Rezension
Helmut Albrecht
Gerhard Danzer: Wer sind wir? Auf der Suche nach der Formel des Menschen
Anthropologie für das 21. Jahrhundert - Mediziner, Philosophen und ihre Theorien, Ideen und Konzepte
Berlin – Heidelberg: Springer 2011, 518 Seiten, € 39,95, ISBN-13: 978-3-642-16992-2
35 Philosophen und Ärzte mit einem Naheverhältnis zur Philosophie werden auf ihren Wert für eine „personale Heilkunde“ hin untersucht. Die bedeutendsten philosophischen Köpfe des 20. Jahrhunderts sind darunter, dazu die Gründerväter der Tiefenpsychologie. In herkulischer Leistung ohne zusätzliche Hilfe ausgewiesener Experten hat der Autor neben seiner ärztlichen Tätigkeit in der Klinik diese Auswertung vorgenommen. Es geht darum, die befruchtende Anregung zwischen Medizin und Philosophie an den Beispielen Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, Psychiatrie und Psychosomatik aufzuzeigen. Differenzen werden dabei zugunsten postulierter Gemeinsamkeiten hintangestellt. Werkanalysen, Biografie und kritischer Kommentar jeder Einzeldarstellung sind auf etwa zehn Seiten zusammengetragen. Es präsentiert sich dem Leser ein buntes Kaleidoskop herausragender und weniger bekannter Namen, mit überraschenden Querverweisen. Die einzelnen Monografien regen gerade wegen des fehlenden Anspruchs auf Vollkommenheit zur Neugier an, auch den Arzt und Therapeuten in Praxis und Klinik, der sich mit einer Fülle ungelöster Fragen personaler Heilkunde konfrontiert sieht, die zu weitläufigem Studium auffordern. Ein umfangreicherer Apparat an Sekundärliteratur wäre dem Kompendium deshalb zu wünschen gewesen. Das wird an dem Kapitel über Josef Rattner, dem geistigen Mentor und Lehrer der Tiefenpsychologie des Autors besonders deutlich. Dem Buch ist eine Widmung für J. Rattner vorangestellt, der vom Autor noch zu Lebzeiten prominent unter den bedeutendsten Vertretern der Philosophie und Tiefenpsychologie plaziert wird. Bei allen Verdiensten um eine Ausweitung des geistigen Horizontes in der Medizin, die diese kleine Enzyklopädie anvisiert, wird eine Schwäche deutlich, die die Beiträge des Buches insgesamt prägt: es wird nicht deutlich, was das Konzept der „personalen Heilkunde“ auszeichnet. Zu abstrakt bleibt die Zielrichtung auf „gelebte Zwischen- und Mitmenschlichkeit“, die „Beziehung zum Du und Wir, zur Gesellschaft und zum Kulturleben“ als Merkmale gelungener „Personalität“. Es bleibt vor allem beim allgemeinen Hinweis auf die Verwirklichung „personaler Pädagogik, Heilkunde, Psychotherapie, Kulturanalyse oder Gesellschaftskritik“ in der Zukunft. Der Autor entgeht nicht der Versuchung, Empirie und Argumente durch das Gewicht moralischer Redlichkeit ersetzen zu wollen, und Sittlichkeit mit seelischer Gesundheit gleich zu setzen. Mit dem Anspruch der Öffnung und Freiheit kontrastiert ein gewisser scholastischer Argumentationsstil, der beim zentralen Thema der Bedeutung der Gefühle und des Werterlebens besonders hervorsticht. Es werden „böse Affekte“ „reichen Gefühlen“ gegenübergestellt, wobei nur letzteren „Werterkenntnis“ zugestanden wird. Die praktische Bewährung von Rattners Personalismustheorie wird mit seinem Modell der Großgruppentherapie in Berlin begründet, aber ohne Bezug zu entsprechender Sekundärliteratur oder empirischer Forschung. Die Chance einer kritischen Würdigung dieses umstrittenen Projektes wird vergeben zugunsten einer Tendenz eines Kultes um die Person des geistigen Mentors und dogmatischer Ideologie. Dasselbe Problem besteht im Beitrag über Alfred Adler: auch hier wird eine kritische Aufarbeitung verschenkt. Adlers unbestimmter Begriff des Gemeinschaftsgefühls wird als nicht weiter hinterfragbar hingestellt, das Provisorische und Ideologie-lastige in seinem Werk schön geredet. Adler legte keinen großen Wert auf wissenschaftliche Stringenz, er wollte als Redner die Menschen für seine humanistischen Ideen begeistern. Die Würdigung seiner Charakter-Diagnostik und Organismustheorie tritt dem gegenüber in den Hintergrund. Die Verknüpfung von moralisierender Wertung mit Kriterien der Gesundheit, auch in der Beurteilung von Denksystemen, betrifft mehrere Beiträge. So wird für Martin Heidegger postuliert, die „Verdunkelung seines Denkens hatte wohl auch den Zweck, von seinen charakterlichen und mitmenschlichen Defiziten abzulenken und sie unsichtbar werden zu lassen. Letztlich versucht er damit, seine persönlichen Schwächen und sein ethisches Versagen mit Mystizismen zu kaschieren“. C. G. Jung wird als „Guru vom Zürichsee“ tituliert, der den „kulturkritischen Auftrag der Psychoanalyse vergaß“. Heinrich Schipperges empfiehlt er, „die eigene Person in Richtung Skepsis und Kritikfähigkeit zu entwickeln“, um „humanistisch, aufgeklärt und progressiv denken, lehren und schreiben“ zu können. Andere bekannte Namen werden gelegentlich der eigenen Tendenz angepasst dargestellt, wie im Fall von S. Freud, der als solidarischer Mitmensch und eigentlicher Kulturoptimist gelten soll. Die Beiträge des Buches schwanken zwischen Idealisierung und psychologisierender Entwertung. Dadurch wird der Informationswert der Beiträge geschmälert und nicht immer zuverlässig.
Dieses Buch benötigt kritische Diskussion: dem Verdienst, um die Öffnung der Medizin und Tiefenpsychologie zu anthropologischer Reflexion für eine bessere Praxis der Arzt-Patient-Beziehung einzutreten, steht die Ursünde von Personenkult und Ideologisierung zu einer Heilslehre gegenüber. So etwa wird die Hermeneutik im Beitrag über J. Rattner von einer geisteswissenschaftlichen Methode zu einer „zentralen Lebensaufgabe“ stilisiert, zu einem „Wesensmerkmal von sich selbst“ und einem „Fundamentalethos“. Es wird ein Menschenbild propagiert, das Willen und Vernunft im Sinne einer rationalistisch halbierten Aufklärung überbewertet. Es wird die These nahe gelegt, als ob Psychotherapie als Beziehungsgeschehen und Ringen um Freiheit und Authentizität durch Bildungswissen und Sittenlehre umgangen werden könnte, unter der Maske von Anthropologie und Wissenschaft.