Rezension

Friederike Scherr

Buer, F.: Psychodrama und Gesellschaft

Wege zur sozialen Erneuerung von unten. Reflexionen – Dialoge – Konzepte

379 S., VS / Springer, Wiesbaden, 2010. EUR 39,95 (D) / EUR 41,10 (A) / CHF 64,00 UVP. ISBN 978-3-531-17342-9

Ferdinand Buer, geboren 1947 in Osnabrück, studierte Erziehungswissenschaft mit den Nebenfächern Soziologie und Psychologie sowie Philosophie, Theologie und Germanistik an den Universitäten Münster und Freiburg i. Br. und ist seit 1995 außerplanmäßiger Professor an der Universität Münster im Fach Soziologie. Darüber hinaus ist Ferdinand Buer ausgebildeter Psychodramatiker, seit 1989 Gründer und Leiter des Psychodrama-Zentrums Münster und betreibt seit 1994 eine freie Beratungspraxis für Fach- und Führungskräfte. Buer ist auch als Dozent in zahlreichen Fort- und Weiterbildungen in Psychodrama, Supervision und Coaching tätig.

Der vorliegende Sammelband dokumentiert die langjährige wissenschaftliche und praktische Auseinandersetzung des Autors mit J. L. Morenos Psychodrama und Soziometrie und deren praktischer Anwendung in der „professionellen Beziehungsarbeit“. Leitfaden bzw. zentraler Bezugspunkt für die ausgewählten Beiträge, welche zwischen 1989 und 2007 entstanden und auch bereits publiziert wurden, ist der gesellschaftsverändernde und basisdemokratische Anspruch Morenos, der eine wesentliche Triebfeder für die Entwicklung seiner Theorie und Aktionsmethoden war. Gerade diese Intention ist für Buer untrennbar mit der psychodramatischen und soziometrischen Praxis verbunden und ist wesentlicher Bestandteil ihrer Qualität.

Der gesellschaftspolitische Hintergrund, diesbezügliche theoretische Bezüge und Intentionen Morenos sowie mögliche Realisierungen werden in drei Abschnitten untersucht, unter den Titeln: Reflexionen, Dialoge und Konzepte.

Im ersten Abschnitt Reflexionen wird Morenos Aktionsmethode rekonstruiert und aktualisiert, indem der Autor Verbindungen zu älteren Theorien und Konzepten herstellt. Er geht den von Moreno selbst genannten theoretischen Bezügen nach und diskutiert sie und erarbeitet Vergleiche und Anbindungen an jüngere Entwicklungen.

Buer beginnt mit der Darstellung von Morenos Projekt der Gesundung: Therapeutik zwischen Diätetik und Politik. Der Autor arbeitet darin u. a. wesentliche gemeinsame Momente mit verschiedenen älteren, ganzheitlichen Traditionen der Heilkunst heraus sowie Bezüge und Unterschiede zu für Moreno wichtigen Personen, wie z. B. Mesmer und Freud.

Nach der Darstellung des Psychodramas als antirituelles Ritual, das die Möglichkeit bietet, konservative Rituale aufzulösen und kreative, neue, möglicherweise stimmigere zu entwickeln, folgen drei Aufsätze, in denen der Autor Morenos Philosophie und ihre Verbindung zum Marxismus, Anarchismus und Pragmatismus analysiert. Moreno bezog sich selbst auf diese Theorien bei der Entwicklung seiner Methoden in Hinblick auf eine solidarische, egalitäre und friedliche Gesellschaft, die durch selbstbestimmte und schöpferische Menschen aktiv gestaltet wird. Soziometrie und Psychodrama sah Moreno als „Revision des Marxismus vom Gesichtspunkt der Mikrogruppe aus.“ So werden im ersten Aufsatz Morenos Kritik am Marxismus, die marxistische Kritik an Moreno, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede und die Parallelen zu späteren Ansätzen, wie bei Max Adler, Marcuse, Adorno und vor allem Ernst Bloch herausgearbeitet. Etliche Parallelen von Morenos Entwurf gesellschaftlicher Veränderung sieht Buer zum Anarchismus, insbesondere zu Gustav Landauer, wie etwa der „Wille zur Tat“, die Veränderung von unten durch autonome Selbstorganisation der Gesellschaft sowie das Prinzip der Anziehung und Abstoßung als zentrales Organisationsprinzip. Die Verbindung von Morenos Philosophie zum Pragmatismus findet sich in der Tradition der Lebensphilosophie, den Erziehungsexperimenten von John Dewey und der soziologischen Rollentheorie von Georg Herbert Mead. Wesentliche gemeinsame Aspekte des Pragmatismus und des Psychodramas sind der Mensch als „Akteur im Weltendrama“, Lernen durch Probehandeln, Rollentausch und Sharing als solidarisches Handeln, die Verantwortung für das eigene Tun und Psychodrama als „genossenschaftliche Selbsthilfegruppe“.

