Originalarbeit

Jochen von Wahlert, Robert Mestel

Bondingpsychotherapie im Kontext stationärer Psychotherapie

Zusammenfassung Bonding als ein spezielles körperpsychotherapeutisches Verfahren in der Gruppe wird bezogen auf den stationären Kontext in einer Klinik beschrieben, in der Indikation begründet und bezogen auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Bindungsforschung und Hirnphysiologie. Die Autoren beschreiben die Methode besonders auch im Hinblick die Bedeutung von Realerfahrung in körperpsychotherapeutischem Kontext. Ausführlich werden Kontraindikationen beschrieben und begründet. Ebenso betonen die Autoren, dass die Wirksamkeit von Bonding als körperpsychotherapeutischem Verfahren, wenn auch wissenschaftlich noch nicht hinreichend untersucht, im klinischen Kontext, nämlich der Gesamtheit des therapeutischen Vorgehens nicht nur in einer therapeutischen Indikation begründet ist, sondern auch von den KlientInnen entsprechend bewertet wird.

Schlüsselwörter Bonding, therapeutische Gemeinschaft, Indikation, Klinik, Hirnphysiologie, Bindungsforschung

Abstract Bonding as a specific psychotherapy method in the group is related to the clinical context in a hospital. It is described, indicationally based on and related to new scientific research out of the field of brain physiology and attachment theory. The authors describe the method especially regarding the importance of “Realerfahrung” (real experience) in a body psychotherapy context. They also describe in detail and argue the different contra-indication. They also underline that the efficiency of bonding as a psychotherapy method is well based on therapeutic indication. Though there is not enough scientific research done yet bonding is well-proofed in the clinical context as part of a complex therapy setting. This is based on a positive feedback by clients.

Keywords Bonding, therapeutic community, clinic, indication, brain physiology, attachment theory

  1. Einleitung und Historie

Einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung unseres heutigen Psychotherapieverständnisses hatten die unorthodoxen „wilden Jahre“ der humanistischen Psychotherapie in den 70er und 80er Jahren. Die oft emotional expressive, körper- und ausdruckszentrierte Herangehensweise traf das Lebensgefühl einer Aufbruchsgeneration und viele Fachkollegen1 experimentierten mit neuen Methoden,musste man sich doch gegen die Doktrin einer in theoriegeleiteten Mutmaßungen erstarrten und an mitmenschlicher Begegnung verarmten psychoanalytischen Methodik einerseits und gegen die aus Tierversuchen abgeleitete, den Patienten als konditionierungsfähiges Objekt betrachtende kognitive Verhaltenstherapie andererseits stemmen. Die humanistischen, vielfach als Gruppentherapien praktizierten Ansätze nutzten alle Zugänge, die das emotionale Erleben fokussieren, oft auch Methoden, die den Körper einbeziehen und dabei physische und psychische Reaktionen hervorrufen mit der Vorstellung, durch emotionale Verarbeitung die Selbstheilungs- und Selbstbehauptungskräfte der Patienten zu aktivieren. Dabei verstießen sie gegen wissenschaftliche Regeln, überschritten Grenzen der bisherigen Lehrmeinungen und setzten unwiederbringliche Impulse für die Entwicklung der Psychotherapie, zumal viele Menschen mit Hilfe der neuen Methoden sich nicht nur von inneren Zwängen befreit fühlten, sondern auch die gesellschaftlich akzeptierten und praktizierten Formen, mit psychischen Störungen umzugehen, sprengten. Psychisch krank galt gesellschaftlich als persönliche, individuelle Angelegenheit, die im Stillen und unter größtmöglicher Verschwiegenheit ausgehalten oder gelöst werden musste.

Die neuen Gruppentherapiemethoden dagegen propagierten die (zumindest gruppeninternen) Veröffentlichungen von seelischem Leid, oft verbunden mit heftigen Gefühlsausbrüchen unter dem in diesen Kontext übertragenen Leitspruch „Die Scham ist vorbei“. Aus heutiger Sicht erscheint vieles, was vor 40 Jahren als Befreiung der Persönlichkeit und dem radikalen Ausstieg aus rigiden, lebensfeindlichen intra- und interpersonellen Strukturen dienen sollte, als überzogen, undifferenziert, unsensibel und manches gar als grenzverletzend, übergriffig und im schlimmsten Fall retraumatisierend. Wir verstehen inzwischen, dass eine psychotherapeutische Methode nur so gut ist, wie die differenzierte, indikationsgeleitete, behutsame und die therapeutische Beziehung und therapeutische Grenzen achtende Anwendung der Methode. Sie sollte zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Dosierung im Einverständnis mit dem Patienten angeboten werden.

