Originalarbeit

Sabine Trautmann-Voigt, Bernd Voigt

Zur körperorientierten Psychotherapie bei Borderline-Patienten

Zusammenfassung Die Notwendigkeit des reflektierten Einbeziehens des Körpers in das therapeutische Handeln wird inzwischen differenziert durch die Forschungsergebnisse der Grundlagenforschung bestätigt (neuere Säuglingsforschung, Hirnforschung usw.). Die Sprache des Körpers dient dabei einer vertieften oder erweiterten therapeutischen Kommunikation. Körpererlebnisse werden im Körpergedächtnis gespeichert und bleiben ein Leben lang wichtig für die zwischenmenschliche Kommunikation und für die Affekt- und Selbstregulation. Die Bewegungsmuster von Borderline- und Traumapatienten sind häufig erheblich gestört. Die Autoren befassen sich eingehend mit den hieraus resultierenden spezifischen Problemen für Körperpsychotherapeuten und beziehen dies auf die Therapiegestaltung, den Umgang mit Strukturdefiziten, den Umgang mit der Psychodynamik, sowie auf die Indikation und die Art der Beeinflussung von Körperzuständen. Anschließend werden die Therapiephasen in der Borderline-Behandlung unter der Perspektive von Körperpsychotherapie beleuchtet. Die positive Körpererfahrung ermöglicht grundsätzlich eine kognitive Umstrukturierung und Neugestaltung von belastenden Erfahrungen.Drei übergeordnete Therapieprinzipien für körperpsychotherapeutische Interventionen werden identifiziert und differenziert.

Schlüsselwörter Sprache des Körpers, Borderline-Störung, Trauma-Patient, Therapiedesign, Therapieprinzipien, Therapiephasen.

Abstract The reflected approach to the body within the therapeutic setting meanwhile is acknowledged by the results of basic scientific research (infant research, brain physiology etc). The language of the body supports a more deepened and differentiated therapeutic communication. Body experiences are memorized in the body memory. They will remain important lifelong for the interpersonal communication as well as for the affect- and self regulation. The moving patterns of borderline and trauma clients often are disturbed. The authors consider well what this outcome specifically means for body-psychotherapists. They relate it to the therapy design, the contact to the structural pathology, the handling of the psychodynamics as well as to the indication and the way, how to influence the states ofbody experience. The authors illustrate different therapy phases of the borderline therapy under the perspective of body-psychotherapy. The positive body experience basically helps to establish a cognitive new structure and restructuring of difficult experience. Three basic therapy principals of body-psychotherapeutic interventions are identified and differentiated.

Keywords body language, borderline disorder, trauma clients, therapy design, therapy principles, phases of therapy

Wozu körperorientierte Psychotherapie?

In den letzten 5-10 Jahren zeigte sich die Bedeutung der Körpersprache für das Verständnis therapeutischer Kommunikation in einer Fülle von Publikationen (Überblick in s. Marlock u. Weiss 2006). Die Ergebnisse der neueren Säuglingsforschung und der Hirnforschung wurden in der modernen Psychotherapie methoden-übergreifend rezipiert und beide Forschungsrichtungen, empirische Säuglingsbeobachtung und Hirnforschung, legen eine reflektierte Einbeziehung des Körpers und seiner Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten in das therapeutische Handeln nahe (Remmel, Kernberg et al. 2006). Die kommunikative Bedeutung der Sprache des Körpers wird besonders nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass ein relativ großer Bereich des Kortex dafür zuständig ist, die voll entwickelten motorischen Aktivitäten, folglich die körpersprachliche Kommunikation, zu koordinieren.

Die motorischen Bereiche des Kortex sind mit einer großen Anzahl von sensorischen, visuellen und taktilen Bereichen auf komplizierte Art und Weise verbunden. Erfahrungen und Erinnerungen der frühen Kindheit und weitere prägende Erlebnisse werden auch später in den sogenannten primitiveren Gehirnregionen (sensorische Systeme, Amygdala, motorische Systeme) dekodiert und sind als solche nicht immer durch bewusstes Wollen kontrollierbar (Le Doux 2002; van der Kolk, McFarlane u. Weisaeth 2000). Aus diesem Grund kann die Kommunikation mit und durch den Körper konstruktiv in die Psychotherapie bei jeder Patientenpopulation integriert werden und ist keinesfalls als primitives Mittel und überwindbare Vorstufe des symbolischen Denkens und der Sprachfähigkeit zu sehen, die dann vernachlässigt werden kann, wenn die Sprache sich entwickelt hat. Vielmehr werden Körpererlebnisse jeglicher Art im Körpergedächtnis gespeichert und bleiben ein Leben lang wichtig für die zwischenmenschliche Kommunikation und für die Affekt- und Selbstregulation (Joraschky, Loew u. Röhricht 2009; Trautmann-Voigt u. Voigt 2009).

