Rezension

Suleika Bergner

Bulian, R. (2009): Die Begegnung und das Szenische

Die Mikro-Begegnungsszenen aus der Sicht von Daniel Stern, Alfred Lorenzer und im Psychodrama.

Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller Aktiengesellschaft & Co. KG., 97 S., EUR 49,00; ISBN 978-3-639-21091-0

Die Begegnung im Kontext ihrer szenischen Erscheinung ist Gegenstand dieses Buches bzw. dieser Masterthesis von Regina Bulian. Im Sinne des „Erkennens einer Welt in einem Sandkorn“ vertritt sie den Standpunkt, dass in nur einer einzigen Szene ein ganzes Leben zum Vorschein kommen kann. Eine Szene verfolgt demnach ein holistisches (ganzheitliches), dynamisches Prinzip und hat gleichzeitig hermeneutischen Charakter. Es geht um die „sinnlich-kreative Wahrnehmung zweier Menschen“, die an einer Begegnungsszene beteiligt sind. Es sei Aufgabe des / der PsychotherapeutIn, ein Verständnis dafür zu entwickeln, um dies in der TherapeutInnen-KlientInnen-Begegnung auf einer Metaebene zu reflektieren und gleichsam für die therapeutische Beziehung zu nutzen, so Bulian. So handelt es sich bei ihr um sogenannte Mikro-Begegnungsszenen, welche zwar in sich abgeschlossen eine eigene Welt darstellen, gleichzeitig aber auch Teil eines größeren Lebenszusammenhanges, eines Makrodramas, sind.

Äußerst diffizil und anschaulich erläutert die Autorin hierzu drei theoretische Ansätze zu diesem Thema. Indem sie die Konzepte von Daniel Stern, Alfred Lorenzer und die des Psychodramas in Verbindung miteinander bringt, eröffnet sich dem/der LeserIn der Blick auf die Gewichtigkeit einer zunächst noch so unscheinbar scheinenden Alltagssituation oder Begegnung in ihrer szenischen Erscheinung (bspw. das Öffnen einer Kühlschranktüre oder ein flüchtiges „Hallo“ zweier Bekannter, die sich auf der Straße treffen). So lassen sich die „generalisierten Interaktionsrepräsentanzen“ (RIGs) nach Stern, die „Erinnerungsspuren“ nach Lorenzer und die „bewussten und unbewussten Rollenmuster“ nach Moreno in Beziehung zueinander stellen und hinsichtlich ihrer konstituierenden Bedeutung für die Szene bzw. den „Gegenwartsmoment“, wie ihn Stern nennt, verständlich machen.

Sterns konzeptueller Ansatz von Begegnung setzt immer die (mehr oder weniger ausgeprägte Fähigkeit zur) „Intersubjektivität“ der/des Einzelnen, welche mit der Entwicklung des Selbstempfindens einhergeht und schließlich in der „Selbst-Geschichtlichkeit“ mündet, voraus. Die Mikroszene bzw. der Gegenwartsmoment ist die „primäre, subjektive Realität“, die in einer sehr kurzen Zeitspanne (3-4 sec.) erlebt wird. Erst nach Ablauf dieser „Episode“ ist es uns möglich, wieder objektiv Stellung zu beziehen bzw. eine objektive Haltung einzunehmen, und gegebenenfalls darüber zu reflektieren, zu sprechen.

Lorenzer versucht, sich anhand des von ihm entwickelten Modells des „Szenischen Verstehens“ der tiefgehenden Bedeutung einer einzigen Szene anzunähern. Der Verstehensprozess einer Szene vollziehe sich in vier Schritten. Wobei bezüglich Bulians Themenstellung vordergründig „szenisches Verstehen“ (3. Schritt) und “tiefenhermeneutisches Verstehen“ (4. Schritt) betrachtet werden. Zudem wird eine Brücke zwischen „tiefenhermeneutischem Verstehen“ und „Sharing“ im Psychodrama geschlagen. Insgesamt betont die Autorin die Vorteile eines solchen Vorgehens hinsichtlich der Wiederspiegelung des Bedeutungsinhaltes einer Szene. Einerseits können hier Wiederholungen ungelöster Konflikte aus der Vergangenheit sehr differenziert aufgeschlüsselt werden, andererseits wird in der Übertragung und Gegenübertragung zwischen AnalytikerIn und KlientIn zu bearbeitendes therapeutisches Material sichtbar. Im Übrigen zeigt Bulian, dass sich dieser zunächst analytisch deutende Ansatz gut ins psychodramatische Agieren einbauen lässt.

In Morenos konzeptuellen Entwicklungen zur Rollentheorie, zum Verständnis von Begegnung, Kreativität und Spontaneität und zum Tele-Begriff finden die zuvor bearbeiteten Modelle ihr Pendant. Die sozialpsychologische Dimension des Rollenbegriffs nach Moreno, wonach jede Rolle eines Menschen ein individuell gestaltetes, abrufbares Handlungsmuster enthält, wird für den therapeutischen Prozess hervorgehoben. Bulian spannt hier sehr eindrucksvoll einen Bogen zur psychodramatischen Darstellung von Szenen, im Sinne der Darstellung innerer Szenen im Außen, auf der psychodramatischen Bühne, welche die Reflexions- und Deutungsmuster von Stern und Lorenzer miteinbeziehen. Voraussetzung für das therapeutische Agieren ist, so betont Bulian, dass der/die TherapeutIn in einem Begegnungsmoment die „Krise“ bzw. „Erwärmung“ oder „Verstörung in der Beziehung“ zum/zur KlientIn erkennt, spürt und sich darauf einlässt. Durch das Erkennen und Klären mittels szenischer Bearbeitung und Reflexion, kommt es zu einer Auflösung des Konflikts, und eine Veränderung ist möglich.

Bulian baut in ihre Betrachtungen aktuelle Ergebnisse aus der Säuglings- und Kleinkindforschung, der Entwicklungspsychologie allgemein ein. Die Einarbeitung Schachts (2004) – Entwicklung der Rollenebenen – wird in Bezug zu Sterns Selbstkonzept gebracht. Dies ist ein sehr interessantes und für den therapeutischen Prozess bereicherndes Vorgehen.

Die Einflechtung aktueller Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Spiegelneuronen ist außerordentlich interessant und eröffnet völlig neue, ergänzende, den Austausch zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften belebende Möglichkeiten, um letztlich im Dienste des/der Menschen zu helfen.

Nicht zuletzt schildert die Autorin in den beiden Fallvignetten das tatsächliche therapeutische Vorgehen, welches die zuvor aufbereitete Theorie impliziert. Damit ist zum einen ein Konnex zwischen Theorie und Praxis hergestellt, und zum andern zeigt sich hier eine Therapeutin, die durch diffizile und außerordentlich feinfühlige, „telische“ Vorgehensweise individuelle Wege mit „ihren“ KlientInnen geht.