Rezension

Peter Geissler

Schindler, P. (2011) (Hrsg.): „Am Anfang des Lebens“

Neue körperpsychotherapeutische Erkenntnisse über unsere frühesten Prägungen durch Schwangerschaft und Geburt.

Körper und Seele Band 7, 277 S., Schwabe (Basel), Euro 38,50

Die prä- und perinatale Psychologie mit ihrem Ursprung innerhalb des psychoanalytischen Denkens im Jahr 1924 (Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse) gewinnt innerhalb der letzten Jahre, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Traumaforschung, der Neurowissenschaften und der „Neuen Biologie“, zunehmend an Bedeutung. Es scheint durchaus plausibel, dass – wie der Herausgeber dieses Bandes in seinem Vorwort schreibt – „unser Neurosystem und damit sehr wahrscheinlich auch unser emotionales und geistiges Erleben… schon in der allerersten Entwicklungszeit der Schwangerschaft wesentlich geprägt (wird) und… in dieser Zeit bis und mit der Geburt seine tiefsten Engramme und Vernetzungen (erhält)“ (S. 7). Ebenso stimmig mutet seine Schlussfolgerung an: „Je sensibler ein biologisches System ist, desto größer ist seine Anfälligkeit auf Trauma und Stress und desto tiefer sind seine Prägungen durch traumatische Erfahrungen.“ Daraus folge, so Schindler, „dass wir in diesem Zeitraum so viele lebensbedrohliche und existenzielle Erfahrungen durchmachen wie später nie mehr im Leben. Nur etwa 40% der befruchteten Embryonen überleben die Schwangerschaft und Geburt schlussendlich.“ (S. 8). Und konsequenterweise gehe es daher in der körperpsychotherapeutischen Arbeit darum, „die im prozeduralen Körpergedächtnis gespeicherten Erinnerungen in unser deklaratives Bild- und Sprachgedächtnis zu bringen und so der Verarbeitung zugänglich zu machen“ (S. 9).

In den „Neuen Biologie“ – einer der federführenden Köpfe ist hier der im Buch mehrfach erwähnte Bruce Lipton – geht man mittlerweile von intelligenten Zellen aus, die in der Lage sind, durch die Erfahrungen aus ihrer Umgebung zu lernen, zelluläre Erinnerungen zu speichern und diese an ihre Nachkommen weiterzugeben. Epigenetische Mechanismen und die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen haben in der Evolution des Lebens eine sehr lange Vorgeschichte. Denn auch dem Zusammenschluss von Einzelzellen zu Zellverbänden vor etwa 750 Millionen Jahren wird laut der „Neuen Biologie“ ein intelligenter Mechanismus zugrunde gelegt, indem dieser Mechanismus einen evolutionären Vorteil brachte. Unser vertrautes klassifizierendes Denken gerät noch mehr in Unordnung angesichts der mittlerweile erwiesenen Tatsache, dass verschiedene Pflanzen- und Tierarten ihre Gene austauschen. Dieser Gen-Transfer beschleunigte die Evolution dadurch, dass verschiedene Arten untereinander „erlernte Erfahrungen“ austauschen konnten. Die Folge davon ist, dass einzelne Arten und Organismen nicht mehr als völlig voneinander getrennte Wesen betrachtet werden können und dass damit eine Trennung der Arten überhaupt nur noch schwer möglich ist. Lässt man all diese neuen und zunächst schwer vorstellbaren Befunde auf sich wirken, hat man den Eindruck, dass sich das neue relationale Paradigma, das innerhalb der modernen Psychoanalyse zunehmend an Einfluss gewinnt, genauso in der „Neuen Biologie“ wiederfindet.

