Originalarbeit (Titelthema)

Andreas Heller, Claudia Wenzel

Hospizarbeit und Palliative Care - Idee, konzeptionelle Grundlagen und Herausforderung für die Psychotherapie

Zusammenfassung: Hospizarbeit und Palliative Care sind mittlerweile weltweit anerkannte Konzepte und Haltungen, die den wachsenden Bedarf nach einer angemessenen gesellschaftlichen und fachlichen Sorgekultur mit und für sterbende Menschen und deren Bezugspersonen aufnehmen. Charakteristisch ist die komplexe Sicht des Menschen in seinen bio-psycho-sozialen und spirituellen Bedürfnissen und Dimensionen, die folgerichtig zu einer interdisziplinären und interprofessionellen Arbeitskultur geführt hat, die sich sowohl in und zwischen Care-Organisationen sowie Netzwerken etabliert und dabei ist, sich in kommunalisierten Sorgezusammenhängen wie „compassionate cities“ (Kellehear 2005) weiterzuentwickeln.

Für Psychologie und Psychotherapie gibt es vielfältige Ansatzpunkte sowie Kompetenzen „einzubringen“. Erste internationale Verständigungen deuten darauf hin, dass das Interesse und die Sensibilität für mögliche Interferenzen zwischen Psychotherapie und Palliative Care zunehmen. Eine Psychotherapie, die sich auf den Grenzbereich zwischen Leben und Tod sowie auf die Korrespondenzen zwischen Körper und Seele (Was oder wer stirbt eigentlich?) einlässt, bedarf einer palliativen Haltung, die nicht auf Kuration psychischer Disharmonien, sondern auf Transzendenz und Transformation ausgerichtet ist.

Schlüsselwörter: Hospizbewegung, Palliative Care, Psychotherapie, multiprofessionelle Teamarbeit

Abstract: Hospice and palliative care are internationally recognised concepts and attitudes with regard to the importance of bio-psycho-social dimensions and spiritual needs of the dying and their loved ones. Palliative Care is provided by multiprofessional teams to meet the complex requirements of a person-centred care, which influences not only organisations, but also a development, which Kellehear (2005) frames as “compassionate cities”.

Psychotherapy and psychology have a lot to offer to the field of hospice and palliative care. International trends show that there is a growing interest for possible boundary points between psychotherapy and palliative care. Psychotherapy, which moves into the border area between life and death, between body and soul (who is dying?), demands a palliative attitude, which is focused on transcendence and transformation.

Key words: hospice, palliative care, psychotherapy, multiprofessional teamwork

Palliative Care wurzelt in der Hospizbewegung

Palliative Care erwächst aus der Internationalen Hospizbewegung, die sich im deutschsprachigen Raum etwas zeitversetzt zur englischen und amerikanischen Entwicklung in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts durchzusetzen beginnt. Auf dem Hintergrund der Internationalen Euthanasiegesellschaften (right-to-die-movement, DGHS = Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben), die ein würdiges Sterben im Sinne der strafrechtlichen Legalisierung der aktiven Euthanasie fordern, und der rasanten Entwicklung der hochspezialisierten und technikdominierten Medizin, die ein würdiges Sterben im Krankenhaus zu verunmöglichen schien (Das Bild „einsames kaltes Sterben in der Abstellkammer“), betont die Hospizbewegung als Ziel, ein Sterben in Würde und der Individualität der Betroffenen gemäß zu ermöglichen („to die in dignity and character“).

Die durch die Forschungsarbeiten der in Amerika lebenden Schweizer Ärztin Elisabeth Kübler-Ross begründete Thanatologie machte deutlich: Auch sogenannte „austherapierte“ PatientInnen haben Bedürfnisse nach Kontakt und Beziehung, wollen gewürdigt und nicht gedemütigt werden und sie erleben unterschiedliche Dimensionen einer affektiv-kognitiven Auseinandersetzung mit ihrem drohenden Tod, die empathische Kommunikationen sowie umfassende Aufmerksamkeit als menschliches Grundrecht erfordern. Diese bahnbrechenden Erkenntnisse breiteten sich in der ganzen Welt aus und wurden lange Zeit im Sinne eines linearen Stufenschemas missverstanden.

