Editorial
Helen Schmid Blumer
Trauer und Verlust sind Themen, die nicht zum Lebensentwurf des erfolgreichen, coolen Machertyps passen. Es sind vielmehr Themen, die gesamtgesellschaftlich immer mehr an den Rand gedrängt und deren Bewältigung vermehrt dem Einzelnen überlassen werden. Stellten früher die Religionen noch kollektive Rituale zur Verfügung, so zerbröckeln diese zusehends. Roland Barthes schreibt in seinem Trauertagebuch nach dem Tod seiner Mutter: „Toutes les sociétés sages , cependant, ont prescrit et codifié l’extériorisation du deuil. Malaise de la nôtre en ce qu’elle nie le deuil“ (S. 167). Unsere Kultur hat sich dem Wunsch verschrieben, die Natur – auch die menschliche – vollkommen zu beherrschen und zu kontrollieren, und sie hat auch Einiges erreicht. Vielleicht spielt deshalb die Verleugnung des Todes heute eine größere Rolle als etwa im Mittelalter. Der Verlust eines geliebten Menschen aber setzt dieser Verleugnung und Abspaltung ein Ende. Der Trauernde erlebt im Verlust des anderen auch die unabwendbare Realität des eigenen Todes. Vielleicht führen solche Faktoren dazu, dass sich viele Menschen mit ihrer Trauer an die PsychotherapeutInnen wenden. Wir sind gefordert, unsere Vorstellungen von Trauer zu überdenken, damit wir den PatientInnen wirklich behilflich sein können. Denn ein ungenügendes Verständnis der Trauervorgänge – z.B. nach einem Jahr sollte die Trauer doch beendet sein – kann zu erheblichen Missverständnissen in der Therapie führen.
Nur, schon bei der Frage, wie denn ein normaler Trauerprozess abläuft, scheiden sich die Geister. Es sind v.a. zwei Aussagen, die viele AutorInnen dazu bewegt haben, den Trauerprozess erneut zu untersuchen. Einmal die Aussage von Freud in „Trauer und Melancholie“(GW X):
„Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erlässt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen.“
Der normale Trauervorgang beansprucht viel Zeit und Energie, und unterdessen wird die
„Existenz des verlorenen Objektes psychisch fortgesetzt.“
und:
“Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen“(S. 430).
Es stellt sich die Frage, ob es möglich und überhaupt wünschenswert sei, alle Besetzungen vom Objekt abzuziehen. Und ist es möglich, die psychische Repräsentation eines einstmals geliebten Objektes innerlich zu beerdigen?
Widerspruch hat sich auch geregt in Bezug auf folgende Festlegungen:
Horwitz und Wakefield (2007) schreiben: „PatientInnen sind von der Diagnose einer schweren Depression ausgenommen, wenn die Symptome verursacht sind durch das, was das DSM (4. Edition) als normale Periode von Verlustschmerz nach dem Tod einer geliebten Person definiert. Sie darf nicht länger als zwei Monate dauern und keine speziell gravierenden Symptome wie Psychose oder Suizidgedanken sollten auftreten“ (S.9). (Übersetzung H.S.)
Das ICD-10 sagt: „Sehr heftige und länger als 6 Monate dauernde [Trauerreaktionen] sind unter F43.21 (längere depressive Reaktion) zu verschlüsseln“(S. 171).
Es geht hier um die Frage, wie lange ein Trauerprozess nach dem Tod eines geliebten Menschen dauern darf, um noch als normal zu gelten. Aus heutiger Sicht erscheint es als unglaublich, dass ein Trauerprozess nach zwei Monaten abgeschlossen sein soll. Auch 6 Monate scheinen mir eher zu kurz gegriffen. Des Weiteren erkennen wir hier die Schwierigkeit, intensive Trauer von der Depression abzugrenzen, da die Symptome identisch sein können.