Dieser Exkurs in die „Neue Biologie“ scheint mir wichtig zu sein, weil eine der Grundaussagen zu sein scheint – und zu solchen Schlussfolgerungen gelangt Bruce Lipton –, dass wir zusätzlich zur körperlichen Ebene, die Körperpsychotherapeuten oftmals als der Sitz einer tieferen „Wahrheit“ erscheint, unbedingt eine weitere Ebene hinzudenken müssen, an die man mit Hilfe der Sprache oftmals nicht oder zumindest nur sehr schwer herankommen kann: eine immaterielle, geistige, psychische, mentale, „energetische“ Ebene. Für Psychoanalytiker ist es die Ebene der Vorstellung, der unbewussten Fantasie. Diese energetische Ebene bewirkt auch beim Säugling maßgeblich, wie sich körperliche Prozesse entfalten, einfach deswegen, weil diese immaterielle Ebene ununterbrochen gestaltend, sogar formbildend wirkt. Wir sind dabei unwillkürlich an die uns aus dem Physikunterricht vertrauten Cladny´schen Klangfiguren erinnert – Formbildungen, die durch akustische Schwingungen ausgelöst werden – für die es bis zum heutigen Tage meines Wissens keine eindeutige physikalische Erklärung gibt. Man kann jedoch annehmen, dass ebenso den sehr erstaunlichen bis merkwürdigen Formbildungsprozessen im Zuge der Embryogenese schwingungsanaloge Mechanismen zugrunde liegen. „Die Welt ist Klang“, also Schwingung, zu diesem Schluss kommen nicht nur manche Wissenschaftler, sondern auch Mystiker. Und die Welt der klanglich vermittelten kommunikativen Botschaften – man denke an die vielen unartikulierten Laute, die wir als Psychotherapeuten immer wieder von uns geben und die eine starke atmosphärisierende Wirkung besitzen – erschließt sich uns in unserer visuellen Fixiertheit erst ganz allmählich.

Dabei ist quantenphysikalisch gesehen mittlerweile vollkommen klar, dass diese immaterielle Ebene eine „eigentliche“ Realität darstellt, und dass Materielles eben immer nur potenziellen Charakter haben kann (vgl. dazu Hans-Peter Dürr). Der Körper ist wie eine Schallplatte: ein Tonträger. Er speichert zwar die „Musik“, aber ist nicht identisch mit ihr, und um Musik zum Hören zu bringen, muss es mehr geben als die Schallplatte! Musiker sagen interessanterweise recht oft: Die Musik ist „da draußen“ (sie meinen damit den Kosmos), und sie ist „immer schon da“, und die Kunst des Musikers besteht darin, „das da draußen“ und immer schon Da-Seiende in Spiel- und Hörbares zu transformieren. Unsere Schwierigkeit, eine solche immaterielle Ebene anzuerkennen, ist angesichts unserer naturwissenschaftlich geprägten Denktradition nur zu verständlich.

In solche Bereiche führt der Sammelband von Peter Schindler hinein, und darin sehe ich eine der wichtigen Botschaften des Buches. Nicht zufällig weist er auf die moderne Bewusstseinsforschung hin (S. 11), indem er zwei grundsätzlich unterschiedliche Sichtweisen herausstreicht: 1. Ohne ein menschliches Gehirn gibt es kein Bewusstsein, d. h. ein komplex organisiertes Nervensystem schafft Bewusstsein. 2. Es gibt eine Ebene, die man Bewusstsein nennen könnte, bereits unabhängig von komplexen Nervensystemen. Aus dieser Sicht heraus ist das Gehirn wie eine Art Fernsehapparat, der Bewusstseinserfahrungen sichtbar macht; Bewusstsein kann aber genauso wie ein Fernsehprogramm auch ohne den Fernsehapparat existieren. Diese ist eine sehr andere Sicht von Bewusstsein und überhaupt Wirklichkeit, und – eine der Kernthesen des Buches – die prä- und perinatalen Erfahrungen von Patienten im Zustand tiefster Regression sprechen für die zweite These!