Die britische Ärztin, Pflegeperson und Sozialarbeiterin Cicely Saunders, die sich als engagierte Christin verstand, gilt mit der Eröffnung des St. Christopher´s Hospizes 1967 in London – nach zwanzigjährigerer Schwangerschaft mit der Idee, ein Haus für Sterbende zu begründen - als Pionierin der modernen Hospizarbeit und Palliative Care. Hospiz(arbeit) und Palliative Care wurden im Mutterland England immer synonym verwendet.

Im Hospizbegriff lebt die Idee der europäischen und altorientalischen Gastfreundschaft fort. Menschliches Leben, als Pilgerschaft begriffen, ist auf Gastfreundschaft angewiesen, um Weg und Ziel zu finden. Hospize bieten eine absichtslose Gastfreundschaft an im bedingungslosen Interesse am Anderen, an der Anderen, um seiner/ihrer selbst willen. Diese Hospizlichkeit ist zunächst eben kein Gebäude, sondern eine Haltung von Personen und eine Kultur in der Gesellschaft. In Zeiten zunehmender Ökonomisierung und Verbetriebswirtschaftlichung („Es zählt, was gezählt werden kann!“) des Gesundheitswesens hält die Hospizidee in kritischer Differenz diese sorgende Aufmerksamkeit für Menschen in Not mit Hilfe- und Unterstützungsbedarf am Lebensende gegenwärtig. Zunächst ist die Hospizbewegung eben eine BürgerInnenbewegung, getragen von ehrenamtlich engagierten Menschen, die sich für das Recht und die Möglichkeit auf ein gutes, würdiges und individuelles Sterben am Lebensende einsetzt, unabhängig von Religion, Rasse, Geschlecht und Ökonomie. Palliative Care (in Deutschland als Palliativmedizin übersetzt) leitet schließlich einen tiefgreifenden Prozess der Professionalisierung, dominiert durch Medikalisierung und Institutionalisierung in den deutschsprachigen Ländern ein, der bis heute prägend ist.

Der Begriff ”palliativ” leitet sich vom Lateinischen ”pallium” – der Mantel – ab und wird in der deutschsprachigen Rezeption in erster Linie mit „Ummanteln, Umhüllen“, im Sinne von „fürsorglichem Beschützen“ wiedergegeben. Etymologisch wurzelt dieses Lateinische im Indo-Europäischen: „palliativ“ verweist auf „pel“, was so viel wie „Fell“, „Tierhaut“ bedeutet, woraus die Bedeutung „pelte“, also waffenabwehrende Schilder für den kriegerischen Einsatz, entstand (vgl. Morris 1997, in: Clark & Seymour 1999). Dieser Doppelaspekt von palliativ ermöglicht eine aktivere Rolle der Betroffenen in den Blick zu nehmen und unterstreicht die „radikale Betroffenenorientierung“ (Heller 1999, Heller & Knipping 2007) dieses Ansatzes im modernen Gesundheitssystem. Es geht immer um eine angemessene Balance von Zuviel und Zuwenig (etwa invasiven, therapeutischen Maßnahmen), es geht um die Balance von Verlangsamung und Beschleunigung des Sterbens, wie die WHO es in ihrer Definition belletristisch formuliert.

Konzeptionelle Perspektiven von Palliative Care

Gemäß der weltweit rezipierten Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Palliative Care „... ein Ansatz, mit dem die Lebensqualität von PatientInnen und ihren Familien verbessert werden soll, wenn sie mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung und den damit verbundenen Problemen konfrontiert sind. Dies soll durch Vorsorge und Linderung von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, fehlerloser Einschätzung und Behandlung von Schmerzen und anderen physischen, psychosozialen und spirituellen Problemen erfolgen.“ (WHO 2002, Übersetzung Sabine Pleschberger)

Diese Definition umfasst einen akzentuierten Einbezug der Angehörigen und Zugehörigen – also von Personen, die betroffen vom Leiden anderer mit ihnen verbunden, die Sorge und Umsorge teilen. Auch wird die besondere Aufmerksamkeit für die Trauer herausgestellt, die nicht erst nach dem Tod einsetzt, sondern den oft langen Prozess von der Diagnose einer chronischen Erkrankung, den multiplen Behandlungen bis zum Tod und darüber hinaus umfasst. Von den in vielen Ländern immer wieder aktualisierten Diskussionen um die aktive Sterbehilfe grenzt sich die WHO-Definition (Steffen-Bürgi 2007), die mittlerweile wie eine normative Richtlinie in der Palliative Care Community gesehen wird, deutlich ab.