  1. Beschreibung und Verbreitung

Bonding (englisch: Verbindung) ist die Bezeichnung für eine psychotherapeutische Methode, die von Dan Casriel, einem Psychiater und Psychoanalytiker ursprünglich für die therapeutische Arbeit mit Drogenabhängigen in New York Ende der sechziger Jahre entwickelt wurde (Casriel, 1972/1995). In Deutschland wurde sie Anfang der siebziger Jahre von dem damaligen Chefarzt der Psychosomatischen Klinik in Bad Herrenalb, Walter Lechler, eingeführt und wird kontinuierlich seit Gründung in folgenden Fachkliniken angewendet: Ab 1979 in der Psychosomatischen Klinik in Bad Grönenbach, ab 1989 in der Klinik Wolfsried, Stiefenhofen und ab 1996 in der Adula Klinik, Oberstdorf). Daneben wurde die Methode auch in ambulanten Instituten (v. a. Dan Casriel Institut; Zentrum im Kraichgau) und seit den 70ern temporär in zahlreichen psychosomatischen und Suchtkliniken weltweit eingesetzt (z. B. Schweden, Niederlande, Belgien, Italien, Frankreich undUSA; siehe Wehrli 2005).

Für Casriel ist die Erfahrung von emotionaler Offenheitder zentrale Wirkfaktor, der innere Blockaden löst und Menschen in die Lage versetzt, ihren Grundbedürfnissen nach Nähe und Zuwendung nachzugehen.

Stauss (2006) beschreibt den Prozess vor dem Hintergrund der Bindungstheorie, der modernen Hirnforschung und des Prozess-Erfahrungsansatzes von Greenberg (1984) und Elliot (1999). Er führt aus, wie mit der Methode Kompetenzen für die Befriedigung lebensnotwendiger und neurobiologisch verankerter Grundbedürfnisse nach Nähe, Bindung, Autonomie, Selbstwert, körperlichem Wohlbehagen, Lust- und Lebenssinn verbessert werden können, weilVerletzungen zu den prägenden Bindungspersonen in dem Bonding-Prozess aktiviert und negative Einstellungen, körperliche Blockierungen und zerstörerische Verhaltensmuster durchgearbeitet werden können.

Als Kliniker mit langjähriger Erfahrung mit der Methode möchten wir sie als einen Baustein im Kanon stationärer Psychotherapieangebote nicht missen, weilmanchmal erst damit die Dinge in Bewegung kommen und wir den Eindruck haben, dass das Bonding genau die richtige Erfahrung war, die es für einen gelingenden psychotherapeutischen Prozess gebraucht hat. Und wir meinen, dass das Konzept einer therapeutischen Gemeinschaft, als Basiskonzept der Kliniken, die nach dem „Herrenalber Modell“ arbeiten (Lechler & Meyer, 2007), nur dann hinreichend gut funktioniert, wenn sich tatsächlich genügend Patienten emotional öffnen und gegenseitig für emotional korrigierende Erfahrungen zur Verfügung stehen.

Praxis der Bondingpsychotherapie im stationären Kontext

Die Praxis der Bondingpsychotherapie ist uneinheitlich. Die „klassische Methode“ (Stauss, 2006, S. 226) wird sowohl im ambulanten als auch stationären Setting durch andere Methoden ergänzt.

