Rezension
Lore Korbei
Walch, Sylvester: „Vom Ego zum Selbst“
Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
2011 München, O.W. Barth Verlag (Verlagsgruppe Droemer Knaur), ca. € 20,-
Vorneweg: Ich gehöre zu den „SkeptikerInnen“, was die Vereinbarkeit von Psychotherapie und „spiritueller Begleitung“ betrifft – glaube aber an einen möglichen und vielleicht auch notwendigen Dialog, der sich ja auch allerorten auftut. Aus diesem Grund habe ich mit Freuden das Angebot zur Rezension des, so weit ich weiß, dritten Buches von Sylvester Walch „Vom Ego zum Selbst – Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes“ wahrgenommen.
Der Autor ist „den Alten“ unter uns Klientenzentrierten gut bekannt – da gab es noch Fortbildungen, die Sylvester in den späten 80er Jahren für die ÖGWG angeboten hat. Schon damals war aber auch klar, dass er seinen Schwerpunkt in der Transpersonalen Psychotherapie und im Holotropen Atmen gefunden hatte. Jetzt, als knapp über 60-Jähriger, ist er selbstverständlich ein profunder Kenner der Materie, der sowohl in der praktischen Arbeit als auch theoretisch (cf. seine rege Lektorentätigkeit) sein Wissen weitergegeben hat.
Schon im Vorwort weist der Autor auf die Unvollkommenheit und Verletzlichkeit des Menschen hin – sich selbst nimmt er dabei nicht aus; sowie auf die Heilsamkeit der Innenschau, das auch „Für-kurze-Zeit-in-sich-zu-Gehen“ (schade, dass Gendlin hier nicht erwähnt wird!). Das stellt sich als Prélude für viele der Anleitungen zur Introspektion, zur Selbstreflexion, zu meditativen Übungen, die das Buch durchziehen, heraus. Dabei ist mir wieder eine der Schwachstellen der Personzentrierten Psychotherapie eingefallen – wo das „Üben“, das „Einüben“, so gar keinen Platz bekommt.
Nun hat ein Buch mit Übungsanleitungen zur Erforschung innerer Vorgänge den Nachteil, dass die spirituelle/psychotherapeutische Begleitung fehlt – eben der „relevant other“ – , und manche der vorgeschlagenen Introspektions-Anleitungen stelle ich mir alleine – auf mich gestellt – schwierig vor. Das Schöne für mich ist, dass Vieles einfach eine Bestandsaufnahme, ein Status Quo, ist, der erfasst wird und nicht gleich retouchiert, sondern im besten Sinn ein „Es ist, was es ist“, das eben dann die Veränderung mit sich bringen kann.
Die Einleitung zeigt drei Perspektiven auf: „die Auflösung einengender Lebensmuster, die transformative Kraft veränderter Bewusstseinszustände und die Weisheit spiritueller Einsichten“. Die Auflösung eingrenzender Lebensmuster würde ich als den primordialen Bereich der Psychotherapie sehen, sowie die Arbeit mit kranken Menschen – eben den Verletzten, Verstörten – eh schon Verwirrten, die nicht mit einem gefestigten Ich ins und durchs Leben gehen. Deren Antwort auf traumatisierendes Erleben, bzw. auf Nicht-Gehört, Nicht-Verstanden-worden-Sein in einem aufgeblähtem Ego oder einer Selbstwertproblematik resultiert, wo, so denke ich auch nach der Lektüre des Buches, eher Psychotherapie angesagt ist, „um beide Füße auf die Erde zu stellen“. Schizophrenie und Borderline sind übrigens eigene Sub-Kapitel gewidmet.