In der überarbeiteten Fassung der ursprünglichen Definition aus dem Jahr 1990 wird dezidiert hervorgehoben, dass Palliative Care als Ansatz bereits sehr früh im Krankheitsverlauf, und zwar parallel zu kurativen Maßnahmen, zur Geltung kommen sollte (WHO 2002). Wie diese konzeptionellen Bausteine in den verschiedenen Gesundheitssystemen umzusetzen sind, bleibt offen: Und so haben sich vielfältige Strukturen und Angebotsformen in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland, Österreich und der Schweiz herausgebildet.

Über die spezialisierten Angebote hinaus erfolgt eine Umsetzung der Idee durch die Entwicklung der Grundversorgung, dort in erster Linie durch differenzierte Aus-, Fort- und Weiterbildung, von Einführungen für Ehrenamtliche bis zu Masterstudiengängen in Palliative Care (der erste deutschsprachige Weiterbildungsstudiengang in Palliative Care wurde und wird von der IFF-Fakultät seit 1999 als interdisziplinäres Studium in Wien angeboten, andere Universitäten und Hochschulen sind diesem Beispiel gefolgt, etwa Dresden, Freiburg, Salzburg, St. Gallen). Ein weiterer Ansatzpunkt richtet den Blick auf die Verzahnung und Verschränkung der Entwicklung von Personen mit der Entwicklung von Organisationen, ausgehend von der Einsicht, dass eine Kultur des Sterbens immer auch eine Organisationskultur des Sterbens (Heller 2000) ist. Hospizarbeit und Palliative Care werden, vor allem im deutschsprachigen Raum, als Versorgungskonzepte mit unterschiedlichen Akzentuierungen rezipiert.

Palliative Care wird nach diesem Verständnis häufig mit „Palliativversorgung“ übersetzt. Diese schlichte Übersetzung nimmt den Facettenreichtum des englischen Terminus Care nicht auf. Der „Versorgungsbegriff“ ist nicht unproblematisch, da er eine Arbeitsteilung insinuiert, in der die einen als Subjekt der Versorgung handeln und andere als Objekte der Versorgung behandeln. Deshalb erscheint es angemessen, den aus dem skandinavischen Sprachraum stammenden Begriff der „Umsorge“ aufzunehmen, bzw. von hospizlich-palliativer Sorgekultur zu sprechen.

Palliative Care – eine Frage des Alters?

In der Entwicklung der Hospizidee wurde die Anwendbarkeit der konzeptionellen Bestandteile für chronisch kranke und alte Menschen nie grundsätzlich ausgeschlossen, ja von der Cicely Saunders sogar dezidiert hervorgehoben: “Terminal care should not be a facet of oncology, but of geriatric medicine, neurology, general practice and throughout medicine“ (Saunders, Baines, 1983: 2).

Dennoch wurde das Konzept ausgehend und entlang von unheilbar krebserkrankten Menschen entwickelt. Die akademische Palliativmedizin hat sich weitgehend im Kontext der Onkologie universitär verankert. Nur: es existieren viele andere Gruppen von Betroffenen (lediglich ca. 25% der Menschen sterben in Mitteleuropa an einer Tumorerkrankung, 75% eben nicht). Vor allem das Sterben älterer Frauen und Männer gerät in den letzten Jahren in den Fokus der Aufmerksamkeit (Heller et al. 2007). Modellprojekte versuchen eine Hospiz- und Palliativkultur in Pflegeheimen zu etablieren (Heller & Kittelberger 2010, Kojer 2009).

Seit einigen Jahren findet auch auf internationaler Ebene eine systematische Hinwendung im Palliative Care Diskurs zu anderen Zielgruppen statt, darunter auch zu alten Menschen.

Auf die enge Verbindung der Gerontologie mit Palliative Care verweisen Seymour und Hanson (2001: 102) „Both attend to the pursuit of symptom control, while advising the judicious use of investigations and rejecting highly invasive and aggressive treatment modalities; both make the person and their family the unit of care, and have led the way in developing multidisciplinary and community-based models of care. In so doing they have developed parallel discourses of ‘patient-centred’ care, ‘quality of life’, ‘dignity’ and ‘autonomy’. Further, both disciplines focus on areas – ageing and cancer – that tend to provoke strong, even ‘phobic’ reactions from the public at large”.