Vorgehen der „klassischen Methode“ im stationären Setting an der HELIOS Klinik Bad Grönenbach (vgl. Stauss, 2006): Die Patientengruppe wird in Paare aufgeteilt, die sich gegenseitig begleiten und sich während des Prozesses körperlich (und wünschenswerter Weise emotional) halten, d.h. während der eine am Boden liegt und „arbeitet“ kann er sich mehr oder weniger intensiv an seinem Bonding-Partner festhalten, d.h. ihn umarmen bzw. sich von ihm halten lassen. Nach einer theoretischen Einstimmung und Einführung über den differenzierten Sinn von Gefühlen und dem Nutzen emotionaler Verarbeitung werden die Teilnehmer ermuntert, die beschriebene Position einzunehmen und auf innere Prozesse zu achten. Sie werden ermutigt, emotionale Regungen wahrzunehmen und sie hörbar - manchmal lautstark - auszudrücken. Nach einer ersten Phase von entweder Hemmung oder „gespieltem Gefühlsausdruck“ werden oft unmittelbar authentische Gefühle der Wut und/oder Trauer spürbar und geäußert, die wir so lange ermuntern und unterstützen, bis der Impuls, dieses Gefühl auszudrücken, abebbt und Platz für andere, meist friedlichere oder freudigere Gefühle macht. In diesem Prozess, der ca. 20 bis 30 Minuten dauert, werden oft sehr unterschiedliche Gefühlsqualitäten durchlaufen. Z. B. drückt jemand zunächst lautstark seine Wut aus, danach erlebt er tiefe Trauer, um sich kurze Zeit später befreit und glücklich darüber zu fühlen, überhaupt auf der Welt und so dicht in Kontakt mit sich und mit seinem Begleiter zu sein. Es erscheint, als ob intensive Gefühle, die im Kontakt mit anderen ausgedrückt werden können, sich eher wie Wellen verhalten, d.h. sie kommen (werden zugelassen), rollen über einen hinweg (werden intensiv erlebt) und ebben danach wieder ab. Gefühlswellen dauern in diesem Prozess eher Augenblicke, Minuten, nicht Stunden und Tage. Oft werden mehrere Wellen des gleichen Gefühls erlebt, die aber dann abgelöst werden durch Wellen anderer Gefühlsqualitäten.

Angeleitet und begleitet wird dieser Prozess von Therapeuten, die den theoretischen Hintergrund und die Prozesse aus intensiver eigener Erfahrung kennen und die nach der Einführung die Patienten begleiten. Sie ermuntern sie dazu, Gefühle, die sich melden, auszudrücken, ihnen einen Laut zu geben. Dabei geht es zunächst oft darum, in unterschiedlichsten Versionen „nein“ sagen zu dürfen in dem Bedürfnis, Grenzen zu markieren und dazu unausgesprochene, angesammelte Wut zu äußern. Oder es macht sich Trauer bemerkbar, die dann mehr oder weniger hörbar ausgedrückt wird durch intensives Schluchzen, Weinen oder Klagen, Trauer über unverarbeitete Verluste oder nicht gelebte Bedürfnisse. Die Teilnehmer beschreiben oft, dass sie zunächst Angst- oder Schamgefühle überwinden müssen, insbesondere wenn sie früher für den Ausdruck von Gefühlen nicht geachtet wurden. Später im Prozess entsteht ein Gefühl von „Ich bin berechtigt (für meine Grundbedürfnisse zu sorgen)…“ oder „Meine Gefühle sind richtig (und zeigen mir an, was zu tun ist).“

Der Therapeut bestätigt den Gefühlsausdruck und gibt „elterliche“ Erlaubnis und Bestätigung für das, was empfunden wird.

Manchmal hilft er, wenn innere Verbote oder offensichtliche muskuläre körperliche Blockaden (im Zwerchfell, im Kehlkopf) den Gefühlsausdruck verhindern. Z. B. unterstützt es den Prozess, wenn die Stirn über den Augenbrauen ausgestrichen wird (unbedingt das Einverständnis zur körperlichen Berührung einholen!) oder die Kehlkopfpartie sanft von unten nach oben berührt wird. Eine Hand auf dem Kopf kann helfen, durch die Angst durchzugehen, die heftige Gefühle bei vielen unserer Patienten auslöst. Die Ermunterung und Bestätigung durch uns Therapeuten findet, in Erlaubnissätzen statt („Das ist in Ordnung.“, „Trau deinen Gefühlen!“, „Lass uns hören, was in dir steckt!“).Sehr oft aber sind wir auch nur mit wortlosen Tönen gefragt, mitzustimmenden, mitfühlenden, ermutigenden Lauten, die nicht mehr über das Sprachzentrum verarbeitet werden, sondern direkt auf die rechte Hirnhälfte wirken und drei Dinge signalisieren: „Du bist nicht alleine.“ und „Du bist absolut in Ordnung, so wie du bist.“ und „Das, was du hier tust, ist richtig“2.

Der Bondingpartner – ein Mitpatient – begleitet physisch und emotional den Prozess und wir beobachten oft, wie mit therapeutischer Hilfe sich eine Sequenz von Interaktion in dieser Arbeitspartnerschaft ergibt, in der der Begleiter korrespondierend zu frühen emotionalen Bedürfnissen auf diese prompt und adäquat reagiert, was an die Feinfühligkeit von Müttern erinnert, die so ihren Säuglingen im ersten Lebensjahr das Vertrauen in die Bindung und damit den Grundstein für das Vertrauen in sich und in andere schenken, also das Vertrauen in die Fähigkeiten, für die wichtigsten psychosozialen Grundbedürfnisse zu sorgen. Wir vermuten, dass durch diese Interaktion frühe Beziehungserfahrungen relativiert und die aus ihnen resultierenden belastenden Annahmen über sich und die Welt (z.B. „Zeig keine Gefühle, das hilft dir nicht!“ oder „Zieh dich zurück, wenn es Dir schlecht geht!“, oder „Du bist nur ok wenn du dich anpasst oder anstrengst.“) veränderbar sind und mit der emotionalen Erfahrung durch neue, konstruktive Selbstannahmen ersetzt werden können. Diese müssen dann allerdings in einem weiteren Schritt bestätigt und kognitiv verankert werden (ausführlicher: Stauss 2006)

