Bericht

Ulrich Sollmann

Psyche und Körper -
Konzepte in Ost und West – ein Kongressbericht als Werkstattbericht

Die deutsch-chinesische Akademie für Psychotherapie (DCAP) lud vom 27.05-29.05.2011 zu einem Ost-West-Dialog nach Heidelberg ein. Vertreter der DCAP gestalten seit Mitte der 80er Jahre konzeptionell sowie praktisch-operativ diesen Dialog, indem sie vornehmlich in China westliche Psychotherapiemethoden vorstellen und entsprechende Ausbildung/Supervision anbieten. Gleichzeitig nutzen vermehrt chinesische KollegInnen die Möglichkeiten in Deutschland zur psychotherapeutischen Erfahrung/Ausbildung.

Das dichte Kongressprogramm spiegelte die Vielfalt der praktischen, konzeptionellen und theoretischen Perspektiven, vorgetragen von ausgewiesenen Praktikern und Experten.

Wesentliche Themenfelder waren:

Die Globalisierung von Psychotherapie auf dem Kongress als Dialog zwischen Ost und West erörtert, erfordert eine differenzierte, sensible, wechselseitige, aber auch radikale Transferleistung hinsichtlich Psychotherapie. Dies bezieht sich auf die zugrunde gelegten Menschenbilder, die Theoriegebäude, aber auch die Therapietechnik und Praxis. Globalisierung von Psychotherapie als interkultureller Austausch von Psychotherapie dient gerade hierdurch auch der Modernisierung von Psychotherapie (im Westen).

Hier einige bedeutsame Themenfelder, die vielfach „zwingend“ erkenntnistheoretische, philosophische sowie wissenschaftstheoretische neue Perspektiven eröffnen. Etwas, das für den Psychotherapiediskurs im Westen nicht immer automatisch so gegeben ist. Insoweit habe ich gerade diesen Diskurs als äußerst bereichernd erlebt. Sowohl für den Osten als auch für den Westen.

Zurück zu den Beispielen.

Während sich der Westen vielfach auf das Gesetz der Identität, dass nämlich A = B, B = C also A = C sei, stützt, lebt der Osten, hier am Beispiel China, eher aus der Korrelationslogik heraus: A beinhaltet B, ist aber nicht B. Ying ist nicht ohne Yang denkbar. (Haass-Wiesegart) Psychotherapie, sowohl im Westen als auch im Osten, steht vor einer nicht zu unterschätzenden Herausforderung. Denn wie kann es gehen, diesen beiden Logiken und den sich hieraus ergebenden psychotherapeutischen Strukturen und Dynamiken gerecht zu werden, ohne dass es zu einer Amalgamierung kommt? Oder aber zu einem andauernden Wettstreit?

Die Wurzeln solcher kultureller Unterschiede reichen weit zurück.

Ein zentraler kultureller Unterschied beispielsweise ist die auf dem Hintergrund der Jahrtausende alten Tradition des Konfuzianismus entstandene Bedeutung von Familie und sozialer Bezogenheit und (Selbst-)Verpflichtung in China einerseits, sowie die durch die kapitalistische Gesellschaftsentwicklung im Westen bedingte Individualisierung andererseits.

Psychotherapeutische Modelle, die im Westen entwickelt wurden, bauen deutlich auf dem Individuum, der Autonomie, der Selbstverwirklichung, der Selbstreflektion usw. auf. Individuation, so Zhao Xudong, ist in China aber unbekannt, ein „Fremdwort“. Entweder gibt es keine entsprechende Begrifflichkeit oder, wenn es zu einer Übersetzung kommt, dann beleuchtet diese Übersetzung nicht selten Individuation in einem negativen, abfälligen Licht. Was auf dem Hintergrund besagter Tradition einerseits nicht verwundert, andererseits als Hindernis für den Psychotherapieimport aus dem Westen zu verstehen ist. Als ein Hindernis, auf das wohl überlegt, sensibel und auch offen reagiert werden muss. Individualistisch wird nach Sun Longji in China daher i.d.R. mit egoistisch gleich gesetzt.

Es war daher interessant, erstaunlich, sowie bereichernd, an den Erfahrungen der deutschen KollegInnen in China partizipieren zu können sowie die gemachten Entwicklungsschritte, um die chinesischen KollegInnen zu erreichen, entsprechend würdigen zu können. Dies führte den KongressteilnehmerInnen aber auch deutlich vor Augen, dass und wie westliche Psychotherapie sich wandeln muss, sich anpassen muss, modifiziert werden muss, um überhaupt in China Fuß fassen zu können. Der Diskurs über Psychotherapie in China kann, wenn man diese Erfahrungen auch als Re-Import (der Kongress fungierte m.E. auch als ein solcher Re-Import) versteht, zur Modernisierung von Psychotherapie im Westen beitragen. (Gerlach).