Richtungsweisend ist das Erscheinen einer WHO-Publikation mit dem Titel „ Better Palliative Care for Older People“ (Davies & Higginson, 2004). Darin werden Public Health Strategien auf nationaler Ebene eingefordert, mit dem Ziel der Verbesserung der Palliativversorgung für alte Menschen. Im deutschsprachigen Raum wurde mit dem Begriff Palliative Geriatrie experimentiert, der freilich eine „Medikalisierungstendenz“ (Clark 2002, Heller & Heller 2003, Gronemeyer 2004) insinuiert, die sowohl die Praxis und den Alltag der Altenpflege als auch die interdisziplinäre theoretische Reflexion der Sorge und Versorgung älterer Menschen nicht angemessen aufnimmt.

Das revolutionäre an diesem Ansatz einer neuen Sorgekultur am Lebensende besteht u.a. darin, dass die einzelne Person, als Frau, Mann, Kind, Jugendliche (s. Kinderhospizbewegung) in ihrem sozialen Lebenszusammenhang gesehen wird. Die „care unit“ ist also das soziale System, nicht allein das Individuum.

Gemäß der Vorstellung und „Entdeckung“ von Cicely Saunders leiden Menschen umfassend (ihr Konzept von „total pain“), also biopsychosozial und spirituell. Diese Multidimensionalität in der Anthropologie von Caring stellt in der Tat eine Revolution nicht nur der Schulmedizin dar. Sie macht eine interdisziplinäre Praxis und Theorie unbedingt erforderlich, die folgerichtig eine auf Komplementarität ausgelegte Interprofessionalität bedingt, in der vor allem die sog. Ehrenamtlichen, die BürgerInnen (in einem bürgerschaftlich zivilgesellschaftlichen Konzept), die Kontinuität der Sorge aufrechterhalten.

Die Rolle der Professionellen wird immer wieder kritisch reflektiert (Dörner 2008). In der WHO-Definition von Palliative Care werden auch spirituelle Bedürfnisse von Sterbenden betont. Dieser Hinweis hat in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit für andere, nicht medizinische Dimensionen der Betreuung am Lebensende gesteigert, in einem interreligiösen Zugang (Heller B. 2000, Heller & Heller 2003) oder auch ausgehend von der Neuinterpretation der Rolle von Seelsorge und Medizin (Weiher & Weber 2003, Frick 2010) werden unterschiedliche Ansätze diskutiert. Ebenso gewinnt die Dimension einer geschlechtersensiblen Hospiz- und Palliativkultur zunehmend an Bedeutung (Reitinger & Beyer 2010), sowie die Erkenntnis, dass Gender auch eine relevante Dimension im Erleben von Leid bzw. Schmerz darstellt (Lehner 2010).

Festzuhalten ist, dass Palliative Care in diesem multidimensionalen Konzept sich gegenüber jeder Form eines maschinenförmigen Bildes vom Menschen als resistent erweist, die Personen als Subjekte ihres eigenen Lebens achtet und anerkennt, sie in der Balance von Autonomie und Sorgebedürftigkeit mit ihren sozialen Bezugspersonen zu unterstützen trachtet und eine umfassende Reflexion des gesamten Team im ambulanten wie auch im stationären Bereich erforderlich macht, und Teil einer umfassenden Sorgekultur der Gesellschaft ist.

Insofern bilden Hospizarbeit und Palliative Care eine tiefgreifende Innovation im Gesundheitssystem, weil sie den Zwischenraum als den „Ort“ des Handelns entdeckt und aufgedeckt haben und insofern von den Prinzipien der Interdisziplinarität, der Interprofessionalität, der Interorganisationalität, der Interreligiosität und Interkulturalität geleitet sind (Heller et al. 1999).