Das motorische System übersetzt angeborene Antriebe (Reflexe) sowie Motivationen und Emotionen in praktische nonverbale „Moment-zu-Moment-Wahlen“. Dieser Vorgang bringt die sichtbare Körpersprache mit konkreten Bewegungsantworten auf folgende Fragen hervor:

Das hoch effiziente System emotionaler Austauschprozesse ist vollständig nonverbal und bleibt ein Leben lang in Form intuitiv wahrgenommener affektiver Kommunikation erhalten, die in Beziehungen stattfindet. Das beeinflusst in erheblichem Ausmaß unsere unterschiedlichen Gedächtnissysteme. Das episodische Gedächtnis ist das komplexeste. Es erlaubt eine Zeitreise in die Vergangenheit und ist erst ausgeprägt, wenn die eigene Biografie erinnerbar wird. Es bezieht sich vor allem auf affektiv stark besetzte Episoden. Es erfordert eine auf sich selbst bezogene Reflexion. Das semantische Gedächtnis speichert Wissen ab, das Fakten aus der Gegenwart enthält. Das perzeptuelle Gedächtnis ist auf das Wiedererkennen von Reizen bezogen. Frühe körpersprachliche Austauschprozesse strukturieren das implizit Unbewusste, das in besonderer Weise aus dem prozeduralen und dem Priming-Gedächtnis gespeist wird. Priming bedeutet eine höhere Wiederkennungswahrscheinlichkeit für vorher unbewusst aufgenommene Informationen, auch für solche, die über Sinnesreize eingegangen sind. Das prozedurale Gedächtnis bezieht besonders affekt-motorische Aspekte ein (s. Becker u. Wunderlich 2004).

Wichtige Parameter der körperpsychotherapeutischen Arbeit mit Borderline-Patienten

Therapiegestaltung

Das individuelle Körpererleben der Patienten wird in den Vordergrund des Interesses gerückt. Das Körperverhalten wird genau beobachtet und gezielt angesprochen. Selbst- und Fremdwahrnehmungen, die das Körperbild (die Einschätzung des eigenen Körpers) betreffen, werden über strukturierte Gespräche als Teilaspekte des Selbsterlebens reflektiert. Die Gestaltung der Therapie erfolgt dabei auf zwei Ebenen: auf der Ebene des bewegten Handlungsdialogs zweier interagierender Körper und der gemeinsamen Auswertung innerer und äußerer körperlicher Aktionen (Trautmann-Voigt u. Voigt 1997; 1998; 2001, 2007a; 2009).

Umgang mit Strukturdefiziten

Emotional instabile Persönlichkeiten zeichnen sich durch Polysymptomatik und Überflutungszustände wie Wut, Angst, Hass oder andere Emotionen aus. Unerträgliche affektive Dysregulationen führen nicht selten zu selbst-verletzendem (Körper-)Verhalten oder Substanzmittelmissbrauch, der ebenfalls körperliche Leidenszustände nach sich zieht. Extreme Liebes- oder Hassgefühle prägen auch die interpersonellen Beziehungsmuster. Konflikte werden eher interpersonell als intrapsychisch erlebt und entsprechend wird in Beziehungen, häufig mit körperlicher Gewaltanwendung, agiert. Eine allgemeine Ich-Schwäche als strukturelles Merkmal, verschiedenste Einschränkungen der Ich-Funktionen, der Impulskontrolle und eine oft chaotische Lebensbewältigung kommen hinzu.

