Interview

Gustl Marlock

Plädoyer für Respekt in der Psychotherapie vor der emotionalen Feinfühligkeit und gesellschaftlichen Intelligenz sorgenvoller und betroffener Menschen

Zusammenfassung: Der Autor sieht drei typische Reaktionsbildungen auf die Krise: 1. Die Krise implodiert autoaggressiv ins Innere der Menschen, 2. Einübung von „Lebenskunst“ im Sinne von pragmatischer Gelassenheit, 3. Kritik, Protest und Revolte als Gegenbewegung zur Implosion.

Marlock betont, dass Perspektiven und Modelle für eine Neu-Orientierung fehlen. Psychotherapie sollte, statt die Krise zudeckend zu bearbeiten, Zustände von Sorge und Betroffenheit als emotionale Feinfühligkeit und gesellschaftliche Intelligenz sowie angemessene Wahrnehmung unterstützen bzw. entwickeln.

Schlüsselwörter: Reaktionsmuster auf Krise, Grenzen von Psychotherapie, Kapitalismus, Postmoderne, Louis XIV, Lernen und Kreativität, ökonomische Effizienz in der Sozialarbeit,

Abstract: A plea for respect in psychotherapy in light of the emotional delicacy of feelings and the social intelligence of worried and affected people. The author points out three main patterns of reaction to the crises: 1. The crises auto-agressively implodes into the inner world of the people, 2. The practice of the art of living as hedonism in the sense of serenity, 3. Criticism, protest and revolt as a counter movement to implosion. Marlock also points out that there is a lack of re-orientation of specific perspectives and role models. Psychotherapy, instead of covered working, should support and develop the state of concern and consternation as expression of emotional delicacy of feeling and should foster social intelligence as well as appropriate awareness.

Keywords: Reaction patterns on crisis, limits of psychotherapy, capitalism, postmodern era, Louis XIV, learning and creativity, economic efficiency in social work.

Das Interview fand im Dezember 2011 statt; die Fragen stellte Ulrich Sollmann

1. Wie schätzen Sie die aktuelle Krisensituation ein? Welches sind typische Merkmale? (z.B. extremer Anstieg der Suizidrate in Griechenland?)

Ich glaube nicht, dass ich wirklich qualifiziert bin, die gegenwärtige Krisensituation, vor allem was die ökonomische Dynamik betrifft, systematisch einzuschätzen. Meine Kenntnisse der politischen Ökonomie sind eigentlich, was ihre grundlegenden Denkfiguren betrifft immer noch auf dem Stand der siebziger Jahre und zu dem damaligen Zeitpunkt war weder vorauszusehen, dass sich die Finanzmärkte und die Möglichkeit dort Kapital zu vermehren zu einem Bereich entwickeln sollten, der nun wichtiger als die eigentlichen, mehrwertproduzierenden Sektoren ist. Und dass diese Entwicklung so weit gehen würde, dass die Dynamik der Kapitalvermehrung auf den Finanzmärkten die klassische Industrieproduktion selbst in Mitleidenschaft ziehen würde. Und es war auch nicht vorauszusehen, dass die Staatsverschuldungen so zunehmen würden, dass sich die Mehrheit der Staaten der nordatlantischen Region – die USA eingeschlossen – eigentlich permanent am Rande der Insolvenz befinden. Was nun die Spiele hinter den Kulissen betrifft, so glaube ich, sind wir im Augenblick noch mal an einem anderen Punkt angelangt als vor zwei oder drei Jahren. Bei der letzten Krisenspitze wurde Geld damit verdient, Anlegern „faule“ Papiere „anzudrehen“. Im Augenblick spitzt sich die Situation offensichtlich darüber zu, dass man mit der Spekulation auf einen möglichen Staatsbankrott reich werden kann; allerdings nur, wenn man Zugang zu den virtuellen Zockercasinos, die sich abseits der normalen Börsengeschäfte entwickelt haben, hat. 2009 war das Geschrei groß, allenthalben wurden stärkere Kontrollen und zumindest eine Beschneidung der extremen Ausprägungen des Spekulationsgeschäfts gefordert. Allerdings ist nichts wesentliches passiert; außer Madoff, der nun wirklich zu dreist betrogen hat, ist keinem der damaligen Akteure, die bis in die höchsten Reihen an zwielichtigen betrügerischen Aktionen beteiligt waren, wirklich etwas passiert. Der Filz aus Finanzaufsichtsbehörden, Banken und Titanen des Börsengeschäfts war zum Beispiel in den USA viel zu stark, als das irgendjemand zur Rechenschaft gezogen worden wäre oder mit seinem angesammelten Vermögen zumindest zu Wiedergutmachung hätte beitragen müssen. Und die stärkere Kontrolle und Regulation der Finanzmärkte ist ausgeblieben; sie ist jetzt wieder erneut im Gespräch, aber es bleibt abzuwarten, ob daraus wirklich etwas wird. Im Grunde genommen bestand der ganze Witz der letzten Krise darin, dass die Verluste sozialisiert wurden, und die anschließenden Gewinne natürlich bei den Banken oder den Gewinnern auf den Finanzmärkten blieben. Ähnliches scheint mit den Rettungsfonds in Bezug auf Griechenland und andere südeuropäische Länder zu passieren.

