewalt und deren Folgen bei Angehörigen gesellschaftlich stigmatisierter Minoritäten beschreibt (Brooks, 1981; DiPlacido, 1998; Meyer, 1995).
Auf der Seite der Ressourcen, über die ein Mensch verfügen muss, um den Mut und die Fähigkeiten zu entwickeln, sich einer psychotherapeutischen Versorgung anzuvertrauen, sind bei lesbischen, schwulen und bisexuellen KlientInnen die im Coming-out-Prozess erworbenen Fähigkeiten der Selbstöffnung zu benennen. Lesben, Schwule und Bisexuelle entwickeln im inneren und äußeren Coming-out Kompetenzen bei der Wahrnehmung und Einordnung eigener Empfindungen und sie lernen, emotional bedeutsame Erfahrungen auch gegen oftmals erheblichen externen Widerstand zu benennen und als Teil ihrer Identität anzunehmen (Bradford et al., 1994; Wolf, 2003).
Dass Lesben, Schwule und Bisexuelle überhaupt psychotherapeutische Versorgung in Anspruch nehmen, wenn sie unter Belastungen und psychischen Beeinträchtigungen leiden, ist keineswegs selbstverständlich, da die Nutzung von Angeboten des Gesundheitssystems für diese KlientInnen auch heute noch ein risikoreiches Unterfangen darstellen kann.
Durch die Geschichte der Profession zieht sich auf der Basis der Konstruktion, Heterosexualität sei eine Selbstverständlichkeit und auch die moralische Norm, eine Vielzahl von entwertenden Zuschreibungen an lesbische, schwule, bisexuelle, queere und trans*KlientInnen, die von der therapeutischerseits vorgenommenen Kommunikation von Vorurteilen als Fachwissen, einer Selbsterhebung und Herabwürdigung des Gegenüber, einem Zuschreiben von Legitimität für diskriminierende Handlungen über die Psychopathologisierung von sexuellen Orientierungen und Genderidentitäten bis hin zu Konversionsversuchen reichen (Wolf, 2013). In umfangreichen Forschungsarbeiten zum Thema diskriminierender Erfahrungen lesbischer, schwuler und bisexueller KlientInnen sind vielfach problematische Einstellungen und Handlungen von PsychotherapeutInnen dokumentiert worden (Dennert & Wolf, 2009; Garnets et al., 1991; Stevens, 1994, 1998; Wolf, 2003), darunter waren
•die Darstellung der sexuellen Orientierung nicht heterosexueller KlientInnen als ausschließlich sexuelles Verhalten oder als eine „Phase“ und die Entwertung der partnerschaftlichen Beziehungen der KlientInnen
•das Benutzen eines ausschließlich heterozentristischen Bezugssystems in der Ansprache und der Diagnostik, auch wenn die KlientInnen eindeutig kommuniziert haben, dass sie nicht heterosexuell sind
•die Reproduktion von Vorurteilen und deren Darstellung als psychotherapeutisches „Fachwissen“, z. B., dass Lesben und Schwule schlechte Eltern seien, dass ihre Beziehungen lediglich Ausdruck eines Elternkonfliktes seien oder dass Homosexualität oder Transidentität durch sexuellen Missbrauch entstünden.
Diese unethischen Praktiken sind wahrscheinlich hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass PsychotherapeutInnen aus gesellschaftlichen und in der Profession verbreiteten Heuristiken und Vorannahmen heraus handeln, wenn ihnen ein am Stand der Wissenschaft orientiertes Wissen zu einem Themenbereich fehlt. Dieser Rückgriff auf nicht fachlich reflektierte Vorannahmen ist vor dem Hintergrund der unterdessen durch eine Person nicht mehr zu bewältigenden Menge an psychologischem Fachwissen auch in anderen psychotherapeutischen Themenfeldern ein Grunddilemma der Profession. Jedoch bringt beim psychotherapeutischen Umgang mit sozial stigmatisierten Themen der unreflektierte Rückgriff auf Heuristiken und prävalente Vorannahmen ein besonders hohes Risiko mit sich, dass daraus dann therapeutischerseits ein Verhalten resultiert, das den betreffenden KlientInnen schadet.
In psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungen wird regelhaft mit wenigen Ausnahmen eine heterosexuelle Lebensweise als selbstverständlich vorausgesetzt. Wenn dann doch einmal Inhalte über lesbische, schwule und bisexuelle Lebensweisen vermittelt werden, weisen diese leider gelegentlich vor dem Hintergrund mangelnder Qualitätskontrolle das strukturelle Problem auf, dass sie den unterdessen recht umfänglichen und vielfältigen Forschungsstand zum Thema vernachlässigen, da dieser wiederum nicht Teil der Weiterbildung der Dozierenden war. Auch fehlt fast durchgängig in den Ausbildungsgängen eine Unterstützung einer fachlich fundierten Selbstreflexion des Umgangs mit Menschen unterschiedlicher soziosexueller Orientierungen (Coyle et al., 2001; Steffens & Eschmann, 2001). Und wenn das Thema dann doch von AusbildungskandidatInnen eingebracht wird, treffen diese auf Hilflosigkeit und Schweigegebote (Braun, 2016; Schon, 2016). Eventuell erfolgt gerade die Vernachlässigung der Selbstreflexion zum Thema mit der Intention seitens der DozentInnen, die Teilnehmenden vor Schamgefühlen zu schützen. Dies führt jedoch in der Folge dazu, dass TherapeutInnen dann in den anschließenden Behandlungen genau die Bereiche nicht ansprechen, zu denen sie und/oder die KlientInnen Scham empfinden.
Auf Seiten lesbischer, schwuler und bisexueller KlientInnen führen die Erfahrung und Erwartung von Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt oftmals zu einer Vorsicht bei der Nutzung von Angeboten der Gesundheitsversorgung, zur Verzögerung notwendiger Behandlungsmaßnahmen, zu Misstrauen, Angst und einem sehr sorgfältigen Informationsmanagement, das einer authentischen Selbstöffnung in der Therapie entgegensteht und vorhandene Probleme durch Schweigenmüssen weiter verschärfen kann (Bieschke et al., 1999; Steinbrück, 2012; Wolf, 2003).
Intersektionalität
Jede Person weist eine Vielzahl von Identitäten und Zugehörigkeiten auf. Dabei werden von den betreffenden Personen Zugehörigkeiten, die ihnen Privilegien einräumen, oft als „selbstverständlich“ betrachtet und auch im Diskurs nicht mehr als eine von vielen Möglichkeiten dargestellt. Zugehörigkeiten, die im Gegensatz dazu zu einer Stigmatisierung und der Vorenthaltung und dem Entzug von Privilegien führen, werden hingegen wegen des damit verbundenen Leidens und der Konfrontation mit durch die Stigmatisierung aufgerichteten Barrieren von den betreffenden Personen oft viel schärfer gespürt. Stigmatisierte Personen setzen sich dementsprechend auch intensiver mit ihrer gesellschaftlichen Positionierung auseinander als die Personen, die nicht stigmatisiert werden. Gesamtgesellschaftlich hoch relevante und mit zahlreichen Konsequenzen verbundene Zugehörigkeiten werden z. B. nach Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter, Habitus und dem Ausmaß, in dem eine Person bestimmten Attraktivitätsnormen entspricht, sozialem Status (Bildung, Zugang zu materiellen Ressourcen, Beruf oder Ausmaß der Anerkennung für die ausgeübte Tätigkeit), Gesundheit, Behinderungserfahrung, ethnisch-kultureller Zugehörigkeit, Hautfarbe, Staatsangehörigkeit, Migrationserfahrung und Religion gebildet (Dören et al., 2009). Eine intersektionale Betrachtungsweise, erstmals 1989 durch Kimberlé Crenshaw am Beispiel der Verwobenheit von Rassismus und Sexismus aufgezeigt, nimmt eine Person mit ihren unterschiedlichen privilegierten und deprivilegierten Zugehörigkeiten wahr und erfasst dabei die Verwobenheit ihrer gesellschaftlichen Positionierungen und deren Konsequenzen (Clarke et al., 2010; Winker & Degele, 2009).