Es gibt kein kohärentes Bild vom eigenen Selbst und den wichtigen Bezugspersonen. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erleben sich also selbst sowie andere im Verlauf von kürzeren Zeiteinheiten als uneinheitlich, widersprüchlich und unstet. Identitätsdiffusionen sind häufig, das heißt, bei diesen Patienten fehlen integrierte Persönlichkeitskonzepte sowie klare Vorstellungen, natürlich auch und gerade vom eigenen Körper. Ziele der Körperpsychotherapie, die sich hieraus ableiten lassen, sind körperbezogenes Stoppen von affektiven Überflutungserlebnissen, körperbezogene Stärkung der betroffenen Ich-Funktionen, vor allem Förderung der Affektdifferenzierung, der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie der Regulierung der Beziehung zu sich selbst und anderen. Bei erlittenen Traumata, die das Körperbild verzerrt haben, unterstützt ein positives Körpererleben, beispielsweise durch das Erleben von körperlicher Spannungsreduktion, die Neukodierung relativierender Körpererfahrungen (Schenk u. Schedlich 2001). Damit kann der psychophysischen Stressreaktion, die zum Zeitpunkt einer Traumatisierung grundsätzlich erfolgt, aktiv entgegengewirkt werden.

Die sechs wichtigsten Aspekte der Körperpsychotherapie bei Borderline-Patienten sind im Einzelnen:

Umgang mit der Psychodynamik

Häufig ist die Stimmung bei Borderline-Patienten entweder von Angst vor Trennung und Objektverlust auf der einen Seite oder von Angst vor Vereinnahmung durch das Objekt und Selbstverlust auf der anderen Seite gekennzeichnet. Die unreife Abwehrorganisation der Spaltung steht im Vordergrund, begleitet von primitiver Idealisierung, Entwertung, Verleugnung und projektiver Identifizierung. Nicht das bloße Vorhandensein dieser Abwehrorganisation ist das Entscheidende bei der emotional instabilen Persönlichkeit, sondern ihr überaus starkes Ausmaß; ihre Radikalität und Dominanz machen ihr klinisches Erscheinungsbild aus.

Eine Patientin entwickelte während einer Übung in der Körpertherapiegruppe, in der ihre Partnerin ganz vorsichtig ihre Handgelenke umfasste, urplötzlich eine archaisch anmutende Wut. Sie riss sich los und rannte weg, dabei stolperte sie und stieß mit dem Kopf gegen die Wand. Dann setzte sie sich auf den Boden und weinte wie ein kleines Kind. Die Patientin beschimpfte sich im Folgenden selbst, sie habe es nicht so gemeint, aber sie sei eben zu dumm, um mitzukriegen, dass die andere Patientin ihr ja nicht habe wehtun wollen.

Das Über-Ich als strukturierende Größe ist kaum integriert oder archaisch grausam. Rigide Selbstverurteilungen richten sich häufig im selbstverletzenden Sinne gegen die eigene Person oder können nur durch Externalisierung und Projektion abgewehrt werden. Die Gegenübertragungsreaktionen bei Borderline-Patienten sind bekanntlich heftig wechselnd, grobe Verzerrungen der Wahrnehmung aufseiten der Patienten nicht selten. Archaische, wenig differenzierte Selbst- oder Objektimagines werden dabei auch oft wechselnd auf den Therapeuten übertragen. Die Übertragungsdisposition kann dann stark fluktuieren, von der dämonisierten Position in die idealisierte und umgekehrt. Der Therapeut kann als liebevoll, dann als kalt, als zu feinfühlig, dann als feindselig, zu manipulativ oder sadistisch, dann wieder als zu gutmütig bis „trottelig“ gelten.

Eine andere Patientin in der Gruppe formulierte einmal ausdrücklich den Wunsch, massiert zu werden. Als die Partnerin sich darauf einließ, schimpfte die Patientin sie aus, ihre Massage sei zu wenig einfühlsam, es würde ihr wehtun, am Nacken angefasst zu werden.

Diese Psychodynamik erfordert Konsequenzen für das körperpsychotherapeutische Arbeitsbündnis. Es ergibt sich eine psychotherapeutische Körperarbeit unter bewusster Einschränkung der Berücksichtigung der Übertragung: Durch eine aktiv leitende Therapeutenhaltung, durch begrenzbare Übungen und wiederkehrende Rituale sollen Sicherheit und Vertrauen in den eigenen Körper und seine Funktionen aufgebaut werden. Wenig oder fast gar nicht geht es um die Deutung von Handlungsdialogen durch den Therapeuten, wie es bei anderen Patientenpopulationen durchaus der Fall ist.

