Originalarbeit (Kurzfassung)
Vamik D. Volkan
Nicht endende Trauer und ihre Folgen
Dieser Artikel befasst sich mit der Beobachtung, dass Trauer nie endet, sogar dann nicht, wenn sie durch andere geistige Aktivitäten absorbiert wird. Diese Aktivitäten können von den Individuen selbst oder von ihren Therapeuten, falls sie Hilfe suchen, als gut oder schlecht angepasst beurteilt werden. Wir „töten“ die psychische Repräsentanz einer für uns bedeutungsvollen Person oder Sache nie, bis wir sterben. Der Artikel diskutiert auch ein verwandtes Gebiet und verweist auf die Generationen übergreifende Übertragung der psychischen Repräsentanz einer verstorbenen Person oder einer verlorenen Sache in die sich entwickelnde Selbst-Repräsentanz eines Neugeborenen. Übertragen auf das Neugeborene wird auch das Bild des chronisch Trauernden (perennial mourner) mit den dazu gehörigen Anforderungen an das Ich. Es wird auch kurz die Beziehung zwischen der Generationen übergreifenden Übertragung von Bildern und Aufgaben – verbunden durch Verluste – untersucht, die geteilt werden von Mitgliedern einer Gesellschaft. Behandelt wird ebenfalls das Thema der gesellschaftlichen Trauer und ihrer politischen Konsequenzen.
Freud und viele Psychoanalytiker, die ihm folgten, meinten, dass eine intensive innere Beziehung mit Bildern der verlorenen Person oder Sache, die den „normalen“ Trauerprozess konstituiert, ein Zeitlimit hat: Der Trauerprozess endet, wenn der Trauernde seine oder ihre psychische Besetzung von der Repräsentanz des verlorenen Objekts zurückzieht. Jedoch werden einige Individuen nach einem bedeutungsvollen Verlust zu „chronisch Trauernden“. Diese Trauernden bewahren die Objekt-Repräsentanz der verlorenen Person oder Sache innerhalb ihrer Selbst-Repräsentanz auf, und zwar als spezifischen und nicht-assimilierten „Fremdkörper“, der ihre Selbst-Repräsentanz sehr stark beeinflusst.
Einen „Fremdkörper“ in sich selbst zu tragen, ist unangenehm. Deshalb verschieben „chronisch Trauernde“ das unassimilierte Objektbild oder die Repräsentanz der verlorenen Person oder Sache in „verbindende Objekte“ oder „verbindende Phänomene“. Ein verbindendes Objekt ist ein physisches Objekt, z.B. eine spezielle Fotografie des Toten, oder ein Brief, geschrieben von einem Soldaten, bevor er auf dem Schlachtfeld getötet worden ist. Es kann sich auch um ein Geschenk handeln, das der Verstorbene vor dem Tod dem Trauernden gemacht hat oder um ein belebtes Objekt, etwa das Lieblingstier des Verstorbenen. Das „verbindende Objekt“ symbolisiert den Ort des Zusammentreffens der psychischen Repräsentanz der verlorenen Person oder Sache und der korrespondierenden Selbst-Repräsentanz des Trauernden. Einige Individuen gebrauchen verbindende Phänomene, wie z.B. eine Melodie oder eine sich wiederholende Fantasie, um die Kontaktmöglichkeit zwischen sich und der verlorenen Person/Sache verewigen zu können. Verbindende Objekte und Phänomene sind nicht einfache Andenken.
Das Trauern ist auch verbunden mit der Generationen übergreifenden Übertragung einer Vielfalt psychischer Inhalte, die manchmal bereichernd wirken, andere Male aber auch störend. Bei der „normalen“ Trauer verspürt der Trauernde vielleicht eine Verpflichtung, den neuen Generationen zu vermitteln, was der Verstorbene über seine/ihre Welt wusste. Dies unterstützt die „Kontinuität zwischen den Generationen“ und die Stabilität der Identität zwischen den Mitgliedern neuer Generationen. In anderen Situationen kann ein „chronisch Trauernder“ ein Kind der nächsten Generation als verbindendes Objekt erfahren und in der sich entwickelnden Selbst-Repräsentanz des Kindes sowohl das Bild des verlorenen Objektes als auch das korrespondierende Bild des Trauernden deponieren. Ein Kind, das als belebtes Verbindungs-Objekt aufwächst, wird mit größter Wahrscheinlichkeit seelische Probleme bekommen. Einige Menschen mit komplizierter Trauer können ihren Kindern Aufgaben übergeben, so dass die Kinder verpflichtet werden, anstelle ihrer Eltern „normal“ zu trauern und sich mit den Verwicklungen und dem Trauma, das mit dem Verlust verbunden ist, auseinanderzusetzen. Solche „Lasten“ können auch zu psychologischen Problemen führen, wenn die Nachkommen die Aufgaben nicht in kreativer Art und Weise bewältigen können – Aufgaben, die ursprünglich nicht zu ihnen gehörten.
Gesellschaften trauern auch. Aber da Gesellschaften aus Tausenden oder Millionen Menschen bestehen, erscheint eine gemeinsam geteilte geistige Aktivität als soziale, kulturelle oder politische Bewegung. Ein Zeichen „chronischen Trauerns“, das Generationen einer Gesellschaft erfasst, ist die Entwicklung einer Anspruchs-Ideologie (entitlement ideology). Solche Ideologien sind bekannt unter Namen wie „Irredentismus“ oder „megali idea“. Einfach ausgedrückt lässt sich sagen: Sie beziehen sich auf den Wunsch, all das Land wieder zu gewinnen, das eine große ethnische, religiöse oder nationale Gruppe als „verloren“ und jetzt durch andere besetzt erachtet. Gewöhnlich werden politische Anspruchs-Ideologien mit dem verbunden, was ich „gewähltes Trauma“ nenne. Wenn Mitglieder einer Gesellschaft (einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe) durch die Hand der Feinde zu Opfern geworden sind und sie nicht imstande sind, den Verlust von Menschen, Land, Ehre und Prestige zu betrauern, weil sie traumatisiert sind, und wenn sie ihre Demütigung und ihre Hilflosigkeit nicht umkehren können, dann übertragen sie auf ihre Nachkommen die Bilder ihres verletzten Selbst und die psychologischen Aufgaben, die zu Ende geführt werden sollten, darunter die Fähigkeit zu trauern. Diese vererbten Bilder und Aufgaben beziehen sich auf dasselbe historische Ereignis, und mit dem Vorübergehen von Dekaden und Jahrhunderten verbindet die psychische Repräsentanz dieses Ereignisses alle Individuen in der großen Gruppe. Die psychische Repräsentanz eines solchen Ereignisses ist ein „gewähltes Trauma“ und es taucht auf als sehr signifikantes Kennzeichen einer Großgruppen -Identität. Das Bild z.B. der Schlacht von Kosovo verbindet das serbische Volk, und der Verlust von Konstantinopel ist für die Griechen ein Großgruppen-Kennzeichen.