Das Studium der einzelnen Beiträge des Buches hat in mir eine Ambivalenz hinterlassen: einerseits hege ich durchaus einige Sympathie für diese zweite These, die im Übrigen auch sog. parapsychologischen Phänomenen wie Telepathie eine gewisse Plausibilität einräumt. Und ebenso einnehmend fand ich einzelne im Buch von verschiedenen Autoren vorgestellte Fallberichte, in denen man ein großes Maß an fachlicher Kompetenz spüren konnte. Die klinischen Erfahrungen im Zuge prä- und perinataler Regressionszustände bei Babys, Kindern, jugendlichen und erwachsenen Patienten beeindrucken und sind durchaus glaubwürdig. D. h. die behandlungstechnische Praxis kann sich sehen lassen, und diesbezüglich sind verschiedene vorgestellte Beiträge – einige davon von höchst erfahrenen Kolleginnen und Kollegen verfasst – ausgesprochen wertvoll.

Auf der anderen Seite steht ein gewisses Unbehagen angesichts theoretischer Schlussfolgerungen, die mir etwas vorschnell erscheinen, wie z. B. jene in Terrys Beitrag über die Spermienreise. Natürlich könnte mir hier mein naturwissenschaftlich-kritischer Verstand im Wege sein, und ich möchte das nicht einmal ganz ausschließen, doch spreche ich ein Gefühl an, ein gewisses Unbehagen angesichts von Vergleichen, die er beispielsweise zwischen dem unterstellten Erleben von Spermienzellen und erwachsenen Menschen zieht. Bei aller Sympathie für die biologischen Befunde von Bruce Lipton würde ich doch zwischen Intelligenz und Bewusstsein unterscheiden wollen – erstere würde ich den Spermienzellen zusprechen, zweiteres erwachsenen Menschen. Andererseits, sagt eine andere Stimme in mir, muss die bereits thematisierte Frage, wie wir Bewusstsein generell verstehen, zumindest offen bleiben. Vielleicht stört mich einfach die in körperpsychotherapeutischen Publikationen verbreitete Tendenz, zwischen Behauptungen und einigermaßen als erwiesen geltenden Tatsachen nicht klar zu unterscheiden, mit dem Effekt, dass einzelne Passagen des Buches spekulativ und mystifizierend anmuten.

Fairerweise ist jedoch anzumerken, dass sich auch die analytische Körperpsychotherapie derzeit in folgender Schwierigkeit befindet, die meiner Kritik am Schindler-Buch durchaus ähnlich ist: Auf der Ebene der therapeutischen Praxis gelingt es uns meistens, aufgrund der persönlichen Logik und Herangehensweise des jeweiligen Kollegen zu sagen: Ja, so kann man das machen! Man muss es nicht so machen, aber man kann es so machen! Mit anderen Worten, die Ebene der therapeutischen Praxis ist relativ konsensfähig, auf dieser Ebene haben wir nicht allzu große Probleme. Viel schwieriger erscheint hingegen die theoretische Verständigung und Einordnung.

Dass unser Verhältnis zur vorgeburtlichen Mutter neu betrachtet werden muss und unsere vorgeburtliche Beziehung lebensgeschichtlich der Ausgangspunkt für unsere spätere Lebenserfahrung ist, und dass hier vielleicht der elementarste Kern unseres Unbewussten liegt, scheint mir klar zu sein; dass jede Geburt nicht nur Weltgewinn, sondern auch Weltverlust ist, ebenso. Im Hinblick auf die Ziele von Psychotherapie und einen vom Patienten und vom Therapeuten als befriedigend erlebten Therapieabschluss schimmert als Essenz dieses Buches für mich durch: Psychotherapie ist nicht nur der Verzicht im Hinblick auf infantile Befriedigungsmöglichkeiten; auch nicht nur Einsichtsgewinn, und möglicherweise auch nicht nur eine korrektive Neuerfahrung, sondern vielleicht auch das In-Berührung-Kommen-Können mit einer Erfahrungsdimension, die man spirituell nennen könnte und die sich in einem gewissen Maße dann erschließen kann, wenn der Psychotherapeut dafür offen ist. Die Lektüre des Buches regt an, darüber nachzudenken.

Korrespondenz

Dr. med. Dr. phil. Peter Geißler

A-2301 Neu-Oberhausen

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