Allerdings verhilft eine gezielte Bewegungsanalyse dazu, das Körperverhalten des Patienten einzuordnen (Siegel, Trautmann-Voigt u. Voigt 1999; Trautmann-Voigt, u. Voigt 2009; Trautmann-Voigt u. Moll 2010).

Emotional instabile Persönlichkeiten fordern mehr als andere das Gefühl, als „gleichberechtigte Partner“ ernst genommen zu werden. Es erscheint sinnvoll, klar strukturierend im HierundJetzt zu arbeiten und einen gut formulierten Behandlungsvertrag zu schließen, um sich als Therapeut vor destruktiven Handlungsimpulsen dieser Patienten zu schützen.

Die Körperzustände können beeinflusst werden?

Was passiert, wenn Erinnerungen als Flashbacks auftauchen? Wie reagiert der Körper dabei und wie kann er zur Ruhe kommen, wenn traumatische Erinnerungen ihn überfluten? Drohen bei Borderline-Patienten nicht affektive Überflutungen und unkontrollierbare regressive Prozesse, wenn Freiräume für körperliches Erleben und Kontakt über Körpersprache eröffnet werden?

Die Erkenntnisse über somatische Marker und Neuroplastizität ermöglichen eine klare Antwort:

Die Mechanismen der Plastizität des Gehirns und der damit verbundenen lebenslangen Lernfähigkeit sind immer weiter an Erfahrungen gebunden, die neu körperlich verankert werden müssen. Dies erfolgt nur, wenn ohne Angst unter gezielter Berücksichtigung körperlicher Reaktionen in Überflutungssituationen körperliche Entspannung bzw. andere Formen der körperlichen Regulation hergestellt werden (Gindler 2002).

Damasio (2000) hat den Begriff der „somatischen Marker“ und des „neuronalen Selbst“ als genuin körperliche Begriffe geprägt. Das bedeutet nichts anderes, als dass Körperempfindungen, die aus früheren Ereignissen stammen, an weiteren kognitiven Entscheidungsprozessen beteiligt sind, diese stören oder blockieren können. Gefühle und Kognitionen basieren auf Körperwahrnehmungen.Wenn Psychotherapie hier ansetzt, können über die sensomotorische Erfassung und Umkodierung somatischer Zustände in körpersprachlichen Dialogen die „falschen Kartierungen“ beeinflusst werden, die bei Borderline-Patienten häufig durch körperverletzende, traumatische Erfahrungen entstanden sind. Allerdings erfordern diese Erkenntnisse aus der Hirnforschung auch ein Eingehen auf die Gesetze des Körpers. Diese Gesetze sind geprägt durch biologische Rhythmen und eine gewisse Periodizität, durch die Grunddeterminanten des In-der-Welt-Seins wie Schwerkraft und Zeit. Durch gezielte multimodale sensomotorische Aktivierung kann die Aufmerksamkeit traumatisierter Patienten im psychotherapeutischen Setting auf das prozedurale (implizite) Unbewusste gerichtet werden, um neue Kodierungen für prozedurales Beziehungswissen zu etablieren.

Unter multimodalen, sensomotorischen Aktivierungen von seiten der Therapeutin werden alle Interventionen verstanden, die Patienten zu einem bewussteren Körpererleben einladen. Dazu gehören:

Ritualisierte Bewegungsfolgen können gemeinsam entwickelt werden, um etwas zu lösen: So verhelfen Afro-Tänze, meditative Tänze, Übungen aus dem Tai Chi, Stimmrituale und viele andere Verfahren der Körper-therapie dazu, sich symbolisch zu reinigen oder zu befreien oder Verbindungen mit Anderen zu erfahren.

Therapie-Phasen in der Borderline-Behandlung

Stabilisierung

Es ist absolut notwendig, äußere Sicherheit für den Patienten zu gewährleisten. Die körperliche Integrität und Unverletzbarkeit seiner Grenzen muss angesprochen werden. Es ist zu Beginn der Therapie unbedingt zu erfragen, ob die Grundversorgung (Wohnen, Essen, Schlafen, Körperpflege) gewährleistet ist.Nicht selten muss ad hoc dafür gesorgt werden, dass kein weiterer, insbesondere kein körperlicher Kontakt mit Tätern erfolgt.