Oft entsteht in der Phase nach dem Ausdruck des Schmerzes, der Wut und der Trauer ein sehr existentielles Gefühl von Aufgehobensein, Geborgenheit und Identität, ein „Im Grunde bin ich in Ordnung so wie ich bin - Gefühl“, das in diesen Momenten tatsächlich mehr gefühlt als gedacht wird. Diese Erfahrung wird in der Beziehung zum Begleiter körperlich verankert, der in der zweiten Phase ein „holding“ anbietet, sich hinsetzt und den Partner hält wie kleine Kinder gehalten werden und mit Worten bestätigt, dass „alles in Ordnung“ ist. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, destruktive, selbstabwertende oder verunsichernde Selbstannahmen zu revidieren und damit zu experimentieren, positive Aussagen über sich zu formulieren und der Gruppe mitzuteilen, z.B. „Ich habe ein Recht auf meine Grenzen.“ oder „Meine Gefühle und Bedürfnisse sind in Ordnung.“ oder „Ich bin liebenswert, so wie ich bin“.

Wir erleben also, wie der Körper durch die Berührung und durch den physischen Halt während des Prozesses Inhalte des impliziten Gedächtnisses frei gibt und diese oft zunächst durch eine körperliche und stimmliche Reaktion ausdrückt. Oft erscheinen erst später im Prozess die Bilder und Gedanken, die Zusammenhänge mit biographischen Erfahrungen. Dann aber lässt sich meist ein Krankheitsmodell entwickeln, mit dem die oft unkontrollierbare und unverständliche Symptomatik einen Sinn ergibt: Schmerzhafte Erlebnisse in der eigenen Geschichte haben zu adäquaten Schutzreaktionen geführt und Gefühle, die zu heftig waren, um sie sinnvoll zu nutzen, wurden aus der Wahrnehmung gestrichen. Nur dass sich die unverarbeiteten Gefühle im Organismus als verborgene Gedächtnisinhalte abgespeichert haben und immer dann, wenn sie durch irgendwelche Situationen berührt werden, die Symptomatik ausbricht. Erst mit dem Erkennen von Zusammenhängen lassen sich diese früheren Erfahrungen einordnen und verarbeiten. Trauerarbeit bedeutet in diesem Kontext, die emotionale Last von Verlusten zu verarbeiten mit dem Ziel, das Herz für aktuelle Beziehungen, Aufgaben und Herausforderungen frei zu bekommen. Trauer hat damit einen sehr wichtigen, reinigenden Effekt. Sie hilft uns, die Dinge zu akzeptieren, die Vergangenheit sind, und den Frieden mit den erlebten Erfahrungen zu finden. Trauerarbeit beinhaltet den ganzen Reigen schwieriger Gefühle. Oft zeigt sich zuerst die Wut, vermischt aber auch mit Angst und Verzweiflung. Gerade die Wut sollte nicht übergangen werden, sonst läuft man Gefahr, sich selber leid zu tun und den Trauerprozess zu chronifizieren. Insofern sollten Menschen, die sich häufig selber abwerten oder ihre Wut in Form von Selbsthass und Selbstvernachlässigung gegen sich selber richten, zunächst in die Lage versetzt werden, damit aufzuhören. Trauern, tiefes, warmes Trauern, wenn irgendwie möglich geteiltes Trauern, bei dem anderen die Möglichkeit der Anteilnahme gewährt wird und Trost zu spenden, löst die Vorwürfe, die wir gegen andere Menschen oder gegen uns selber haben („hätte...“ und „wäre ...“) und fördert unsere Bereitschaft, die Dinge, die wir erlebt haben, als Teil unserer Geschichte zu akzeptieren. Wer das kann, hat größere Chancen, heutige Situationen nicht mit früheren zu verwechseln und kann sich besser auf das, was ihm begegnet, einlassen.

