Nancy Amendt-Lyon (Hrsg.). (2017). Zeitlose Erfahrung. Laura Perls’ unveröffentlichte Notizbücher und literarische Texte 1946–1985

Gießen: Psychosozial-Verlag. ISBN: 978-3-8379-2702-3. 354 Seiten. 39,90 EUR, 43,90 CHF

Psychotherapie-Wissenschaft 9 (1) 87–88 2019

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2019-1-87

In diesem Buch werden bisher unveröffentlichte Texte, Briefe, Gedichte sowie Übersetzungen von Gedichten, Kurzgeschichten und Entwürfe für Vorträge oder Publikationen aus den Tagebuchnotizen von Laura Perls publiziert.

Laura Perls, geborene Lore Posner aus Pforzheim, war die Gattin von Fritz Perls. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass sie eine wesentliche Rolle in der Konzeption und Entwicklung der Gestalttherapie spielte. Ihrem seinerzeitigen Frauenbild entsprechend, wirkte sie jedoch im Hintergrund und überliess die Bühne für Fachpublikationen ihrem Mann und anderen Kollegen. Unter eigenem Namen veröffentlichte sie nur wenig.

Es war die Tochter des Ehepaares Perls, Renate Perls, die die Herausgeberin anfragte, ob sie aus dem Nachlass dieser Tagebücher nicht eine Publikation machen könnte. Eine Aufgabe, die die Wiener Gestalttherapeutin mit amerikanischen Wurzeln Nancy Amendt-Lyon gerne annahm und hervorragend meisterte. Die hinterlassenen Materialien sind zum Teil sehr fragmentarisch und wurden von der Herausgeberein sehr sorgfältig und umsichtig editiert und kommentiert.

Das Buch erschien 2016 erst auf Englisch unter dem Titel Timeless Experience: Laura Perls’ Unpublished Notebooks and Literary Texts 1946–1985 im Verlag Cambridge Scholar Publishing, Newcastle.

In einer längeren Einführung schildert die Herausgeberein, wie sie zu diesen Texten gelangt ist und beschreibt den Inhalt der verschiedenen, über Jahre hinweg entstandenen Tagebücher. Im Anschluss folgen zwölf Kapitel, die die zuvor nicht publizierten Texte von Laura Perls wiedergeben. Zum Abschluss sind auf Englisch Interviews mit Daniel Rosenblatt angefügt, die in der englischen Originalausgabe mit Bewilligung der Daniel Rosenblatt Foundation erstmals publiziert wurden. Die Interviews beziehen sich auf vier Phasen von Laura Perls’ Leben: die Jahre in Pforzheim, in Berlin, in Südafrika und schliesslich in New York. Sie ergänzen die Tagebuchnotizen trefflich, um ein Bild der Pionierin der Gestalttherapie zu erhalten.

Gerne hätte die Herausgeberin diese Interviews auf Deutsch wiedergegeben, wie sie im Peter Hammer Verlag unter dem Titel Meine Wildnis ist die Seele des Anderen: Der Weg zur Gestalttherapie erschienen sind. Doch leider verweigerte die Edition GIK (Gestalt Institut Köln) im Peter Hammer Verlag die Einwilligung, trotz Zustimmung der Daniel Rosenblatt Foundation. Schade und unverständlich. Kommerzielle Verlagsinteressen waren offenbar wichtiger als einen Beitrag zu einem umfassenden historischen Buch beizusteuern. Die Herausgeberin geht geschickt mit diesem Umstand um: Einerseits streut sie in ihrer Einführung Zusammenfassungen und einzelne Passagen (manchmal mit korrigierter Übersetzung) als Zitate in ihre Einführung ein und andererseits gibt sie die kompletten Interviews auch in der deutschen Ausgabe auf Englisch wieder. Wer zu wenig Englisch versteht, muss nun eben die deutsche Version der GIK-Publikation als Ergänzung zu diesem Buch dazukaufen.