China selbst steht aufgrund der Industrialisierung und Urbanisierung vor einem radikalen Wandel, insoweit, als das Modell der Familienbezogenheit vor allem in den Großstädten nicht mehr im Sinne der Tradition gelebt werden kann. Es kommt zur Vereinzelung, es kommt zur Zerstörung der Großfamilien, es kommt zur Ein-Kind-Kleinfamilie und natürlich auch zu ganz typischen, für China ungewohnten, psychosozialen Auffälligkeiten und Erkrankungen (hohe Suizid-Rate, Zwangserkrankungen usw.) Westliche Psychotherapie kann, und das wurde betont, in diesem Sinne als Integrationshilfe im Globalisierungsprozess verstanden werden.

Wenn bisher die Familie als soziale, kulturelle, psychische und ökonomische Ressource (Shi) verstanden werden konnte, so kann man vermuten, dass es in China selbst zu einem Dilemma hinsichtlich der konfuzianischen Tradition kommt. Die Familie als „psychologischer Sauerstoff“ dient (diente) der wiederholenden Bestätigung von Identität. In der Familie gibt es wenige Geheimnisse. Mütter, wenn sie in die Therapie eingebunden sind, zitieren bspw. aus den Tagebüchern ihrer Jungen (Haag). Oft schläft man sogar im gleichen Zimmer oder im gleichen Bett. Die Adoleszenz führt daher in China, aber auch bei Chinesen, die in Deutschland sind, zu einer längeren Abhängigkeit von der Familie. Dies kann zu erheblichen Schwierigkeiten in Bezug auf das Setting von Psychotherapie, aber auch die gelebte Praxis von Psychotherapie führen. So wird von Haag berichtet, dass die Exklusivität der Therapiebeziehung oft als Affront erlebt wird. So unterstützen die Eltern wenig (oft behindern sie sogar) Therapieziel und Prozess von Eigenständigkeit, Eigenverantwortung und Selbstreflektion bei Ihren Kindern. Oft greift die Familie als soziale Ordnung und wichtiges Korrektiv in das Therapiesetting insoweit ein, als relevante Personen aus der Familie faktisch präsent sind in Therapiebeziehung /-setting, die Psychotherapie kommentieren oder zu steuern versuchen.

Während im Westen Therapieziele wie Introspektion (therapeutische Ich-Spaltung), Selbsterleben, Selbsterkennen, Einsichtsfähigkeit usw. wesentliche Elemente des Therapieprozesses sind, stößt eine solche therapeutische Haltung in China auf große Schwierigkeiten.

Ausführlich wurden die verschiedenen Selbst-Konzepte aus psychologischer, philosophischer und kultureller Sicht dargestellt und erörtert (Simon, Roesler). Aus der Perspektive der Selbst-Konstruktion (Simon) kann man in China von einem Kontext-Selbst und im Westen von einem Objekt-Selbst sprechen. Die Diskussion um die Konstruktion des Selbst nahm daher einen breiten, differenzierten, nachdenklich stimmenden, auch persönlich bereichernden Raum ein. Auf den Punkt gebracht, kann man im Westen auch von einem „Independant-Self“ und in China von einem „Interdependant-Self“ sprechen (Haag) Wird doch dort das Leben und die eigene Entwicklung immer in Bezug auf den Kontext bezogen verstanden, erlebt und gestaltet.

Seit Ruth Benedict wird die chinesische Kultur auch als Scham-Kultur bezeichnet. Alle Menschen „unter dem Himmel“ sind eine Familie (Shi). Was in den Bezug auf den Scham-Affekt folgendes heißt: Man denkt, fühlt und handelt in der Regel immer in Bezug auf den anderen. Man sieht und erlebt sich und das Leben durch die Augen/die Brille des Gegenüber, des Anderen. Wenn die Scham in China oft mit Gesichtsverlust verglichen wird, so kann erweiternd hierzu Scham-Verhalten auch als Ausdruck des Bemühens verstanden werden, den anderen nicht in Verlegenheit zu bringen. Um diesem Prinzip treu zu bleiben, nimmt man sich selbst zurück.