2. Was für einen sozialen und psychologischen Einfluss haben vier Jahre Krise auf die Menschen ausgeübt? Welches sind typische Bewältigungsstrategien? Und wie hat sich dies auch innerhalb der Psychotherapie geäußert? Was hat sich dabei aus Ihrer Sicht, die Sie 2010 hier geäußert hatten, bestätigt oder aus welchem Grund etwa nicht?

In Bezug auf die psychischen Auswirkungen könnte man drei verschiedene Reaktionsbildung oder Verarbeitungsweisen beschreiben. Im ersten Fall, wie bei der erhöhten Anzahl von Suiziden in Griechenland, implodiert der gesellschaftliche Ausnahmezustand autoaggressiv ins Innere der Individuen. Was an diesen entsetzlichen Schicksalen auffällt, ist, dass sie so gut wie keinen merkbaren Widerhall in den Medien und deren Berichten und Diskursen über die gegenwärtige Krise finden. Massen medial gesehen sind diese Einzelschicksale kaum von Interesse. Die Struktur der Medien mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf kurzfristige Reize, alarmistischen Hype und imperialer Berichterstattung interessieren sich nicht dafür. Aber selbst die Literatur, die sich klassischerweise um die Dimensionen menschlicher Schicksale und deren Tragweite bemühte, schafft es kaum diese unterhalb der Ebene imperialer Hofberichterstattung liegenden existenziellen Dimensionen einzufangen. Es gibt niemand von der Größe Brechts, der in der Lage wäre, dem Überlebenskampf der so genannten kleinen Leute in der Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen.

Auch die Psychotherapie ist in diesem Zusammenhang wenig erfolgreich. Ihre Grundparadigmen zu denen ein medizinisch-kurativer Ansatz und ein kurzschlüssiger Kausalitätszusammenhang zwischen Gegenwart und früher Kindheit gehört, verhindern eine mehr politisch ausgerichtete Rekonstruktionen des Zusammenhangs zwischen der Krise der ökonomischen Lebensbedingungen und der Dekompensationen oder dem Zusammenbruch von Individuen.

In den psychosomatischen Kliniken, zum Beispiel, ist personell und institutionell ein immenses Wissen über den Zusammenhang zwischen verschärften Realitätsanforderungen und psychosomatischer Dekompensationen vorhanden. Allerdings bleiben auch hier Therapeuten in der Regel höchstens diskrete Mitwisser und meist gelingt es nur innerhalb des verschwiegenen therapeutischen Raumes den Zusammenhang zwischen individuellem Leid und dem sozialen Kontext sprachfähig zu machen.