Psychotherapie und Psychologie im Kontext von Hospizarbeit und Palliative Care

Gemäß der Palliative Care Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der European Association for Palliative Care (EAPC) sind die Berücksichtigung psychischer Aspekte ebenso wie Unterstützungsangebote für Betroffene und deren Angehörige am Lebensende von zentraler Bedeutung. Anders als in anderen Bereichen wird psychische, psychologische und psychosoziale Unterstützung in Palliative Care jedoch keiner spezifischen Berufsgruppe zugesprochen, vielmehr unterliegt die Sorge um die Psyche schwerkranker und sterbender Menschen und deren Angehörigen allen im Feld tätigen Professionellen. Es existiert international keine Vereinbarung darüber, welche Rollen und Aufgaben PsychologInnen oder PsychotherapeutInnen im Kontext Hospizarbeit und Palliative Care haben (sollten). In den multiprofessionellen Teams, die für den Hospiz- und Palliative Care Kontext kennzeichnend sind, und die je nach Kontext aus Pflegenden, MedizinerInnen, SeelsorgerInnen, Ehrenamtlichen/Freiwilligen, SozialarbeiterInnen sowie externen komplementären PraktikerInnen (Musik- oder Kunsttherapie, Körpertherapien,..), PsychologInnen u.a. bestehen, kommt es oftmals zu Rollenüberlappungen und damit auch manchmal zu Rollenkonflikten.

Im Rahmen einer Taskforce der European Association for Palliative Care zu “Education for Psychologists in Palliative Care” werden Grundlagen für eine Curriculumsentwicklung für PsychologInnen in Palliative Care erarbeitet (Jünger et al. 2011).

Mit der zunehmenden Professionalisierung steigt jedoch auch die Gefahr einer Pathologisierung psychischer Prozesse am Lebensende, was der ursprünglichen Intention der Hospizbewegung widerspricht (Sterben ist keine Krankheit.). Eine solche Pathologisierung und Psychologisierung intrapersoneller und interpersoneller Herausforderungen im Kontext von Sterben, Trauer und Tod sollte in jedem Fall vermieden werden.

Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) schlägt ein differenziertes Modell psychologischer Maßnahmen und Interventionen im Rahmen eines Papiers mit dem Titel „Improving supportive and palliative care for adults with cancer“ (Fegg & Lampe 2009) vor. Hier erfolgt eine Differenzierung professioneller Qualifikationen auf vier Ebenen, wobei die Psychotherapie am obersten Ende spezialisierter Interventionen steht, während sich an der Basis der Pyramide alle im Gesundheitssystem tätigen Professionellen befinden, die als psychologische Grundqualifikation „empathische Kommunikation sowie generelle psychologische Unterstützung“ mitbringen sollten. In einem Bericht der British Psychological Society (Kalus et al. 2008) werden „Assessment, Formulation, Intervention or implementation, evaluation and research” sowie “communication” als Kernkompetenzen von PsychologInnen im Kontext Palliative Care definiert.

Mit wenigen Ausnahmen nationaler Studien aus Spanien, England oder den USA (Grant & Kalus 2010, Lacasta et al. 2008, Nydegger 2008) existieren keine empirischen Erhebungen, die auf den Bedarf an PsychologInnen und PsychotherapeutInnen und deren Aufgaben und Rollen im Kontext Palliative Care schließen lassen. In einer europaweiten Umfrage der “EAPC Task Force on education for psychologists in palliative care” aus dem Jahr 2009 (Jünger et al. 2010) wurden Arbeitssetting, Hauptaufgaben, professionelles Profil und Ausbildungsmöglichkeiten im jeweiligen Land für in Palliative Care tätige PsychologInnen erhoben (323 PsychologInnen von 41 Ländern nahmen an dieser Erhebung teil). Als relevante Aufgaben von PsychologInnen in Palliative Care wurden die Behandlung von Depression, Angst und Anpassungsstörungen sowie Kommunikation mit Betroffenen und Angehörigen über Bedürfnisse und Wünsche am Lebensende genannt. Weitere relevante Aufgaben beziehen sich auf die Bereitstellung professioneller Fertigkeiten und Perspektiven für das multiprofessionelle Team und auf die Durchführung von Fortbildungstätigkeiten anderer Professioneller, Forschung, politischer Tätigkeiten sowie Evaluation.

Es existiert nur eine geringe Anzahl von empirischen Studien über psychotherapeutische Arbeit und Interventionen bei sterbenden Menschen (Cochinov et al. 2004). Auf Symptomebene spielen in Palliative Care in Anlehnung an die ICD-10 Klassifikation Depressionen, Angstsyndrome sowie Belastungs- und Anpassungsstörungen eine große Rolle.

