Paul U. Unschuld (2016). Chinas Trauma – Chinas Stärke. Niedergang und Wiederaufstieg des Reichs der Mitte

Berlin, Heidelberg: Springer Vieweg. 187 Seiten. 23,00 EUR

Psychotherapie-Wissenschaft 8 (2) 91–92 2018

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/8243.19

Mal ist es die Angst im Westen vor China als dem «grossen Unbekannten». Mal ist es die Angst vor der «Tiger-Mutter», die durch ihre Publikationen in den USA überaus erfolgreich die Überlegenheit chinesischer Werte propagiert. Heute ist es die Industrienation China, die die Angst weckt, durch Unternehmensübernahmen nur das technologische Wissen zu rauben, um es dann gen Osten schaffen zu wollen. China ist die zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt und wirkt vor allem in jüngster Zeit politisch stärker und mächtiger denn je.

Schaut man aber genauer hin, blickt man hinter den Vorhang der historischen Geschehnisse, wird klar, dass die Geschichte Chinas die Geschichte einer jahrhundertelangen Besetzung durch fremde Mächte ist, die einer Kette von kollektiven und persönlichen Traumatisierungen gleicht, einer Kette von Demütigungen, militärischen Niederlagen, Verlust an Territorium, Souveränität und von kultureller Identität.

Wie hat China auf diese «Traumata» reagiert? Das ist die Frage, der das Buch Chinas Trauma – Chinas Stär­ke von Paul U. Unschuld nachgeht. Die Antwort ist verblüffend einfach und doch welthistorisch einmalig. China hat nicht auf den Aggressor geschaut und ihm seine Erniedrigung angelastet, auch wenn viele Chinesen dies so noch heute erleben. Die chinesische Politik, die offizielle, medial-sichtbare Politik, hat sich stattdessen einer schonungslosen Selbst-Analyse unterzogen und die Schwächen identifiziert, die das Land zum Opfer fremder Aggression werden liessen. Die Konsequenz dieser Selbsterkenntnis ist heute sichtbar. China hat sich alle Mühe gegeben, aus der westlichen Zivilisation, Kultur, Technik und Wissenschaft das zu übernehmen, was es zu seiner Wiedererstarkung benötigt. Momentan hat es die «vierte Stufe» dieses Erneuerungsvorgangs erreicht und fühlt sich nun auch wieder stark genug, die eigene Kultur zu schützen und gegen weitere, westliche Einflüsse abzusichern.

Unschulds Buch zeigt die historische Entwicklung auf, basierend auf einer traditionell tief verwurzelten Mentalität Chinas, die weltweit einzigartige Fähigkeit zu haben, die Ursachen von den durch fremde Mächte verursachten Traumata bei sich selbst zu suchen. Unschulds Buch öffnet dem interessierten, kritischen Leser die Augen und seine gründliche Analyse des modernen China stellt einen komplementären Kontrapunkt im gesellschaftlichen Diskurs des Westens, aber auch in der medialen Berichterstattung dar. Unschuld liefert kenntnisreich tiefe, vor allem neue Einblicke in die Geschichte Chinas, seine Entwicklung von seinen Lebenswissenschaften hin zu einer politischen Aktualität, wie es das moderne China unter Beweis stellt. Natürlich ist der chinesische Weg, der chinesische Prozess aus den «Traumata» zu lernen, ein sehr schmerzhafter gewesen. Unschulds Buch ermöglicht Einblick und Verstehen in die verwundete, chinesische Psyche. Gerade dieser Zugang hilft sowohl die innenpolitische wie aussenpolitische und wirtschaftspolitische Haltung Chinas auch als einen Versuch der erfolgreichen Überwindung besagter «Traumata» zu sehen. Unschuld schaut nicht zu Unrecht zudem durch die medizin-historische Brille, indem er Chinas Prozess der «Selbstdiagnose» mit einer «Selbstverschreibung von Therapie» vergleicht. China ist nach Unschuld einem Organismus gleich, einem Prozess der gesellschaftspolitischen Selbstmedikation, so wie es in der traditionellen chinesischen Medikation üblich ist, unterworfen. (Auch) die Ursachen von Traumatisierung bei sich selbst zu suchen, um diese zu überwinden, kann, und das möchte ich an dieser Stelle betonen, bei manch einer westlichen Vorstellung von Trauma sowie Traumatherapie heftigen Widerspruch hervorrufen.