Wir haben vergessen, dass in der Eröffnung eines Sprachraums, in dem vordergründig unverständliche symptomatische Ausdrucksweisen der Menschen über die Konstruktion erhellender Zusammenhänge und Evidenzen verständlich, veränderbar und heilbar werden. Freud hat genau dies mit der hysterischen Symptomatik getan. Mit dem von ihm konstruierten Zusammenhang von hysterischer Symptomatik, eingeschnürter Weiblichkeit und unterdrückter Sexualität – bewies er nicht nur ein außergewöhnliches Gespür für die kulturelle Dimension der Krankheitsbilder, sondern er half auch das gesellschaftlich Ausgegrenzte bzw. Unterdrückte, das sich in der hysterischen Symptomatik nur verschoben und schwer verständlich ausdrückte, zu entziffern. Freud und die junge Psychoanalyse hatten eine außerordentliche Bedeutung für die Anerkennung der weiblichen Sexualität. Sie waren in dieser Hinsicht im 20. Jahrhundert enorm folgenreich. Ich versuche mit dem eben gesagten darauf aufmerksam zu machen, dass Psychotherapie vor allem in ihren inspirierteren Phasen in der Moderne nicht nur Krankheiten heilt sondern Lebensentwürfe und Selbstversuche initiiert, die über den Möglichkeitenhorizont der jeweiligen Epoche weit hinausgehen.

Die 2. und wahrscheinlich größte Gruppe übt sich in der Einübung von „Lebenskunst“. Zu ihr gehört ein klarer naivitätsloser Blick darauf, dass das Spiel ohnehin woanders und von anderen gespielt wird. Ich finde es eher erstaunlich mit wie viel pragmatischer Gelassenheit und Intelligenz ein Großteil der Zeitgenossen mit der gegenwärtigen Situation umgeht. Wir stellen uns darauf ein, dass die Gegenwart unüberschaubar und die Zukunft alles andere als vorhersagbar und rosig ist. Wir begreifen zunehmend, dass die Interventionen der Politik eher an die Beschwörungsmedizin afrikanischer Buschmediziner erinnern – nach dem Motto, wenn man lange genug die Trommel schlägt, regnet es. An der einen oder anderen Stelle fangen wir auch an grundlegendere Überlegungen anzustellen. Ob vielleicht irgendetwas an dem Lebensstil, den wir in den letzten Jahrhunderten entwickelt haben, fundamental verkehrt ist – ob es radikalerer Formen des Umdenkens bedarf – ob wir mit der süchtigen Orientierung am grenzenlosen Konsum am Ende die seelische Innendimensionen aushöhlen und entleeren und das Verhältnis von Haben und Sein – eine klassische Formulierung von Fromm – empfindlich ins Ungleichgewicht gebracht haben.

Damit wären wir schon bei der dritten Kategorie der skizzierten Reaktionsweisen. Es handelt sich um Gegenbewegungen zur Implosion, also um Kritik, Protest und Revolte. Natürlich kann man die Occupy-Bewegung belächeln. Ihre an der Ästhetik der Obdachlosigkeit orientierte Selbstinszenierung ist für die Schlaraffenlandmentalität des Konsumbürgertums, welches das alte Bildungsbürgertum längst abgelöst hat, sicherlich alles andere als attraktiv. Dennoch genießt diese Bewegung hohe Attraktivitätswerte, und sie ist ein Teil einer wachsenden Welt junger Erwachsener, die zunehmend weniger durch Teilnahme und Teilhabe in das System integriert ist. Georg Steiner, einer der letzten großen Gelehrten und Humanisten, hat kürzlich noch einmal darauf hingewiesen, dass dies einer der beunruhigenden Skandale am Anfang des 21. Jahrhunderts ist. Die Lebensperspektiven dieser jungen Generation fallen sehr spärlich aus, vor allem weil man sie als Arbeitskräfte nicht wirklich braucht, schon gar nicht entsprechend ihrem hohen Bildungsniveau. Die Ereignisse in den arabischen Ländern haben gezeigt, dass sich der latente Unmut der jüngeren Generation und die sich verflüchtigende Loyalität und Anbindung an die etablierte Gesellschaft sehr schnell zu einer Dynamik ausweiten kann, die niemand vorausgesehen hätte. In den westlichen Gesellschaften rechnen die Ton angebenden Kreise, zu denen neben der Politik und der Wirtschaft auch die Medienwelt und Kulturschickeria gehört, natürlich nicht mit solchen Entwicklungen. Das hat auch die arabische Oberschicht nicht getan, auch nicht die restaurierten Machtkreise der Bundesrepublik vor 68 und auch nicht die französische Aristokratie vor 1789. Es geht mir bei dem eben gesagten nicht um Revolutionspropaganda sondern um den Hinweis darauf, dass Gärungsprozesse im gesellschaftlichen Unbewussten vor allem, wenn sie mit Unmut, Frustrationen und Einsichten in die Ungerechtigkeit und Unwahrheit gesellschaftlicher Zustände fermentiert sind, hochexplosiv werden können.