De Jonge (2005) verweist jedoch auf die Problematik der Messbarkeit psychischer Aspekte von Krankheiten im Kontext von Palliative Care und auf die Vielzahl von Instrumenten zur Feststellung psychischer Dysfunktionen, die meist auf Selbstaussagen beruhen und damit nur begrenzte Validität aufweisen.

Im Kontext von Palliative Care stehen supportive und stützende Ansätze sowie Krisenintervention und die Fokussierung auf persönliche Copingstrategien und individuelle Ressourcen im Vordergrund. Oftmals begründet sich die Auswahl spezifischer Methoden in dem Ziel einer kurzfristigen Wirksamkeit, bzw. leiten sich Therapieziele von der besonderen Situation von Menschen ab, die sich an ihrem Lebensende befinden (Licht und Kruse 2006). Ein entscheidender Aspekt hierbei ist, dass es im Kontext von Sterben und Tod nicht mehr um eine Änderung von Eigenschaften oder Persönlichkeitsmerkmalen geht, selbst wenn gerade Sterbende oftmals tiefgreifende intrapsychische Entwicklungsprozesse durchlaufen.

Peterson und Köhler (2006) beschreiben die Bindungstheorie nach Bowlby (1969) als Basis für psychotherapeutische Interventionen in der Sterbephase. Bowlby definiert vier Bindungsmuster, die bereits in der frühen Kindheit ausgebildet werden: Sicher, unsicher/vermeidend, unsicher/ambivalent und desorientiert/desorganisiert. Der Sterbeprozess kann als einmalige und endgültige Trennungssituation gesehen werden, die bei Betroffenen und Angehörigen ein besonders wirksamer Auslöser für die Aktivierung des Bindungssystems ist. Peterson und Köhler (2006) konnten zeigen, dass es eine Beziehung zwischen frühkindlichem Bindungsmustern und dem Verhalten in der Sterbephase gibt und verweisen auf das Potential, den Ansatz der Bindungstheorie für die Begleitung im Sterbeprozess fruchtbar zu machen.

Tirier (2006) sieht in der Logotherapie eine Möglichkeit, Menschen am Lebensende Begleitung und Hilfestellung im Umgang mit ihrem Leiden anzubieten und dadurch wieder mehr Lebensfreude und Lebensqualität zu erleben. Aufgabe der TherapeutInnen ist es dabei, den Blick der Betroffenen auf die jeweiligen Lebens- und Sinnmöglichkeiten zu richten, angesichts der Freiheit und Verantwortlichkeit, die dem Menschen als geistiges Wesen zugeschrieben werden. Darüber hinaus bietet die Logotherapie Möglichkeiten zum Umgang mit Ängsten (am Lebensende), die geistige Fähigkeit der Einstellungsänderung sowie die Sinnhaltigkeit des Lebens angesichts der Endlichkeit zu erforschen.

Gegenwärtige Herausforderungen bezogen auf die Möglichkeiten einer „palliativen Psychotherapie“

1. Alle Berufe beanspruchen, in gewisser Weise Zugänge zur „psychischen Seite der Betroffenen“ anzubieten. Die professionelle Konvergenz kann jedoch immer wieder zu einer Konkurrenz führen. Dabei ist das weite Feld des Umgangs mit Sterben, Tod und Trauer eine klassische Herausforderung der psychologisch und psychotherapeutisch qualifizierten Berufe, geht es doch um die letzte Trennungserfahrung des Lebens.

2. In der intensivierten Auseinandersetzung mit Sterbenden einerseits und ihren Familien bzw. Wahlverwandten andererseits bergen vor allem systemisch orientierte Ansätze Potential zur Begleitung von betroffenen Familien und sozialen Gefügen am Lebensende.

3. Gerade die als Externe ins Feld Hospizarbeit und Palliative Care kommenden Berufe (unterschiedlichster Therapierichtungen) übernehmen oftmals entlastende Funktion für das multiprofessionelle Team. Die psychische und somatische Dauerbelastung und Auseinandersetzung mit dem Sterben bzw. Konfrontation mit den Sterbenden wird in den letzten Jahren zusehend thematisiert (Saalfrank 2009). In diesem Diskurs zeigt sich, dass die Sorge um Andere getragen sein muss von einer Sorge um sich selbst (Burnout Prophylaxe). Beratung und Supervision stellt daher ein weiteres Setting dar, in dem psychotherapeutische Kompetenz gefragt ist.