  1. Überlegungen zur Neurobiologie von Prozess und Ergebnis der Bondingpsychotherapie

Wir haben durch die neurobiologische Forschung heute eine gewisse Vorstellung, was während des Bonding-prozesses passiert (ausführliche Darstellung der neurobiologischen Prozesse von J. Bauer 2010). Vorstellbar ist, dass durch die körperliche Berührung und die gesuchte Nähe zu einem Mitmenschen während des Bonding-prozesses Oxytozin freisetzt wird, das Hormon, das für die Bindung zuständig ist und unser Vertrauen steigert. Das Halten des Bondingpartners würde neurobiologisch die Funktion übernehmen, die Angst vor den eigenen „Ungeheuern“, den unverarbeiteten Gefühlen zu überwinden und einen Zugang zu den Reaktionen über die oft seit Jahrzehnten verschütteten Erfahrungen zu finden und sie so für das Durcharbeiten frei zu geben. Bei einer optimalen therapeutischen Emotionsverarbeitung sollen alle Elemente des emotionalen Schemas prozessual aktiviert und durch bewusste Aufmerksamkeitslenkung exploriert werden (Elliot, 1999). Oder, wie K. Stauss (2006, S.68) es beschreibt, es wird eine „emotionale Beteiligung erreicht, die notwendig ist, um die in den subkortikalen limbischen Strukturen gespeicherten emotionalen Erfahrungen vollständig zu aktivieren“. Die Amygdala (Mandelkern) spielt dabei die zentrale Rolle, in ihr wird unter dem Einfluss des medialen orbitofrontalen Kortex der gelernte motivationale bzw. emotionale Gehalt eines Stimulus als impliziter Gedächtnisinhalt (LaBar u. Cabeza 2006) gespeichert. Der emotionale Gehalt einer Erfahrung bedeutet also, dass auch die Bewertungen, die physischen und psychischen Reaktionen, also auch die Körperempfindungen und die Bewertungen der Situation sowie die erfolgten Abwehr- und Schutzmechanismen in Form neuronaler Netzwerke abgelegt und bei entsprechender Stimulation wieder aufgerufen werden können, allerdings ohne dass uns der Zusammenhang jeweils bewusst wäre. Die gespeicherten emotionalen Erfahrungen zuzulassen und ihnen Ausdruck zu verleihen, bedeutet, sie fühlbar und damit emotional verstehbar zu machen. Der Präfrontale Kortex ist der Sitz kognitiver Prozesse der Aufmerksamkeit, logischer, vernünftiger und planerischer Aktivität und somit der neuroanatomische Ort der Verhaltens- und Emotionskontrolle. Seine zentrale Aufgabe ist, Emotionen zu repräsentieren und zu regulieren, also zu steuern. Ängste, die aus früheren Erlebnissen resultieren, können mit Hilfe von Realitätsprüfungen relativiert, gemildert und kontrolliert werden. Wenn im Laufe des Bonding-Prozesses die Steuerungsfähigkeit im Präfrontalen Kortex aktiviert und unterstützt wird und eine andere körperlich und emotional spürbare Erfahrung präsent ist, kann so der Schmerz, die Angst usw. bewusst der Vergangenheit zugeordnet werden und das emotionale Schema sich neu organisieren. In dieser Phase werden neuroplastische Transmitter ausgeschüttet, die bestehende synaptische Verbindungen lösen und neue bilden. Sind die schmerzhaften Gefühle ausgedrückt erfolgt oft ein „Umschalten von sympatisch-adrenerger Erregung zum parasympatischen System“ (Stauss 2006), in dem eine tiefe Entspannung, Lebensfreude, Selbstannahme und körperliches Wohlbefinden empfunden wird. Dieses ist die Grundlage für die weiteren, vorwiegend kognitiven Schritte zur Schemaveränderung. Hierfür muss ein geduldiger kognitiver Bewertungsschritt der neuen Erfahrungen erfolgen, der es ermöglicht, eine wohlwollende Grundhaltung als Selbstannahme zu verinnerlichen. Sind die ungebremsten amygdalen Reaktionen schnell und unkontrollierbar, so braucht die Emotionsverarbeitung und Neubewertung von Erfahrungen Zeit. Le Doux (2001) spricht hier vom „langsamen kortikalen Emotionskreislauf“.

Wir vermuten, dass im Prozess das motivationale System aktiviert, Dopamin ausgeschüttet und der Organismus in einen Zustand von Handlungsbereitschaft und Zuversicht versetzt wird. Damit würde das Bonding eine direkte antidepressive Wirkung entfalten, die noch verstärkt wird, wenn in der Situation durch die emotionale Öffnung die Zuwendungsbilanz physisch und emotional spürbar verbessert wird.