3. Sie haben sich 2010 zur möglichen Neuorientierung der Menschen aus der Krise heraus geäußert. Wie sehen Sie die Situation aus heutiger Sicht?

Ich glaube, dass die Frage nach einer neuen Orientierung viel zu schnell gestellt ist. Im Grunde genommen, können wir im Augenblick allerhöchstens Verunsicherung feststellen, natürlich auch mit den dazugehörigen Abwehrprozessen und den auch Massen medial verbreiteten Hoffnungen, dass es vielleicht am Ende gar nicht so schlimm kommen wird. Und wenn man davon ausgeht, dass in der Tiefe der Krise nicht nur das Finanzsystem sondern auch die ausschließlich auf Profit, ständiges Wachstum und Steigerung des Konsums ausgerichtete Produktionsweise infrage steht, dann weiß man, dass eine Umorientierung alles andere als leicht sein wird. Was an dieser Stelle auch fehlt sind Perspektiven und Modelle. Diese wären aber notwendig, damit Menschen über den Horizont der Gegenwart hinaus schauen könnten. Es scheint vielmehr so zu sein, dass der Spätkapitalismus an seine Grenzen stößt, und sein Versprechen, dass es sich um die bestmögliche Gesellschaftsform handle, angeschlagen ist. Der Kommunismus ist keine wirkliche Alternative, weil er sich im letzten Jahrhundert grundlegend als gescheitert und totalitär pervertiert gezeigt hat. Die sozialdemokratischen Spielarten, die eine Alternative zum Leninismus versuchten, scheitern im Augenblick am Problem der immensen Staatsverschuldung und der Tatsache, dass in Ländern wie China eine rechtlose Arbeiterklasse zu ungleich günstigeren Bedingungen zu haben ist, als dies im Westen der Fall wäre. Und man darf nicht vergessen, dass die wenigen hoffnungsvollen Alternativen eines 3. Weges zwischen Kommunismus und Kapitalismus wie zum Beispiel Prag 68 oder Chile mit Gewalt zerstört wurden, noch bevor sie eine Chance gehabt hätten, mithilfe der immensen Begeisterung, Massenloyalität und Hoffnung, die sie generierten, aufzublühen. Auch solche Erfahrungen lagern sich im kollektiven Unbewussten ab.

Eine Umorientierung hat nicht nur etwas mit äußeren Umständen oder Referenzpunkten zu tun. Es gilt zu verstehen, dass Außen und Innen, gesellschaftlicher Kontext und psychische Dispositionen über grundlegende Mentalitäten verbunden sind. Dem schlaraffenlandmäßigen Warenfetischismus zum Beispiel, der die gegenwärtige Konsumwelt kennzeichnet, entspricht eine innere Disposition in den Individuen, nach der das gelungene Leben hauptsächlich daran zu erkennen ist, dass wir alles haben können, was wir wollen. Derartige Subroutinen sind mittlerweile in die psychischen Betriebssysteme der Postmoderne massiv eingeschrieben. Sie funktionieren ähnlich wie bei Süchtigen, ohne dass sie explizit auf dem Bildschirm des Bewusstseins erscheinen. Auch die Erfahrung, dass die Befriedigung von kurzer Dauer und weit entfernt von den versprochenen Zuständen bleibt, hat bis dato keinen grundlegend korrigierenden Effekt.