Die Menschen in China achten daher eher auf die impliziten Botschaften, auf die indirekte Kommunikation statt zielorientiert wie es im Westen üblich ist, gleich „auf den Punkt zu kommen“. (Haass-Wiesegart) Das im Westen vielfach anzutreffende nonkonformistische Verhalten, das aus der Bedeutung der Individualität und Selbstbezogenheit resultiert, wird in China als schädigend für die Gemeinschaft erlebt. Scham zu empfinden und non-konformistisches Verhalten zu vermeiden, damit der andere nicht in Verlegenheit kommt, kann im Sinne des Daoismus verstanden werden als „durch Nicht-Handeln handeln“.

Die Zeit war viel zu kurz, um in die Vielfalt und Vielschichtigkeit des Diskurses einzusteigen. Vielleicht war der Kongress gerade deshalb so befruchtend und anregend, da die Eindrücke und offenen Fragen zum Nachdenken anregen. Und nicht nur das. Sie wurden zu Impulsen und einem Initial, sich selbst an der Fortführung dieses inter- und transkulturellen Dialogs zu beteiligen. Eine diesbezügliche Mitwirkung könnte sich u.a. auf drei Aspekte beziehen.

Wenn man die kollegiale Zusammenkunft auf dem Kongress auch als befruchtenden Re-Import von Psychotherapie sieht, könnte dies zu einer bereichernden Bestätigung führen, Psychotherapie im Westen interdisziplinär und methodenübergreifend als eigenständige Wissenschaft zu begreifen und zu entwickeln.

Dies kann entsprechend dem Kongressthema „Körper und Psyche – Konzepte in Ost und West“ in zweierlei Hinsicht angegangen werden. Einerseits ist zu klären, wie das Zusammenspiel von Körper und Psyche ( im Westen durch die Körperpsychotherapie KPT vertreten und praktiziert ) für den Transfer nach China genutzt werden kann. Hat KPT doch den Charme, durch tiefenpsychologisches/analytisches Verstehen einerseits und praktisch-körperliches operatives Handeln andererseits, auf dem Boden der therapeutischen Beziehung gleichzeitig zu wirken.

Da Menschen in China, wie mehrfach berichtet wurde, eher auf der Handlungsebene Anschlussfähigkeit zeigen, könnte die Berücksichtigung körperpsychotherapeutischer Zugänge ein interessanter Versuch des therapeutisch-kulturellen Dialogs sein. Die Erfahrung mit KPT im internationalen, professionellen Raum (wohl noch nicht China) könnte Mut machen, zu diesem Versuch anzuregen.

Andererseits könnten über sogenannte Spiegelungsgruppen (Klüwer) psychosoziale / kulturelle Induktionen im Prozess der Aneignung erfahrbar, benannt und zur Weiterentwicklung genutzt werden. (Diese Art der Induktion ist von der eher biographisch gefärbten, kulturellen Induktion in einer Balintgruppe zu unterscheiden).

Erfahrung und Benennung solcher Induktionen könnten zu einem dialogischen Raum des kulturellen Probehandelns werden. Sie spiegeln das Zusammenspiel von westlicher Psychotherapie, chinesischer Kultur, konkreter gemeinsamer Verarbeitung und Aneignung in der jeweiligen Gruppe. Den dialogischen / kulturellen Raum förderlich so zu gestalten, entspräche dann einer mikro-gesellschaftlichen Aneignung von westlicher Psychotherapie in der chinesischen, östlichen Kultur.

Die Arbeit in der Spiegelungsgruppe kann zudem zwei weiteren Wirkkriterien Rechnung tragen. Die Praxis der Ausbildung / der Therapie vor Ort in China wird häufig geprägt durch den Gebrauch der englischen Sprache oder die Zuhilfenahme von Übersetzern. Hierdurch entsteht natürlich eine besondere Situation, die in ihrer Bedeutung im Einzelnen auf dem Kongress nicht weiter erörtert wurde, aber von Relevanz ist. Es wurde lediglich darauf verwiesen, dass es Übersetzungsschwierigkeiten gäbe. Die Arbeit in einer Spiegelungsgruppe ermöglicht den aktiven Einbezug dieses Umstands, indem die prozesshafte Verarbeitung derselben auch als besondere psychosoziale Induktion verstanden und genutzt wird. Insoweit muss man sich nicht über die auftretenden Übersetzungsprobleme beklagen, sondern man kann sie induktiv im Geschehen nutzen.

Versetzt man sich in einen solchen Prozess, so wird man den Faktor Zeit, das heißt die hierdurch bedingte Verlangsamung des Prozesses insgesamt i.S.v. inter- / transkulturellem Transfer, nutzen und verstehen lernen.

Die Arbeit mit der psychosozialen Induktion in der Spiegelungsgruppe fördert hierdurch die Emergenz im Gesamtprozess.