Mit Bonding bieten wir einen therapeutischen Prozess an, der mit Hilfe von intensiven emotionalen Erfahrungen versucht, psychische Konsequenzen pathogener Beziehungserfahrungen zu verändern, also die neurobiologischen Netzwerke, die uns dysfunktional heute z. B. hemmen oder uns misstrauisch, aggressiv oder angepasst oder aber auch unterwürfig auf neue Situationen reagieren lässt, in Bewegung zu bringen und neue synaptische Verbindungen anzuregen. „Die Erfahrungen, die in das neu zu bildende ‚Schema’ zu assimilieren wären, müssen reale Erfahrungen sein, die der Patient mit allen seinen Sinnen macht, und nicht nur verbale Repräsentation von Erfahrungen“ (Grawe, 1998). Wir nehmen also an, dass Arbeitsmodelle über die eigene Selbstwirksamkeit und Beziehungsfähigkeit besser durch intensive Erfahrungen revidiert und neu gestaltet werden können als durch verbale Methoden. Ziel ist, dass dysfunktionale Schemata in Frage gestellt und neu konfiguriert werden und damit die Folgen früherer Erfahrungen verstanden und deren emotionale Last verarbeitet werden können.

  1. Einbettung der Bondingpsychotherapie in das stationäre Gesamtkonzept

Hilfreich ist die Arbeit insbesondere dann, wenn für den Bondingprozess ein entsprechendes therapeutisches Milieu zur Verfügung steht, dass geeignet ist, die Neubewertungen von Situationen im Hier und Jetzt durch reale Beziehungserfahrungen zu verankern. Günstig hierfür erweist sich ein stationäres Behandlungskonzept, das das Zusammenleben der Patienten untereinander in Form einer therapeutischen Gemeinschaft nutzt. Die therapeutische Gemeinschaft definiert sich als Gruppe von Menschen, die gemeinsam aktiv an ihrer Genesung arbeiten und sich gegenseitig in der Bewusstmachung und Veränderung ihres Beziehungsverhaltens unterstützen. Hierzu ist es hilfreich, wenn unter den Patienten immer wieder neu der Konsens hergestellt wird, sich mit der Bereitschaft von offenen und ehrlichen Rückmeldungen zu begegnen und sich positive wie auch kritische Rückmeldungen zu geben. Das bedeutet, sich gegenseitig die Wahrnehmung und die emotionalen Reaktionen mitzuteilen und sich auf das eigene Verhalten, insbesondere wenn es destruktiv, abwertend, aggressiv, passiv oder mit Rückzug verbunden ist, ansprechen zu lassen. Wenn dies glückt, entsteht eine Gemeinschaft von Menschen, die sich gegenseitig zu korrigierenden emotionalen Erfahrungen verhelfen und damit positive Selbstannahmen unterstreichen.

Bondingpsychotherapie ist mehr als die beschriebene Methode. Sie bezeichnet in unserer Arbeit ein therapeutisches Vorgehen, das Räume für emotional korrigierende Erfahrungen öffnet. Durch den Einsatz verschiedener Methoden werden (neuronale) strukturbildende biographische Erfahrungen zur Verarbeitung freigesetzt und durch aktuelle Interaktionen relativiert. Nicht immer ist hierfür die „Mattenarbeit“ indiziert oder auch notwendig. Oftmals genügen weit weniger expressive Momente, in denen einem durch eine neue Erfahrung von Angenommensein oder Aufgehobensein der Schmerz über frühere Erfahrungen oder Entsagungen bewusst wird. Gleichzeitig wird emotional verstanden (man „fühlt“), dass der Schmerz, die Angst, der Verlust, die Trauer der Vergangenheit zuzurechnen ist und damit kann man abtrauern und bewältigen, was ja nicht umkehrbar ist. Die Aufgabe besteht darin, die eigene Geschichte anzunehmen. Im günstigen Fall lässt sich so das Misstrauen gegen sich selber und gegen die Mitmenschen revidieren. Und viele Patienten berichten, dass sich für ihr Leben neue Möglichkeiten auftun und sie die Chancen, die sich im Hier und Jetzt eröffnen, besser erkennen und ergreifen. Im angelsächsischen Sprachraum wird dies als „Bonding to the presence“ bezeichnet.