Die funktionierenden erwachsenen Anteile des Patienten, gerade bezüglich der Körperfürsorge und der aktiven Alltagsbewältigung, sind zu stärken. Stabilisierungstechniken werden je nach Kenntnis und Vorlieben der Patienten ressourcenzentriert eingesetzt. Märchen, Mythen und Rituale oder Imaginationen verhelfen dazu, innere neue und gute Bilder zu finden. Auf Sport, Natur, Tiere, Blumen, Düfte und andere sensorische Stimulanzien wird hingewiesen und deren Bedeutung für den Körper erklärt (Reddemann 2001; Wöller 2006).

Externalisierung

Es ist notwendig, möglichst schnell eine innere Distanzierung zu belastendem Material und einen therapeutischen Kontakt herzustellen. Innere, meist bedrohlich erlebte Zustände, Befindlichkeiten und Körper-empfindungen müssen in eine Gestalt gebracht werden. Es geht im Kern darum, alle Gefühle, die häufig nicht differenziert voneinander wahrgenommen werden können, wie Angst, Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Hass, Ekel, also sowohl die Opfer-Selbst-Zustände als auch die Täter-Introjekte, nach außen zu bringen, damit ein Gegenüber dazu Stellung nehmen kann und die inneren Kampfszenen zu äußeren Auseinandersetzungsszenen über das Erleben werden können. Das erleichtert die Mentalisierung. Diese Mechanismen liegen auch dem kindlichen Spiel zur Bewältigung belastender Erfahrungen zugrunde. Externalisierungsprozesse können durch Tänze, Bilder oder Musik unterstützt werden. Szenische Inszenierungen und sprachliche Verdichtungen in einem freien Gedicht oder Reim helfen, Ungedachtes (Bollas 1995) zu kommunizieren. Jede neu gefundene Gestalt soll dann auch verändert werden können: Neue Choreografien sollen Externalisiertes sozusagen „von hinten nach vorn“ kommen lassen, im HierundJetzt der Therapie aktualisieren. Es darf gespielt, verkleinert, vergrößert, auch beispielsweise symbolisch zerschlagen werden.

Ein durch seine Mutter häufig misshandelter Patient zerstörte in einer Therapiestunde eine Gliederpuppe. Er zertrampelte sie, riss ihr die einzelnen Glieder aus den Holzgelenken und warf die Einzelteile durch den Raum. Die externalisierte verhasste „Mutter“-Gestalt lag seitdem im Schrank in einer Kiste und wurde, in Begleitung der Therapeutin, in einer der Folgestunden „entsorgt“ und im Müllcontainer auf der Straße deponiert. Das verhasste Introjekt wurde im Schutz der Therapie ausgelagert, der Patient nahm kurz darauf erste vorsichtige Kontakte zu Frauen auf, was er sich bis dahin nicht hatte vorstellen können. Er hatte nicht an glückliche Beziehungen zu Frauen glauben wollen.

Eine andere Patientin schrieb der lange verstorbenen Mutter einen Brief, in dem sie sie zur Rechenschaft zog, denn die Mutter hatte sie nicht vor dem Onkel geschützt, der sich jahrelang an ihr vergangen hatte. Sie fuhr vierhundert Kilometer weit zum Grab der Mutter und vergrub dort den Brief. Dies war in einer tanztherapeutischen Stunde durch ein tänzerisches Ritual vorbereitet und eingehend besprochen worden. Dieses Ritual verhalf ihr dazu, sich von bösen Anschuldigungen zu befreien, die sie häufig in der Übertragung anderen Frauen, auch der Therapeutin, zugedacht hatte. Die Patientin konnte danach anderen Frauen weniger misstrauisch begegnen.

Experimentieren

Mithilfe von strukturierten Tänzen oder geleiteten Tanz- und Bewegungsimprovisationen können Anregungen gegeben werden, um Regressionen in eingefahrene Trauma-States zu stoppen. Eine Patientin berichtete von quälenden Rückzugstendenzen. Gemeinschaftserlebnisse in angeleiteten meditativen Tänzen wie „Ich kann kommen, wie ich bin“ oder „Sonnentanz“ (Trautmann-Voigt 2007) halfen ihr, Bewegung und Kommunikation in einer Gemeinschaft allmählich wieder zuzulassen.