Der spirituelle Weg benötigt ein funktionierendes Ich (S. 91) und da finde ich auch den Autor nicht eindeutig: teilweise plädiert er für eine Ergänzung der spirituellen Wege durch Psychotherapie, teilweise ist der spirituelle Weg als Ersatz gedacht – sieht er doch auch in dem Begehen des spirituellen Weges eine emanzipatorische Funktion. Für den Rest der Selbst-Erfahrenden sind diese veränderten Bewusstseinszustände sicherlich erweiternd und können zu spirituellen Einsichten führen. Schwierig wird es für mich, der Argumentation „Alles ist zum Besten“ zu folgen – das scheint mir mehr ein Glaubenssatz, der angesichts von Flüchtlings- oder MigrantInnen Schicksalen beinahe zynisch anmutet. Dankenswerter Weise verwehrt sich Sylvester Walch gegen die klassischen Schuldzuweisungen bei Krebserkrankungen als Folgen einer „Selbstverschuldung“ in diesem oder einem vorangegangenem Leben.
Das 1. Kapitel beginnt mit „der Weisheit von Innen“, der Introspektion, wobei der Autor hier die Hilfe eines Therapeuten bzw. die Begleitung durch einen spirituellen Helfer gleichsetzt. Die Problematik des kartesianischen Weltbildes ist kurz und gut geschildert, sowie auch die Problematik einer hauptsächlich quantitativen wissenschaftlichen Psychologie der Statistiken und „toten Experimente“. Auch die Warnung vor schlechten Einflüssen im spirituellen Bereich greift nicht zu kurz: vor falschen Gurus und schädlichem Sektentreiben.
Immer wieder werden Geduld, Ausdauer und Disziplin als Tugenden genannt, die zum Loslassen und auch über Selbstmitleid zu einem liebevollen Umgang mit sich selbst und Anderen führen. Als erfahrener Psychotherapeut weiß Walch um die Tücken der Abwehrformen, der Übertragung, der kulturellen Einbettungen – sowie um die genetische Ausstattung.
Der 2. Schritt des Stirb und Werde wird von spirituellen Lehrern zu begleiten sein – und hier wird die Nahtodforschung erwähnt.
Das nächste Kapitel ist dem Sterben des Egos gewidmet, wo der Autor fundiert zwischen Ich und Ego unterscheidet mit der Kernfrage: „Kann ein gesundes Ich wirklich ein Hindernis auf dem spirituellen Weg sein?“ Der Fragenkatalog zum Ego ist spannend zu lesen und psychotherapeutisch im besten Sinn. Auch trägt der Gedanke, dass aus unintegrierten Schattenaspekten, also jenen Eigenschaften, die wir ablehnen, Ego-Anteile geformt werden, viel psychotherapeutisches Projektionswissen in sich. Eine schöne Zusammenfassung ist auch der Auseinandersetzung mit den „Ego-Komplexen“ Neid, Macht und Missachtung der Würde anderer Menschen gewidmet. Die darauf folgenden Übungen zur Ego-Transformation sowie das Kapitel „Das Ego im spirituellen Gewand“ gehören zu meinen Lieblingssequenzen – wo ich an viele unauthentische, große und hohle Worte von mir und Anderen denken musste.
Das Selbst ist im Kapitel 4 beschrieben – vom individuellen zum befreiten, zum universalen Selbst. Der Unterschied zwischen Selbst und Ich ist mir da nicht so klar geworden. Jedenfalls das Selbst als Schnittstelle zwischen persönlicher Entfaltung und Selbstverwirklichung.
Das letzte Drittel des Buches ist dem weiteren spirituellen Weg gewidmet – Kundalini spielt hier eine hervorragende Rolle. Der Autor beschreibt hier auch seine persönliche „Berufung“.
Die Grundfrage, die für mich nach der Lektüre des Buches bleibt, ist, inwiefern der erfahrene spirituelle Begleiter Walch nicht auf seine fundierten Psychotherapiekenntnisse zurückgreift (z.B. beim szenischen Erfassen oder bei dem Erspüren des Unterschiedes zwischen strukturgebundenem und organismischem Erleben) und auch dadurch „präsent“ wird im besten Rogerianischen Sinne.
Trotzdem oder gerade deshalb ein lesenswertes Buch mit vielen valablen Anregungen für die Selbst-Exploration und als Anstoßen eines „Felt Sense“, der noch nicht da ist.