Editorial
Theodor Itten
Editorial
Die individuelle Selbstverantwortung will wieder in die Solidarität von Gemeinschaften innerhalb der offenen Gesellschaft hineingewoben werden, in der wir uns befinden und unser je eigenes Leben leben. Unsere Individualität und geschlechtliche Identität sind eng verknüpft mit der Gemeinsamkeit in Gruppen, in denen wir unsere sexuellen Vorlieben ausleben können.
Das Leitthema dieses Heftes war in diesem bald vergehenden Jahr in vielen Medien präsent.
Im Film „The Danish Girl“ wird die Geschichte von Gerda und Einar Wegener, einem Künstlerpaar aus Kopenhagen, erzählt. Einar fühlte sich mehr und mehr als Frau. Ihr Künstlername wurde Lili Elbe. Sie kleidete sich fortan weiblich und trug Perücke. Sie war die erste Frau, die eine geschlechtsangleichende Operation wagte; was vor fast hundert Jahren eine grosse medizinische Herausforderung war. Sie starb an deren Folgen.
Die Transfrau und Schauspielerin Jamie Clayton, die in der Netflix-Serie „Sense8“ eine Transfrau spielt, zeigt, wie viele erfolgreiche Transfrauen und Models, wie wichtig heute eine gelingende Diskussion zu diesem Thema ist.
Caitlyn Jenner, die als 27-jähriger Mann 1976 die olympische Goldmedaille im Zehnkampf gewann, wurde im Juni 2015 auf der Titelseite der Zeitschrift „Vanity Fair“ als Frau abgebildet. Zwischen den Geschlechterufern haben sich immer schon Popmusiker_innen (u. a. David Bowie, Gianna Nannini) bewegt.
Eine bekannte Version aus der alten Welt ist die des ehemaligen Zeus-Priesters Teiresias. Auf einem seiner Spaziergänge traf er auf ein sich begattendes Schlangenpaar. Mit seinem Wanderstab schlug er auf die beiden ein und tötete zufällig das Weibchen. Zur Strafe wurde er auf der Stelle in eine Frau verwandelt. Nun war sie Priesterin der Göttin Hera. Nach sieben Jahren hatte sie eine erneute Begegnung mit einem sich begattenden Schlangenpaar. Wohlwissend was passieren könnte, erschlug Teiresias gezielt die männliche Schlange. Und unvermittelt war sie wieder ein Er. Teiresias machte die Erfahrung, als Mann und als Frau in einem Leben zu sein.
Hera und Zeus liebten, wie wir alle, streitbare Ehegespräche. Das Folgende dreht sich um die strittige Frage, wer beim Liebemachen und Sex mehr Lust empfinde. Zeus war für die Frauen und Hera für die Männer. Wer könnte da ein stimmigeres und auf grösserer Erfahrung beruhendes Urteil sprechen als ihrer beider Priesterin/Priester Teiresias. Er sagte, als Frau habe er viel mehr Lust empfunden als als Mann. Das machte Hera wütend, weil sie/er gegenüber Zeus dieses Frauengeheimnis ausplauderte.
Wie dem heute auch sei, jedenfalls wurde ich, durch das Schwerpunktheft zu Gesundheit und therapeutische Versorgung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*Personen und ihren Familien der Zeitschrift „Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis“, 47. Jg., Heft 1, 2015, inspiriert, für unser PTW - Journal dieses Thema zum Schwerpunkt eines Hefts zu machen.