4. Immer wieder ist zu beobachten, dass personzentrierte psychotherapeutische Kompetenz ergänzungs-bedürftig ist zugunsten eines systemischen Kontext- und Organisationsbezugs. Die Sorge-Settings sind in der Regel Organisationen. Systemisch differenzierte Therapieansätze können diese Komplexität anders aufnehmen.

5. Die in der konventionellen Medizin herrschende Fokussierung auf Symptome, wenn es um die Wahrnehmung der Sterbenden geht, verdient kritisch-differenziert durch Psychotherapie erweitert zu werden, indem sich Psychotherapie nicht auf psychische Dimensionen reduzieren lässt, sondern mit ihrer differenzierten Reflexions- und Interventionskompetenz als kritisch-konstruktive Profession im guten Sinne desintegriert, Unterschiede aufnimmt und sich an salutogenetischen Konzepten der Resilienz orientiert.

Psychotherapie als Beziehungsarbeit am Lebensende im Kontext einer von Gastfreundschaft geprägten Hospiz- und Palliativkultur bedarf zuallererst einer absichtslosen Haltung auf Seiten der TherapeutInnen und einem Blick, der weit über ICD-10-Krankheits-Klassifikationen hinausreicht.

Menschen in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten, bedeutet auch für Professionelle immer eine Auseinandersetzung mit (den eigenen) zutiefst existentiellen Themen. Der professionelle Zugang zu Gästen im Hospiz bzw. in der häuslichen Versorgung, zu PalliativpatientInnen oder sterbenden BewohnerInnen in Pflegeheimen verwandelt sich im Kontext von Grenzerfahrungen und an den Grenzen des Lebens nicht selten in einen menschlich-solidarischen Zugang zu einem Sterbenden.

Die Professionalisierung für diese Aufmerksamkeit erweist sich immer auch als brüchige Antwort. Denn die Aufsplitterung eines sterbenden Menschen in bio-psycho-sozial-spirituelle Anteile, die jeweils gesondert voneinander professionell behandelt werden, wird den Betroffenen wenig gerecht und führt immer wieder zu klassischen professionellen Zuständigkeitsdebatten.

Im Angesicht des Todes als der letzten (oder ersten) möglichen großen Transzendenzerfahrung im Leben eines Menschen darf es jedoch nicht um Fragen der Diagnostik psychischer Dysfunktionen oder professioneller Kompetenz- und Zuständigkeitsdebatten gehen. Vielmehr stellt sich hier die Frage, welches Potential psychotherapeutische Ansätze mitbringen, Transzendenzerfahrungen zu begleiten bzw. zu unterstützen?

Im Sterbeprozess steht der sterbende Körper eines Menschen auf besondere Weise im Mittelpunkt der professionellen Aufmerksamkeit und körperliche Symptome dominieren über psychisch-seelische Bedürfnisse. Bislang wenig im Kontext Palliative Care und Hospizarbeit beachtet, könnten beispielsweise körperpsychotherapeutische Ansätze einen Beitrag zu einer ganzheitlichen Begleitung und einem ganzheitlichen Blick am Lebensende beitragen.

Autoren

Prof. Dr. Andreas Heller, M.A., ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliative Care und Organisationsethik an der IFF-Fakultät der Universität Klagenfurt, Wien, Graz und leitet dort den Masterstudiengang Palliative Care, den Universitätslehrgang Sorgekultur im Alter, das internationale DoktorandInnenkolleg, ist Herausgeber der Zeitschrift Praxis Palliative Care, im Editorial Board des Journal of Palliative Care und Hauptherausgeber der Reihe Palliative Care und Organisationsethik (22 Bde.) im Lambertus Verlag in Freiburg.

Mag.a Claudia Wenzel ist Klinische- und Gesundheitspsychologin, Craniosacrale Osteopathin, Sozialwissenschaftlerin und seit 2006 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Wien, Graz, Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (Wien), Abteilung Palliative Care und OrganisationsEthik tätig. Aktuell promoviert sie zum Thema „Komplementäre Heilverfahren in Hospizarbeit und Palliative Care.“

Korrespondenz

E-Mail: Andreas.Heller@aau.at

E-Mail: Claudia.Wenzel@aau.at

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