Eine intersektionale Perspektive in der psychotherapeutischen Arbeit auf lesbische, schwule und bisexuelle Personen bedeutet, dass die PsychotherapeutInnen sowohl ihre eigene Position mit den einhergehenden Privilegien und Unterprivilegierungen wahrnehmen können als auch die ihrer KlientInnen. Darauf aufbauend erfassen die Behandelnden, welche Auswirkungen die jeweiligen Privilegierungs- und Deprivilegierungserfahrungen auf ihren Kontakt mit den KlientInnen haben. Vor dem Hintergrund dieser Analyse können die psychischen Beeinträchtigungen und Ressourcen der KlientInnen erfasst sowie die Kontextbedingungen, unter denen die KlientInnen erkrankt sind, und jene, unter denen sie auch wieder gesund werden können, verstanden werden. Auf dieser Basis kann dann die therapeutische Beziehung zu den KlientInnen gestaltet werden (Das Nair & Butler, 2012; Fredrickson & Roberts, 1997; Northridge et al., 2007).
So kann beispielsweise ein homosexueller Klient, der aus einem streng evangelikalen Umfeld stammt, unter erheblichen Druck seitens seiner religiösen Gemeinde geraten, wenn er sich outet. Der Klient befindet sich in dieser Situation in einem Konflikt, der ihn letztlich zu einer Kompartimentalisierung (Abtrennung) für ihn existenziell wichtiger Identitätsaspekte und durch die damit verbundenen Belastungen und Kommunikationsverbote zu einer erheblichen Gefährdung seiner psychischen Gesundheit führen kann (Cadwell, 2009; Wadle & O’Toole, 2010). Internalisiert der Klient den erfahrenen religiös untermauerten Druck, können daraus Selbsthass und Suizidalität resultieren sowie das Bedürfnis, die homosexuelle Orientierung zu verändern oder zu verstecken, um die religiöse Zugehörigkeit bewahren zu können (Wolf, 2013). Ein liberal aufgewachsener heterosexueller Therapeut befindet sich im Kontakt mit diesem Klienten in einer mehrfach privilegierten Position. Bei ihm gefährdet ein Offenleben seiner sexuellen Orientierung weder seine privaten sozialen Strukturen noch seinen Arbeitsplatz. Aus dieser Position heraus geht es in der Therapie dann unter anderem darum, das Dilemma des Klienten aus dessen Binnensicht zu erfassen, dieses Verständnis zu kommunizieren, korrekt über die Wirkungen und Risiken von Konversionsversuchen informieren zu können, Gefährdungen des Klienten zu erkennen und ihnen entgegenzutreten sowie mit dem Klienten einen Weg zu erarbeiten, auf dem er seine Entscheidungen für das Leben seiner unterschiedlichen Zugehörigkeiten treffen kann. Defensive Aussagen seitens des Therapeuten, er selbst habe mit einer homosexuellen Orientierung seiner KlientInnen „kein Problem“, sind hierbei wenig hilfreich und verhindern die Begegnung mit dem Klienten. Vielmehr kann in dieser Situation therapeutischerseits eine kommunikative Brücke gebaut werden durch eine selektive und sorgsam im Hinblick auf die Konsequenzen für die Ziele des Klienten reflektierte Selbstöffnung des Therapeuten auf seine gesellschaftliche Positionierung hin („Was bedeutet es für Sie, wenn ich als heterosexueller Therapeut, der religiös nicht so sehr gebunden ist, Ihnen in diesem Dilemma beiseite stehen möchte?“) (Dee Watts-Jones, 2010). Dies kann dem Klienten helfen, seine eigene Position sichtbar zu machen und das Fachwissen und die Begleitung des Therapeuten für die Bewältigung der schwierigen Situation nutzbar zu machen.
Entwicklung von Empfehlungen zur psychotherapeutischen und beratenden Arbeit mit lesbischen, schwulen und bisexuellen KlientInnen
Während in den USA die APA (American Psychological Association) als große und einflussreiche Fachgesellschaft bereits im Jahr 2000 evidenzbasierte Leitlinien (guidelines) für die psychotherapeutische Arbeit mit lesbischen, schwulen und bisexuellen KlientInnen entwickelt hat (American Psychological Association, 2011), fehlten solche bisher für den deutschsprachigen Raum. Der Forschungsstand zum Thema ist darüber hinaus in den angloamerikanischen Ländern durch eine bessere strukturelle Ausstattung der dazu Forschenden deutlich fortgeschrittener. So liegt die überwiegende Anzahl der Publikationen zum Thema der psychischen Gesundheit von Lesben, Schwulen und Bisexuellen in englischer Sprache vor. Auf Deutsch gab es zwar einige Grundlagenwerke (maßgeblich: Rauchfleisch et al., 2002), jedoch keine den APA-Guidelines vergleichbare und für die interessierte Öffentlichkeit, KlientInnen und PsychotherapeutInnen über das Netz frei zugängliche Überblicksarbeit.