Durch Experimente, Übungen und Wahrnehmungserlebnisse, die den Körperausdruck integrieren, können Aspekte einer guten Beelterung nacherlebt werden. Gleichzeitig regen beispielsweise aktivierende Paarübungen, in denen Rollenwechsel stattfinden, das „Selbst-Coaching“ der Patienten an. Besonders geeignet sind Übungen aus den Themenkreisen „Geben und Nehmen“ und „Führen und Folgen“ (vgl. Übungskatalog in Trautmann-Voigt u. Voigt 2009).

Konfrontation

Konfrontationen mit überflutendem Erleben mithilfe von Körpertherapie halten wir persönlich für wenig effektiv. Hier haben sich Traumaexpositionsmethoden wie „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“ (EMDR) als dosierte und gut dosierbare Möglichkeiten der Traumasynthese und Traumaintegration klinisch bewährt und sind in ihrer Wirksamkeit empirisch belegt (zur Integration von Körpertherapie und Körper-psychotherapie mit EMDR s. Trautmann-Voigt und Voigt 2007b).

Wichtig ist, dass bei jeder Konfrontation, ganz gleich ob durch EMDR oder andere Techniken, gleichzeitig eine Ressourcenaktivierung und eine konkrete Tröstung im therapeutischen HierundJetzt zusammen mit der Konfrontation erfolgt, sonst kommt es leicht zu einer Retraumatisierung (vgl. Sachsse 2004). Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass Levine (1998) auf der Basis bioenergetischer Theorien eine sehr behutsame körpertherapeutische Traumakonfrontationsmethode zur Abreaktion entwickelt hat. Wir arbeiten nicht mit diesen Techniken, weil sie nach unserer Erfahrung schwer dosierbar sind. Sehr differenzierte Erfahrungen liegen mit der Konzentrativen Bewegungstherapie (KBT) vor (Schmitz 2004), die mit unserem Vorgehen viele Gemeinsamkeiten hat.

Kognitive Umstrukturierung und Neugestaltung von belastenden Erfahrungen durch positive Körpererfahrungen

Eine Arbeit an den negativen Kognitionen von Borderline-Patienten erfolgt im Zusammenhang mit der Differen-zierung der bislang verinnerlichten sensomotorischen Qualitäten. Wird beispielsweise das Gleichgewicht als gestört erlebt, so hängt damit meist folgende innere Überzeugung eng zusammen: „Ich habe keine Kontrolle.“ Unsicheres Gravitationsverhalten deutet oft auf das Grundthema Sicherheit und Überleben hin, dessen positive Integration verhindert wurde. Bei Hyper- oder Hypotaktilität handelt es sich meist um Störungen der Tiefensensibilität oder der Bewegungsorganisation. Häufig werden damit Grundüberzeugungen folgender Art verknüpft: „Ich kann mich nicht schützen“ oder „Ich bin in Gefahr“.

Auch hier handelt es sich um Kognitionen, die das grundsätzliche Sicherheitsgefühl tangieren. Bei Störungen des Körperschemas, des Körperbildes und der Körperkoordination, des visuellen Selbstsystems und bei häufigen Schattenbewegungen bzw. unbewussten Mitbewegungen ist oft das Grundthema des Selbstwerts berührt: „Ich bin schwach“, „Ich muss perfekt sein“, „Ich bin nicht liebenswert“ sind damit verknüpfte unbewusste Leit-vorstellungen. Durch verbale Begleitung von Körperbewegungen und Interaktionen in der Körpertherapie seitens des Therapeuten können kognitive Selbstzuschreibungen, die mit negativen Bewertungen assoziiert sind, konfrontiert werden. Neue Bewegungsgestaltungen können in ihrem therapeutischen Kontext neu definiert und in ihrer Verknüpfung mit Vergangenem und zukünftig Geplantem anders eingeordnet werden.

Fazit

Die Ergebnisse der Neurophysiologie zur Vernetzung, Plastizität und Notwendigkeit des wachen Bewusstseins zum Lernen von Neuem werden nach unserer Überzeugung den Stellenwert von Körpertherapie und Körperpsychotherapie für jede Form der Psychotherapie in den nächsten Jahren erheblich verändern. Wenn sich die Ergebnisse von Damasio (2000) als stabil erweisen, bedeutet dies, dass jede Veränderung in einer Psychotherapie immer auch in einer körperlichen Veränderung fundiert sein muss.

Darum sollten aktiv auch körpertherapeutische Interventionen in die Psychotherapie mit Borderline-Patienten einbezogen werden (Trautmann-Voigt u, Voigt 1997, 1999, 2007a).