Schon Ende der 1990er-Jahren hat die Professorin Judith Halberstam von der Universität von San Diego durch ihr Buch „Female Masculinity“ die laufende Genderdebatte mit einer grossen Studie zur kulturellen Identität bereichert. Trans*Personen sind in unserem Beruf aktiv, sind in der Politik, in der Wirtschafts- und Modewelt präsent. Die Sexualität ist politisch und die Geschlechtsidentität ist vielfältig in gelebter Praxis. Die sexuelle Vielfalt erfordert einen Umgang mit diversen sexuellen Identitäten in der Psychotherapie. Dieses Heft beinhaltet verschiedene Beiträge zur Frage des therapeutischen Umgangs mit der sexuellen Vielfalt und der Geschlechteridentität. Die sexuelle und die geschlechtliche Identität der Psychotherapeut_in und der Patient_in oder Klient_in sind a priori in einem Wechselspiel, bewusst und unbewusst miteinander verknüpft – z. B. durch das sozialpsychologisch in der primären Familie geformte Geschlechtervorurteil und die psychosexuelle Identität im Erwachsenwerden, welche in der Übertragung und Gegenübertragung immer eine Rolle spielen. Die affirmative Psychotherapie unterstützt homosexuelle und bisexuelle Klienten und Klientinnen darin, ihre sexuelle Orientierung zu erforschen, zu bejahen, zu festigen und zu integrieren. Welche Art der psychotherapeutischen Behandlung durch Psychotherapeut_innen diverser sexueller Identitäten ist hilfreich für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Heterosexuelle mit ihren spezifischen Bedürfnissen? Welche ergänzenden Erfahrungen und Einsichten braucht es für uns Psychotherapeut_innen, welche in den gelernten Therapieansätzen und Lehranalysen oft, wenn auch nicht immer zu wenig Beachtung finden oder fanden? Da sich die Psychotherapie, wie die moderne Psychologie, zunehmend in einen Frauenberuf entwickelt, ist die Frage wichtig, ob eine Gendergruppe allein die Gewährung der sexuellen Vielfalt in diversen Lebenswelten ausreichend unterstützen und ihr mit einer positiven Grundhaltung und mit ausreichendem Wissen begegnen kann.
In den hier veröffentlichten Essays werden die Begriffe Transidentität, Transsexualität und Transgender in der Schreibweise Trans* wiedergegeben.
Die Berliner Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Gisela Wolf schreibt über die erfahrungsbedingten und wichtigen psychotherapeutischen Kompetenzen, welche in der Ausbildung gelernt werden müssen, für die Arbeit mit Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung.
Die in Sankt Gallen tätige Psychologin Dr. Myshelle Baeriswyl schreibt einfühlsam und vielschichtig über das Queering der Psychotherapie, über Geschlechtervarianz, Geschlechtsidentität und die Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit.
Der Basler Psychoanalytiker Patrick Gross und die in Luzern praktizierende freie Philosophin Dr. Lisa Schmuckli schreiben verspielt im Duett und geben Auszüge aus ihrem Vortrag „Der Herr ist nicht Frau im eigenen Haus: psychoanalytische Fragmente zur Thematik der trans*Identität“.
Der emeritierte Professor der Psychologie Dr. Udo Rauchfleisch aus Basel beschreibt einfühlsam klar die Beziehungsgestaltung in der Begleitung und Therapie von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transidenten – eine Analyse mit Hilfe der Konzepte von Übertragung und Gegenübertragung.
Priv.-Doz. Dr. Martin Plöderl, in Salzburg tätig, beschäftig sich mit der psychischen Gesundheit von LGBT (engl. Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender). Er präsentiert aus seiner Praxis und Forschung Fakten und wichtige Erklärungsansätze.
Die in Projektmanagement und Wissensvermittlung tätige Frankfurter Soziologin Dr. Constance Ohms, die über Gewalt und Aggression von Frauen promovierte, schreibt über die Intersektionalität in der psychosozialen Beratung zu Gewalt- und/oder Diskriminierungserfahrungen von Lesben, Schwulen und Trans*. Abschließend werden einige weitere themenbezogene Bücher besprochen und Hinweise auf weitere Veröffentlichungen der Autor_innen gegeben.
Allen Expert_innen in diesem Themenfeld, die für uns ASP- und Schweizer Charta für Psychotherapie-Mitglieder geschrieben haben, seien im Namen des ganzen Redaktionsteams für diese grosse „labour of love“ herzlich bedankt.
Ausserhalb des Themas plädiert Paulo Raile in einer Originalarbeit für die Beachtung der philosophischen Grundlagen der Psychotherapie, welche zu oft in Studium, Lehre und Praxis übersehen werden.
Diverse Buchbesprechungen, vor allen anderen jene des PAP-S-Buchs „Was wirkt in der Psychotherapie?“, runden die vorliegende Nummer ab.