Um ein solches Werk als Grundlage für eine transparente und am Stand aktuellen Fachwissens orientierte Therapie- und Beratungsarbeit zur Verfügung zu stellen, begann 2009 eine Arbeitsgruppe (Leitlinien-AG) des VLSP* e.V. mit der Entwicklung der „Empfehlungen für die beratende und therapeutische Arbeit mit lesbischen, schwulen und bisexuellen KlientInnen“. In diese Empfehlungen gingen die Kommentare zahlreicher ausgewiesener ExpertInnen (PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen und Forschende) aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit ein sowie die Ergebnisse mehrerer Online- und Face-to-Face-Diskussionsforen im Rahmen des Verbandes (Kramer, 2015). 2014 wurden die Empfehlungen konsensuell im VLSP* verabschiedet und 2015 publiziert (Wolf et al., 2015). Sie können kostenfrei von der Website des Verbandes abgerufen werden und stehen zur Anwendung und Weiterentwicklung zur Verfügung.
Den „Empfehlungen“ wurde die Strukturierung der „Guidelines“ der APA zugrunde gelegt, die zunächst Grundlagenwissen zum Thema (u. a. über sexuelle Orientierungen, Coming-out, Einfluss von Ausgrenzung und Gewalt) vermitteln, anschließend PsychotherapeutInnen dazu aufrufen, sich ihrer eigenen Einstellungen zum Thema bewusst zu werden und – sofern sie sich aufgrund eigener Vorbehalte nicht zur therapeutischen Arbeit mit diesen KlientInnen in der Lage sehen – KlientInnen an KollegInnen zu überweisen, wenn dies indiziert ist. Damit nehmen die APA-Guidelines sehr klar PsychotherapeutInnen in die Verantwortung auch für einen das Wohl der KlientInnen schützenden Umgang mit eigenen diskriminierenden Haltungen. Weiter gehen die APA-Guidelines auf intersektionale Aspekte ein und beschreiben beispielhaft, wie sich ethnische Herkunft, Alter, Religion und Spiritualität, Behinderungserfahrungen, eine HIV-Infektion oder AIDS sowie die sozioökonomische Situation auswirken können auf Ressourcen und Belastungen lesbischer, schwuler und bisexueller KlientInnen. Zum Schluss fordern die APA-Guidelines zu einer Weiterentwicklung des Wissens und zur sorgsamen Reflexion der vorhandenen Forschung auf.
In den Empfehlungen des VLSP* werden diese Inhalte um Ausführungen zur therapeutischen Haltung und Beziehungsgestaltung ergänzt. Bei den intersektionalen Aspekten wurden die Ausgrenzungen aufgrund des Geschlechts und der Geschlechtspräsentation hinzugefügt. Im Schlussteil wird auf die soziokulturelle Situation in Deutschland, speziell auf die Folgen des NS-Regimes auf lesbische, schwule und bisexuelle Personen und Communitys, hingewiesen. Auch beziehen die Empfehlungen des VLSP* die deutschsprachige Forschungsliteratur umfänglich mit ein.