Es gelingt der Herausgeberin, eine ausgezeichnet recherchierte Biografie von Laura Perls zu erstellen, in der lebendig wird, mit welchen wichtigen Persönlichkeiten aus Psychoanalyse, Gestaltpsychologie, Philosophie und Kultur sie in Verbindung stand. Die Entwicklung eines Therapieansatzes kann nie ohne Bezug zum zeitgeschichtlichen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext verstanden werden. Die Herausgeberin arbeitet diesen Hintergrund und den Beitrag von Laura Perls zur Gestalttherapie gekonnt heraus.

Laura Perls begann erst ein Jura-Studium, wandte sich dann aber der Psychologie zu. Sie studierte bei Max Wertheimer die Gestalttheorie der Wahrnehmung, bei Kurt Goldstein die holistische organismische Theorie und schloss ihr Studium bei Adhémar Gelb zur Feldtheorie mit einem Doktorat ab. In den Vorlesungen bei Kurt Goldstein begegnete sie ihrem späteren Mann, dem Psychiater Fritz Perls. Später in einer Publikation meinte sie:

«Wer die Gestalttherapie theoretisch verstehen will, sollte sich vertraut machen mit den Arbeiten Wertheimers über das produktive Denken, Lewins über die unvollendete Gestalt und die wesentliche Bedeutung des Interesses an der Gestaltformierung und Kurt Goldsteins über den Organismus als unteilbare Ganzheit» (S. 68; Herv. i. O.).

Ursprünglich psychoanalytisch ausgebildet bei Paul Tillich, Clara Happel, Kurt Landauer und Otto Fenichel, begann sie zunehmend Haltung, Atmung und Bewegung in ihre Arbeit einzubeziehen, entfernte sich damit immer mehr von der Psychoanalyse und beschritt bereits in den 1930er Jahren neue Wege, die sie später mit Fritz Perls und Paul Goodman auf den Weg zur Konzeption der Gestalttherapie brachten.

In ihrem Arbeiten zentral war für sie, Halt und Stütze zu geben.

«Ihre typischen Interventionen waren Aufforderungen, ein imaginiertes Gegenüber direkt anzusprechen. D. h. jemanden anzureden, als wäre die Person anwesend und man spräche nicht nur über sie; Dinge vorsätzlich zu tun, wie zu atmen, sich zu verschliessen oder etwas zur Verdeutlichung zu übertreiben. Laura hatte Freude daran, mit der Sprache und dem Körper zu experimentieren, insbesondere mit der Atmung und der Körperhaltung» (S. 18f.).

Sie entwickelte einen beziehungsorientierten, supportiven Stil der Gestalttherapie, der besser geeignet war für die klinische Arbeit mit Menschen, die tiefergreifende Schwierigkeiten hatten als bloss neurotische Störungen, als der provokative und frustrierende Arbeitsstil, den Fritz Perls in seinen Weiterbildungsseminaren demonstrierte.

Die Originaltexte aus den Notizbüchern enthalten Gedanken zu Inhaltlichem zur Gestalttherapie, Briefe an Exponenten der Gestalttherapie und Kunst, Gedichte (solche die sie selbst schrieb oder ihr aus dem deutschen Kulturraum wichtig waren und die sie auf Englisch übersetzte) und Kurzgeschichten als literarischen Nachlass. Sie erlauben Einblicke in eine sehr persönliche Seite von Laura Perls, die berühren, von ihrer kulturellen Bildung zeugen und auch zeigen, wie schwierig ihre Beziehung zu ihrem Mann gegen Ende wurde, wie viel Sprachlosigkeit und Einsamkeit sich dort über die Jahre eingenistet hatten.

Im Anhang werden auch viele biografische Fotografien, ein Stammbaum der Familien Perls und Posner sowie Faksimiles einiger Schriften wiedergegeben.

Das Buch ist eine Fundgrube für Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten, mehr über Laura Perls und ihren Beitrag zur Gestalttherapie zu erfahren. Es ist aber auch ein Zeitdokument aus der Vor-Nazizeit über fachliche und gesellschaftliche Beziehungen zwischen jüdischen Intellektuellen, die später teils umkamen in Nazideutschland und teils noch rechtzeitig emigrieren konnten. Das ist nicht nur für Personen aus der Gestalttherapie interessant, sondern spricht auch Therapeutinnen und Therapeuten anderer Richtungen an, insbesondere aus der Psychoanalyse.

Peter Schulthess