  1. Kontraindikationen

Klinisch ist offensichtlich, dass die Methode bei einigen Patienten hervorragende Wirkung zeigt und sogar als der Motor von günstigen Veränderungsprozessen betrachtet werden kann. Unklar bleibt allerdings, bei wem Bonding wirkt und wann der geeignete Zeitpunkt für integrierbare Bonding-Erfahrungen ist. Während in den 70er und 80er Jahren kaum Kontraindikationen für die Methode im stationären oder ambulanten Setting galten, wurden im Zuge der Entwicklung differentieller Behandlungskonzepte für die Borderline-Störung seit Ende der 80er Jahre von Stauss an der Psychosomatik Bad Grönenbach zunehmend stärker Kontraindikationen für die Methode gestellt. Viele andere Bonding-Praktiker dagegen blieben bis heute der ursprünglichen weiten Indikationsstellung verbunden. Vom Zweitautor Robert Mestel wurde deshalb eine Diplomarbeit ausgeschrieben, um diese Frage zumindest ansatzweise empirisch zu testen (Rudolf, 2005). Eine randomisiert-kontrollierte Studie war leider aus vielen Gründen nicht umsetzbar, so wurde der Therapieerfolg einer Klinik mit strenger (Bad Grönenbach) und mit sehr weicher Kontraindikationsstellung (Adula Klinik) bei Frauen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen verglichen. An der ersten Klinik kamen nur 5% der Frauen ins Bonding, an der anderen 82%. Die Zuweisung durch die Therapeuten erfolgte aus „klinischen Erwägungen“. Der Therapieerfolg wurde mit international verbreiteten Skalen gemessen und war in allen vier Gruppen (!), also mit oder ohne Bonding in Klinik A oder B, genau gleich hoch. Als naheliegende Interpretation bietet sich an, dass der Einfluss von Einzelmaßnahmen oder spezifischen Indikationsstellungen im stationären Setting wegen der vielfältigen anderen Wirkfaktoren kaum isoliert gemessen werden kann (siehe auch Mestel et al., 2002 zum Impact von additiver Verhaltenstherapie bei stationärer Angstbehandlung).

Zu den Kontraindikationen für Bondingpsychotherapie an der HELIOS Klinik Bad Grönenbach zählen Patienten, die nach Traumatisierungen zu Dissoziationen neigen und nicht über ein ausreichendes Repertoire an antidissoziativen Techniken verfügen. Wir halten es ebenfalls für eine Kontraindikation, wenn die innere Struktur verletzbar oder nur mäßig bis gering integriert ist (größer gleich „2,5“ nach der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik), insbesondere wenn unsere Patienten nicht über genügend Selbstwahrnehmung, Steuerungsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit verfügen. Diese Ausschlussregel inkludiert die meisten Borderline-Patienten oder andere mit schweren Persönlichkeitsstörungen.

Wenig hilfreich ist die Methode, wenn Menschen Gefühle ablehnen und kein Modell dafür haben, dass das Empfinden von Emotionen handlungsleitend sein kann und ihnen dabei hilft, dass wichtige Dinge im Leben stattfinden. Grawe (1998) spricht von Konsistenzspannung, die entsteht, wenn Menschen nicht für die Befriedigung von psychosozialen Grundbedürfnissen sorgen. Für den Bondingprozess ist es hilfreich, wenn Menschen eine Vorstellung von der „Nützlichkeit“ von Emotionen haben. Diese muss gegebenenfalls im Vorfeld vermittelt werden, sonst werden Menschen überrascht und überschwemmt und verschließen sich der neuen Erfahrung.

Kritisch ist die Methode für Menschen, die zwischenmenschliche Kontakte zwanghaft erotisieren und sich nicht auf Begegnungen jenseits von sexuellen Kontakten einlassen können. Hier ist die Mattenarbeit wegen ihrer intensiven körperlichen Nähe mit einem Mitpatienten nicht zu empfehlen, weil sie der Kontaktvermeidung durch Sexualisierung Vorschub leistet. Auch und gerade der Schutz von Mitpatienten ist hier besonders zu beachten.

Daneben gibt es auch die Hypothesen, dass Patienten mit extrem starker Vermeidung im Bindungsstil von der Methode überfordert sind, andererseits Patienten mit starkem verstrickten Bindungsmuster (ambivalent; v. a. geringe Näheangst!) weniger von diesem Setting profitieren im Vergleich zu Patienten mit stärkeren Näheängsten. Wir halten die Klärung der Indikationsfrage für eine der vordringlichsten. Diese ist allerdings methodisch nur in einer Studie mit zufälliger Zuteilung unausgelesener Patienten auf Bonding/Nicht-Bonding bei hinreichend überzeugten Therapeuten (in Bezug auf beide Bedingungen!) valide zu untersuchen. Und das erfordert Mut und entsprechende Mittel.

