Rezension

Oskar Frischenschlager

Peer Arndt, Nathali Klingen: „Psychosomatik und Psychotherapie“

(Thieme Verlag) Stuttgart, New York, 2010, 226 Seiten im Format A6 (Reihe Memorix), € 41,10

Ja, das ist also wieder ein Versuch, auf knappstem Raum die beiden Fachgebiete Psychosomatik und Psychotherapie umfassend und dem aktuellen Stand des Wissens entsprechend darzustellen. Und diesmal auch noch in einem ungewöhnlichen Format, 11 mal 15 cm, also etwa A6 und damit wirklich als Taschenbuch zu bezeichnen.

Michael Ermann fragt in seinem Geleit: „All das gesammelt und in knappe, anschauliche Übersichten und Tabellen transformiert zu haben, stellt ein ungewöhnliches Verdienst dar. Ob dieses Konzept seinen Zweck für den tätigen Psychotherapeuten erfüllt – oder ob dieser sich nicht doch lieber in literarische Texte vertieft, das muss die Praxis zeigen“. Selbstverständlich, dieses „oder“ bleibt jedem und jeder überlassen; aber ich plädiere hier für ein „und“. Das kleinformatige Büchlein kann natürlich nicht die Vertiefung in entsprechende Texte ersetzen, das will es auch keinesfalls. Aber was es auf erstaunlich hohem Niveau leistet, ist nichtsdestotrotz bemerkenswert. Einerseits eine fachübergreifende Einführung in die Grundlagen, die andererseits doch erstaunlich komplett ist. Psychoanalytische Grundbegriffe stehen hier gleichberechtigt neben verhaltenstheoretischen. Anders die Grundlagen heute darzustellen, wäre anachronistisch.

Um zu zeigen, wie umfassend die Darstellungen durchwegs sind, möchte ich am Beispiel des Kapitels Diagnostik ein wenig ins Detail gehen. Das Kapitel beginnt mit „Entwicklungs- und Strukturdiagnostik“, es werden Strukturniveaus (nieder, mittel, hoch) tabellarisch mit Kriterien der Deskription verknüpft. So werden z.B. als „zentrale Entwicklungsthemen“ auf niederem Strukturniveau Existenz, Urvertrauen, Geborgenheit, Sicherheit, Bindung genannt, auf mittlerem Niveau Autonomie vs Abhängigkeit und Selbstachtung, auf höherem Niveau u.a. Exhibitionismus, Sexualität, Rivalität. Dasselbe für „zentrale Ängste“, die „Abwehr“, den „Gedächtnistyp“, die „Beziehung“ und eine Reihe anderer Kriterien.

Der zweite Abschnitt des Kapitels ist der „psychodynamischen Diagnostik“ gewidmet, unterteilt in das „psychoanalytische Erstinterview“, das „strukturelle Interview“ und die OPD (operationale psychodynamische Diagnostik). Da, wie auch sonst, gelingt das Kunststück der vollständigen Darstellung auf knappstem Raum. Die OPD wird in Grundzügen auf zweieinviertel Seiten dargestellt und man versteht, worum es geht und wie sie aufgebaut ist. Weitere Unterabschnitte sind der „Verhaltensdiagnostik“ gewidmet, der „standardisierten klinischen Diagnostik“. Im Unterabschnitt „psychodiagnostische Testverfahren“ werden jeweils zwei bis vier der etablierten Testverfahren für die Diagnostik verschiedener Bereiche (Intelligenz, Kognition, affektive Störungen, Angst, etc.) samt Eckdaten übersichtlich aufgelistet, und schließlich wird im letzten Unterabschnitt die sozialmedizinische Diagnostik und Begutachtung behandelt. Das diagnostische Kapitel umfasst insgesamt 18 Seiten, woraus man die Knappheit der Darstellung ableiten kann. Das ist allerdings nur bei gleichzeitiger exzellenter Übersichtlichkeit zu schaffen, und diese soll hier lobend hervorgehoben werden.

Das weitaus umfangreichste Kapitel ist natürlich den Krankheitsbildern gewidmet; auch hier ist wieder die Vollständigkeit bei gleichzeitiger Übersichtlichkeit positiv hervorzuheben. Die hier attestierte Vollständigkeit ist aber nicht nur taxativ gemeint, sondern bezieht sich auch auf die konzeptionellen backgrounds. So wird bei den Essstörungen gleich das verhaltenstherapeutische Störungsmodell mitreferiert, bei der somatoformen Schmerzstörung psychodynamische Aspekte; erfreulich übrigens, dass Essstörungen dort angesiedelt sind, wo sie hingehören, bei den Verhaltensstörungen und nicht wie jahrzehntelang als Teilbereich der Psychosomatik.

Besonders verdienstvoll erscheint mir persönlich die Übersicht über die therapeutischen Ansätze und Methoden, da wird alles und werden alle angeführt, die sich jemals Verdienste erworben haben, Ringels präsuizidales Syndrom von 1953, Schindlers Gruppenpositionen von 1957, natürlich Kernbergs übertragungsfokussierte Borderline Therapie, aber auch Fonagys am Mentalisierungskonzept orientierter Ansatz, um nur einige wenige zu erwähnen. Das kenne ich so nicht, weder in der Breite noch in der Vollständigkeit. Keine Rezension ohne wenigstens kleine Kritik? Na gut, dann soll es die Kleinheitskritik sein, das Format verlangte mir ab, meine Brillen aufzusetzen, die ich sonst nur selten verwende.