Aufmerksamkeitsfokussierungen auf immer mitaktivierte neuronale Netzwerke der subkortikalen Zentren, also auf sensorische und motorische, nicht-bewusste Aktivitäten des Gehirns, stören jegliche automatisch-stereotyp ablaufenden Muster, auch die immer gleich ablaufenden affektiv verkoppelten kommunikativen Handlungs-muster bei Borderline-Patienten. So lassen sich die folgenden übergeordneten Therapie-Prinzipien für körpertherapeutische Interventionen differenzieren:

 

Sensibilisierung des Körperbewusstseins und der Selbstwahrnehmung

  • kleines Selbstbild malen
  • strukturierte Wahrnehmungsübungen in Bewegung
  • Übungen zu den Bewegungspolaritäten (z. B. eng und weit, schnell und langsam, kraftvoll und zart)

Initiierung der Körperselbstkontrolle

  • funktionale Übungen (beugen, strecken, drehen, lockern, dehnen, kräftigen)
  • Zentrierungsübungen
  • Übungen zum Einsatz der eigenen Kraft
  • selbstbestimmte Bewegungen (Selbstwirksamkeit)

Stabilisierung der Körpergrenzen

  • Stimulierung der Haut über Medien
  • Erfahrung von Raumgrenzen
  • Symbolisierung von Raumgrenzen
  • Erspüren von (Körper-)Grenzen über Maximierung und Minimierung von Bewegungen

Anregung des Zugangs zu Körperempfindungen und Körpergefühlen

  • Übungen zur Spannung und Entspannung
  • Wahrnehmungsfokussierung auf Atmung, Puls, Primärbedürfnisse
  • Erfahrungen mit Aktivität und Passivität, Ruhe und Bewegung

Ermöglichung von Körper- und Bewegungsausdruck

  • Haltungen zu Befindlichkeiten einnehmen
  • unterschiedliche Affekte darstellen
  • angeleitete Improvisationen
  • Einsatz kreativer Medien und künstlerischer Ausdrucksmittel

Vitalisierung und Reintegration dissoziierter Körperteile

  • Übungen zu ganzheitlicher und isolierter Bewegung
  • Tanz mit verschiedenen Körperteilen und deren Verbindungen
  • Arbeit mit Impulsen

Angstfreies Erleben von Körperkontakt

  • Intra- und interpersonale Berührung (z. B. in meditativen Tänzen)
  • Halteübungen
  • Nähe-Distanz-Erfahrungen
  • Verlässlichkeit bei abgesprochenen Berührungen
  • Erhaltung der „Wehrhaftigkeit“ und der „Selbstbestimmung“ zu jeder Zeit sowie der Erlaubnis, „zu gehen“ in auszuhandelnder Form

Tab. 1 Techniken in der Körperpsychotherapie mit Borderline-Patienten zur verbesserten Wahrnehmung


Autoren

Dr. phil. Trautmann-Voigt, Sabine, Psychologische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Tanztherapeutin (ADTR, USA), Psychotraumatologie / EMDR, tätig in eigener Praxis in Bonn. Leitung des Deutschen Instituts für tiefenpsychologische Tanztherapie undAusdruckstherapie (DITAT e.V.) und Geschäftsführung der Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie (KBAP), Herausgeberin der "Zeitschrift für Tanztherapie", Präsidiumsmitglied der DFT, Bonn.

Dr. med. Voigt, Bernd, Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, praktischer Arzt, Leitung des Medizinischen Versorgungszentrum für Psychosomatik, Psychotherapie und Psychiatrie MVZPPP in Bonn, Weiterbildung in analytischer Tanz- und Bewegungstherapie (USA, E. Siegel), Körperpsychotherapie, Psychotraumatologie / EMDR, Gruppenanalyse, Supervision und verschiedene Lehrtätigkeiten, Ärztlicher Leiter der Köln-Bonner Akademie fürPsychotherapie (KBAP und KBAV), u.a. Mitglied in DKPM, DGPM ,EMDRIA, DeGPT, DFT, Bonn.

Korrespondenz

KBAP Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie GmbH, Wenzelgasse 35, 53111 Bonn, Tel: 0228 9638134 (Sprechzeiten: Mo., Di. & Do. 12:00 - 14:00), Fax: 0228 9638116, Email:info@kbap.de, Homepage: www.kbap.de

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