  1. Empirische Wirksamkeit der Bondingpsychotherapie

Zur Wirksamkeit der Bondingpsychotherapie liegen über den Zeitraum von gut 50 Jahren nur zwei unveröffentlichte, allerdings wenig aussagekräftige Studien vor. Mestel (1996, 1999) www.bonding-psychotherapie.de.

Aus dem stationären Setting liegen jedoch Hinweise dazu vor, dass die Bondingpsychotherapie von vielen Patienten sehr hilfreich im Vergleich zu anderen Angeboten erlebt wird. In einem Wirkfaktorenranking der Jahre 1993-2005 (Mestel, 2008) wurde Bonding von 29 Behandlungsangeboten am vierthilfreichsten von den 8.624 Patienten bewertet. 51% der Patienten, die Bondingpsychotherapie erhielten, bewerteten es als „sehr hilfreich“. Besser waren nur „Leben in der Gemeinschaft“, „Frauengruppe“ und „Einzelgespräche“. Ähnlich gut wurde Bonding in den anderen genannten Kliniken bewertet.

Korrespondenz

Dr. med. Jochen von Wahlert, Klinikgeschäftsführer, Ärztlicher Direktor und Chefarzt,
Sebastian-Kneipp-Allee 3a/5 ,87730 Bad Grönenbach,
Telefon (08334) 981-138, Telefax (08334) 981-166, www.helios-kliniken.de/bad-groenenbach

Literatur

Bauer, J.(2010). Das Gedächtnis des Körpers: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Frankfurt: Eichborn

Casriel, D. (1972/1995). Wiederentdeckung der Gefühle: Um einen Schrei vom Glück entfernt. 12&12 Verlag&Versand. Original: A scream away from Happiness. New York: Grosset& Dunlap.

Elliott, R (1999). Prozess-erlebnisorientierte Psychotherapie – ein Überblick: Teil I. Psychotherapeut, 44, 203-213.

Fisseni, G., Mestel, R. & von Wahlert, J. (2009). Hat der Besuch der Bondingpsychotherapiegruppe messbaren Einfluss auf den Therapieerfolg im Setting der HELIOS Klinik Bad Grönenbach? (S. 359). In:Frank Schneider und Michael Grözinger (Hrsg.). Psychische Erkrankungen in der Lebensspanne (DGPPN-Kongress 2009).

Grawe, K. (1998). Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe.

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Le Doux, J.E. (2001). Das Netz der Gefühle. München: dtv

Mestel, R. (1996). Therapieevaluation am Dan Casriel Institut – Therapieergebnisse von fünf Workshops im Jahr 1995. Unveröffentlichter Bericht.

Mestel, R. (1999). Evaluation von vier psychotherapeutischen Intensivphasen im Jahr 1998 am Dan Casriel Institut. Unveröffentlichtes Gutachten.

Mestel, R. (2008). Wirkfaktoren-Ranking von 1993-2005. Unveröffentlichter Bericht, Psychosomatik Bad Grönenbach.

Mestel, R. & Oppl, M. (2008). Therapieschulenmodelle: Humanistische Psychotherapie. In Schmid-Ott, G., Wiegand-Grefe, S., Jacobi, C.,Mestel, R., Vogler, J. & Klingelhöfer, J. (2002). Katamnesen mit AngstpatientInnen nach psycho-dynamischer verglichen mit kombiniert psychodynamisch-verhaltenstherapeutischer stationärer Psychotherapie. In Bassler, M. (Hrsg.): Stationäre Gruppenpsychotherapie (S. 50 - 97). Psychosozial Verlag: Gießen.

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Stauss, K. (2006). Bonding Psychotherapie. Grundlagen und Methoden. München: Kösel

Wehrli, A. (2005). Einführung in die emotionelle Gruppentherapie nach Casriel / Band 1: Du schaffst es, aber du schaffst es nicht allein. Goch: Santiago Verlag

 

1 Zugunsten einer flüssigeren Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, gemeint sind immer beide Geschlechter

2Tatsächlich werden die Patienten an den genannten vier Kliniken nach dem „Herrenalber Modell“ wegen der ausgeführten intensiven therapeutischen Begleitung und dem Prinzip der Therapeutischen Gemeinschaft und den Gepflogenheiten der Anonymen Gruppen
(„A-Bewegung“) mit „Du“ angesprochen. Die Anrede mit „Sie“ oder ein Wechsel von „Sie“ zu „Du“ und zurück wirkt im intensiven Prozess inadäquat.