Schluss
Im Kontext der insgesamt fünf Jahre lang tätigen Leitlinien-AG haben wir innerhalb des VLSP* und mit zahlreichen externen ExpertInnen intensiv diskutiert, welche Themenbereiche in der Arbeit mit homo- und bisexuellen KlientInnen besonders wichtig sind und wo die Schwerpunkte einer entsprechenden Qualifikation von PsychotherapeutInnen für diese Arbeit liegen sollten. Alle Mitarbeitenden der Leitlinien-AG sind selbst lesbisch, schwul, bisexuell und/oder queer. Alle arbeiten psychotherapeutisch, unter anderen mit lesbischen, schwulen, bisexuellen und queeren KlientInnen. Wir alle kennen lesbische, schwule, bisexuelle, queere und trans* Personen, die sich als KlientInnen dem psychotherapeutischen Versorgungssystem anvertraut haben und dabei von FachkollegInnen stigmatisiert, am Coming-out gehindert, wegen ihrer Beziehungen diskriminiert wurden oder denen seitens der Behandelnden nahegelegt wurde, es sei doch besser, heterosexuell zu sein. Einige von uns haben KlientInnen unterstützt, die einer Konversionsbehandlung unterzogen wurden. Wir sind überzeugt, dass es zur Prävention iatrogener Schäden bei lesbischen, schwulen und bisexuellen KlientInnen wichtig ist, dass alle Institutionen im Gesundheitswesen Maßnahmen ergreifen, um Diskriminierungen und Gewalt gegen KlientInnen zu unterbinden.
Die Empfehlungen des VLSP* sind darüber hinausgehend darauf ausgerichtet, dazu beizutragen, dass lesbische, schwule und bisexuelle KlientInnen in Zukunft nicht nur auf eine diskriminierungsfreie, sondern vielmehr auf eine hilfreiche und fachgerechte Versorgung treffen können. Wir begegnen FachkollegInnen in den Empfehlungen mit der Einstellung, dass fundiertes Wissen den besten Anreiz bietet, die Bereicherungen, die in der Auseinandersetzung mit soziosexuellen Orientierungen in der psychotherapeutischen Arbeit liegen, aufzugreifen. Einen Teil dieses Wissens wollen wir mit den Empfehlungen so gut wie möglich zugänglich machen.
Letztlich grundlegend für die Arbeit in diesem Themenfeld, welches durchzogen ist mit den Auswirkungen heterozentristischer Sozialisation von TherapeutInnen und KlientInnen, ist nach unserer Überzeugung eine ausgedrückte Bereitschaft der Professionellen, sich mit Machtpositionen, inklusive der eigenen, auseinanderzusetzen, Macht nicht zu missbrauchen, Stellung gegen Diskriminierungen zu beziehen, die eigenen Vorannahmen durch die Erfahrungen der KlientInnen verändern zu lassen, bei Irrtümern, Fehlern oder ausgelösten Verletzungen einen Schritt zurückzutreten und sich zu entschuldigen. Forschung, die sich dem Thema sexueller Orientierung respektvoll nähert und auch eine Unterstützung der Gesundheit nicht heterosexueller Menschen intendiert, wird in den kommenden Jahren wahrscheinlich deutlich an Umfang gewinnen. Es ist zu hoffen, dass dies auch für die deutschsprachigen Länder gilt. Insofern handelt es sich um ein Themenfeld, in dem wir mit einer rasanten Wissenserweiterung rechnen müssen und in dem wir KlientInnen immer als Lernende gegenübertreten.
Autorin
Dr. Gisela Wolf, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeut*in, arbeitet in Berlin psychotherapeutisch in eigener Praxis. Sie ist Teil des Vorstands des VLSP* e.V.
Korrespondenz
Dr. Gisela Wolf
Psychotherapeutische Praxisgemeinschaft
Neue Kantstraße 3
14057 Berlin
Deutschland
E-Mail: gisela.wolf.fr@gmail.com
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Download: http://www.vlsp.de/system/files/vpp1-15_s2_empfehlungen.pdf (Meldung vom 18.12.2015)
1 Der hochgestellte Stern im Namen des VLSP steht für die Vielfalt sexueller Orientierungen und Identitäten und soll darauf aufmerksam machen, dass der Verein für Personen ganz unterschiedlicher sexueller Orientierungen und Genderidentitäten offen ist und sich einsetzt.
2 The superscript asterisk in the VLSP name stands for the multiplicity of sexual orientations and identities and should draw attention to the fact that this Association is open for persons of entirely diverse sexual orientations and gender identities and stands up for them
3 L'asterisco in apice a nome della VLSP rappresenta la molteplicità di orientamenti e identità sessuali richiama l'attenzione sul fatto che l'associazione è aperta e si impegna a favore di persone dai più svariati orientamenti sessuali e identità di genere.