Im zweiten Abschnitt Dialoge führt der Autor Gespräche mit Experten aus angrenzenden Wissenschaftsbereichen und der Psychodramatikerin Grete Leutz. In diesen Dialogen werden Themen aus dem ersten Abschnitt noch einmal vertieft, aber auch neue Aspekte eingebracht. Im Gespräch mit Grete Leutz erfährt man einiges aus dem Leben, der Arbeitsweise und den Intentionen Morenos aus nächster Nähe. Psychodrama und Kibbuz als zwei Modelle der Verwirklichung gesellschaftlicher Utopien werden im Gespräch mit Wolfgang Melzer untersucht. Die Beziehungen des Psychodramas und des Theaters, insbesondere theaterästhetische Betrachtungen, sind Gegenstand des Gespräches mit dem Erziehungswissenschafter und Theaterregisseur Martin Jürgens.

Ein Gespräch mit dem Philosophen Ferdinand Fellmann zum Verhältnis von Philosophie und Psychodrama und dem Psychodrama als philosophische Praxis und mit dem Soziologen Sven Papcke über Moreno und die Soziologie als ein spannendes Verhältnis vertiefen und erweitern hier den ersten Abschnitt der Reflexionen auf lebendige und inhaltsvolle Weise.

Der dritte Abschnitt Konzepte führt in die praktischen Anwendungsgebiete von Psychodrama und Soziometrie und geht der Frage nach, wie die gesellschaftsverändernde Intention Morenos beibehalten werden kann. In diesem Abschnitt beschreibt Buer komprimiert wesentliche Konzepte Morenos wie z. B. zentrale Aspekte psychodramatischer Arbeit und der dafür nötigen Anforderungen, Kernpunkte psychodramatischer Haltung oder Morenos Kreativitätsbegriff. Zugleich präsentiert Buer die von ihm eingeführte Trennung von Verfahren, wie z. B. das Psychodrama oder auch andere Therapierichtungen, und Format als neuer Begriff für institutionelle Handlungsfelder „professioneller Beziehungsarbeit“. Anhand der Formate Bildungsarbeit, Personalarbeit in Organisationen, Beratung, Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung werden die Besonderheiten und Probleme dieser Praxisfelder und die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von psychodramatischen und soziometrischen Methoden erläutert. Der emanzipatorische Ansatz Morenos und das Konzept der schöpferischen Lebensbewältigung werden zusätzlich in einem Vergleich zwischen der Aufstellungsarbeit nach Bert Hellinger und der Aufstellungsarbeit bei Moreno und in der Verbindung des Begriffes Managementkompetenz mit dem Konzept der Kreativität von Moreno herausgearbeitet.

Der Sammelband bietet einen umfangreichen Einblick in das Werk Morenos und in seine Intention, durch seine Methoden zu einer positiven Veränderung und Gestaltung des Zusammenlebens, und somit zu einer „Gesundung“ der Gesellschaft, beizutragen. Im Nachspüren der von Moreno hergestellten Bezüge zu anderen Theorien und politischen Bewegungen sowie der Herstellung neuer Bezüge werden Morenos Konzepte in einen geistesgeschichtlichen Kontext eingebettet, und so seine ‚Anleihen‘, aber auch sein Beitrag sowie die Schwächen sichtbar. Sehr treffend erscheint mir die Sichtweise des Philosophen Ferdinand Fellmann, der Moreno aus geisteswissenschaftlicher Sicht als eine „seismographisch begabte Figur“ bezeichnet, welche die verschiedenen gegenläufigen Strömungen der geistigen Entwicklung zu Beginn des letzten Jahrhunderts aufnimmt und reflektiert, und der versucht, bestehende Ideen, in die Praxis umzusetzen.

Das Buch bietet vielschichtige Informationen und Anregungen für die Auseinandersetzung mit den Konzepten Morenos sowie für die praktische Anwendung und Weiterentwicklung. Zusätzlich bietet es Einblick in eine Reihe europäischer und z. T. amerikanischer Theorien und Denkmodelle, wodurch insbesondere der erste Abschnitt der Reflexionen sehr dicht geraten ist. In den Dialogen ist die Dichte durch die Gesprächsform aufgelockert, aber nicht weniger spannend. Hervorzuheben wären die Gespräche mit dem Philosophen Ferdinand Fellmann und dem Soziologen Sven Papcke. Alles in allem findet man in dem Band sowohl biografische als auch theoretische und praktische Inhalte, und er hat den Vorteil, dass durch die Eigenständigkeit der einzelnen Artikel das Buch auch nach den jeweiligen Interessensschwerpunkten gelesen werden kann.