Der Umgang mit Traumata, Traumatherapie, allgemein gesehen, vollzieht sich grundsätzlich in drei Phasen: Stabilisierungsphase, Trauma-Aufarbeitungsphase, In­te­grationsphase. Historisch gesehen, so könnte man nun Unschulds Ausführungen auch deuten, befindet sich China in einer für die Gesellschaft wichtigen Stabili­sierungsphase. Die Bevölkerung in China weiss um die jahrhundertelange Traumatisierung. Es wird darüber (vermehrt, wenn auch noch nicht politisch offiziell gefördert) geredet und doch sieht man sich in der Gesellschaft mit den überflutenden Traumabildern, mit den Ängsten, den Albträumen sowie einer oftmals unbändigen, ohnmächtigen Wut konfrontiert. Chinesen, so scheint es, beginnen seit einiger Zeit frühere, historische Gewalterfahrungen zu verbalisieren, sich hierüber mit anderen auszutauschen. Auch wenn verschiedene Themen wie Kulturrevolution und Massaker am Tian’anmen Platz nur bedingt im öffentlichen Diskurs erlaubt sind. Die Probleme der kollektiven Erinnerung und deren individueller Verarbeitung sowie die psychotraumatischen Folgen werden sowohl durch die neuen Medien zusätzlich belebt als auch durch psychologische und psychotherapeutische Praxis verstärkt ins individuelle, aber auch ins gesellschaftliche Bewusstsein gehoben. Viel von dem, was zur Stabilisierungsphase gehört, wird aber von westlicher Berichterstattung nicht nur falsch eingeschätzt, sondern auch mit heftiger, transkulturell nicht genügend abgewogener Kritik belegt. Hierdurch kommt es zu einem transkulturellen, brisanten Spannungsfeld. Unschulds Ausführungen können daher ein wichtiger Beitrag sein, in diesem Spannungsfeld eine komplementäre Perspektive so zu eröffnen, dass mehr Ausgewogenheit bei der Betrachtung des Zusammenspiels von kollektiver Traumatisierung, Stabilisierungsphase und möglicherweise berechtigter kritischer Einwendung ermöglicht wird. Seine Ausführungen können auch als ein Plädoyer dafür gewertet werden, dem herkömmlichen, westlichen Verständnis von Trauma(-behandlung) die Notwendigkeit einer transkulturellen Betrachtung hinzuzufügen.

Führt man sich zudem die gesellschaftliche, kulturelle Mentalität sowie das spezifische, emotionale Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und Politik in China vor Augen, darf man nicht die Angst auf beiden Seiten übersehen: Die Angst der Menschen vor einer zu (zu) mächtigen Politik, aber auch die Angst der Politik vor der Emotionalität der Menschen, vor der gesellschaftlich-kulturellen «Affekt-Bereitschaft» in China. Insoweit scheinen Gesellschaft und Politik (auch) durch Angst miteinander verbunden, sowie voneinander abhängig zu sein. Dieses Beziehungsmuster scheint eine wechselseitige Stabilisierung zu bewirken. Deutet eine solche Beziehung gar auch auf ein im Verborgenen liegendes kulturelles Beziehungsmuster Chinas hin?

Unschulds Buch, seine kundigen und differenzierten Ausführungen über die kollektive Traumatisierung in China beleuchten einerseits die spezifische Situation in China und in Bezug auf die chinesische Gesellschaft. Andererseits verdeutlicht Unschuld die enorme Herausforderung an eine psychologische, aber auch gesellschaftskritische Betrachtung von kollektiver Traumatisierung generell. Ist es doch sinnvoll und wichtig, sich sehr genau mit der spezifischen Situation in einer Population, einer Gesellschaft oder einem kollektiven Raum zu befassen, bevor man (leider oftmals voreilig) Rückschlüsse zieht; Rückschlüsse darüber, wie man die Situation (leider oftmals nur von aussen gesehen) meint bewerten zu müssen. Hierauf aufbauend ist es ebenso wichtig, einen spezifischen Umgang mit einer solchen Situation abzuleiten.

Ist man als Psychotherapeut in diesem kollektiven Erfahrungsraum unterwegs oder will man sich diesbezüglich ein relevantes Verständnis aneignen, bedarf es unbedingt einer transkulturellen Betrachtung. Diese bezieht sich auch auf die realen Verhältnisse in der jeweiligen Population oder Gesellschaft, auf kulturelle Verhaltens- und Beziehungsmuster. Diese Betrachtung würdigt gerade hierdurch das (kollektive) Erleben der jeweiligen Population/Gesellschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung. Sie bezieht sich aber auch auf das emotionale Echo, die Gegenübertragung desjenigen, der eine solche Betrachtung vornimmt. Ist man als Betrachter selbst doch immer auch Teil des Geschehens.

Ulrich Sollmann