Selbstverständlich ist es äußerst schwierig, allgemeine Aussagen über den Trauerprozess zu machen, da dieser von verschiedenen Variablen abhängt:
1. Die Art der Beziehung zum Verstorbenen.
2. Die psychische Struktur und Stabilität des Trauernden.
3. Frühere Traumatisierungen und ungelöste Konflikte aus der Vergangenheit.
4. Die psychischen Ressourcen, über die der Trauernde verfügt, um die inneren und äußeren Neuanpassungen zu bewältigen.
5. Das Ausmaß des Haltes durch die soziale Umgebung.
6. Todesart.
Trotz dieser Unterschiede sind die in der Literatur beschriebenen ersten Reaktionen auf den Verlust ziemlich ähnlich: Der Trauernde erlebt Schmerz, Verzweiflung, Trauer, Gefühle von Leere und Horror vor dieser Leere – und Schuldgefühle, die einen erheblichen Anteil am Gelingen oder Misslingen des Trauerprozess haben dürften. Viele Trauernde beschäftigen sich mit der Frage, wie und ob sie den Tod hätten verhindern können. Das magische Denken und Allmachtsphantasien nehmen überhand. Von verschiedenen Autoren wird immer wieder auf das Phänomen der Spaltung hingewiesen. Der Trauernde weiß rational um den Tod des geliebten Menschen und ergreift die notwendigen Vorkehrungen wie z.B. die Organisation des Begräbnisses. Andererseits kann er nicht glauben, was geschehen ist. Diese Spaltung kann über Jahre andauern und sich ausweiten, sodass der Betreffende äußerlich ein normales Leben weiterführt, auf der unbewussten Ebene aber befindet er sich in tiefster Trauer, die manchmal und oft überraschend den Weg ins Bewusstsein sucht und findet.
Zentral für uns PsychotherapeutInnen ist neben dem besseren Verständnis des normalen Trauerprozesses die Frage, wie es zu einem nicht enden wollenden oder zu schweren depressiven Reaktionen führenden Trauerprozess kommt und wie wir damit umgehen sollen. Wie wir alle wissen, kann eine unbewältigte Trauer tödlich enden.
In diesem Heft stellt sich Solms aus der Sicht des Neurowissenschaftlers die Frage: Wozu dient die Depression im Verlauf der Entwicklung des Menschen? Er erklärt die Wirkungsweise der Serotoninwiederaufnahmehemmer und hinterfragt den von der Medizin behaupteten Zusammenhang mit der Depression.
Kast schildert die verschiedenen Phasen des Trauerprozesses. Sie postuliert ein Beziehungsselbst, das sich teilweise vom eigenen Selbst unterscheidet und sucht auf diesem Hintergrund zu verstehen, warum einige Menschen statt Trauer Depressionen erleben und zeigt Behandlungsansätze auf.
Volkan befasst sich mit den Bedingungen, die beim Erwachsenen zu normaler Trauer, Depressionen oder endloser Trauer führen und erklärt die Funktion des ‚verbindenden Objektes’ sowohl für das Individuum wie für die Gesellschaft. Ein weiteres Thema ist die Generationen übergreifende Transmission von ungelösten Traueraufgaben.
Küchenhoff beschreibt anhand von Fallbeispielen die klinischen Aspekte, die für das Trauern wichtig sind und zeigt, wie Trauer vermieden, aber auch ertragen und beendet werden kann.
Borst hinterfragt die Linearität des Trauerprozesses, definiert Bedingungen für unabgeschlossene Trauer und unterstreicht aus systemischer Sicht neben den intrapsychischen Prozessen die Bedeutung des Kontextes mit seinen schützenden und sinnstiftenden Aspekten. Mit Hilfe des Konzeptes der Salutogenese und der Familienresilienz werden uns Interventionsmöglichkeiten aufgezeigt.
Benvenuto rekonstruiert Freuds Theorie über Trauer und Melancholie und analysiert die Paradoxe des Narzissmus. Dabei legt er den Fokus auf die Beziehung zwischen Narzissmus und dem ‚verlorenen Objekt’, das seinen Schatten auf das Ich wirft.
Bibliografische Angaben
Barthes R. (2009), Journal De Deuil. Seuil/Imec
Dilling H., Mombour W., Schmidt M.H. (Hrsg.) (1993), ICD-10 Kapitel V, Verlag Hans Huber, Bern
Freud S. (1917), GW X, S. Fischer Verlag 1973
Horwitz A. und Wakefield J.C. (2007), The loss of sadness. Oxford University Press