Ich glaube, dass auch die psychotherapeutischen Diskurse, die ohnehin auf dem sozialen Auge an Sehschwäche leiden, und sich stattdessen auf methodische und behandlungstechnische Fragen konzentrieren, keine wirklich wegweisende Perspektiven eröffnen. Schon in dem letzten Interview hatte ich angedeutet, dass mir zum Beispiel der Begriff der Gier, mit dem versucht wird die Dynamik der entfesselten Finanzmärkte zu erklären, viel zu reduktionistisch ist. Im Grunde genommen wird hier über die Freudsche Triebtheorie die alte aristotelische Tierseele als letztendliche Ursache bemüht. Und auch die Narzißmusfigur hilft nicht wirklich weiter; weil dieser arme Jüngling aus der Antike nicht wirklich narzisstisch im modernen Sinn war und darüber hinaus mit der „let’s have it all“ Mentalität der Postmoderne überhaupt nichts zu tun hat. Im Gegenteil er war – das kann man bei Ovid nachlesen – ein spröder, selbstgenügsamer Lustverweigerer. Ich habe darauf hingewiesen, dass Ludwig XIV. sich wesentlich besser eignet, als psychohistorischer Ahnherr der gegenwärtigen Lage zu fungieren. Mit dem Sonnenkönig wird der narzisstische Lebensstil hoffähig. Die ehrgeizige Mutter leistet die Vorarbeit und er selbst vollendet die grandiose Selbstinszenierung in einer vorher nie dagewesenen Perfektion. Vieles, was wir in der Postmoderne als Ingredienzen eines gelungenen Lebensstils und Hochgefühls genießen, entsteht während seiner Herrschaft und macht Paris zur Metropole des gehobenen Lebensstils in Europa. Der Spiegelsaal ist nur der konzentrierteste Ausdruck davon wie Ludwig seine Größe, seinen Glanz und seine Macht im äußeren gespiegelt sehen wollte; in seinem Schloss, seinen attraktiven Mätressen, seinen Künstlern und den Spektakeln, die er in Versailles organisieren ließ. Letztere sind übrigens die Vorläufer der heutigen event-culture. Sollten sie starke Anklänge an die postmoderne Situation und die Art und Weise, wie sich Politiker, Firmen und die Individuen heute inszenieren entdecken, so liegen sie glaube ich richtig. In unseren narzisstischen Anteilen sind wir offen oder versteckt allesamt Ur-Urenkel des Sonnenkönigs, also Royale Persönlichkeiten.

4. Was ist an die Stelle alter Sicherheiten und zerstörter, desillusionierter Lebensentwürfe getreten? Wo finden Menschen Sicherheit in der heutigen Zeit, wenn Wirtschaft, Politik usw. versagen?

Diese Frage impliziert eine wie auch immer geartete Vorstellung davon, dass in der gegenwärtigen Situation die Erfahrung von Sicherheit von zentraler Bedeutung sein könnte. Warum eigentlich? Man könnte fragen, ob zum Beispiel für die schwerwiegend Betroffenen die Erfahrungen von Solidarität nicht vielleicht grundlegender sein könnte; oder eine Öffentlichkeit, die deren Trauer, Wut und Verunsicherung anders als in kurzfristigen Sensationsmeldungen anerkennen würde. Und schließlich wissen wir, dass für die Entfaltung von Kreativität und dem Lernen von Neuem, das Aufgeben von Sicherheit und Vertrautem von entscheidender Bedeutung sind. Handelt es sich bei unserer Betonung von Sicherheit vielleicht einfach nur um einen unreflektierten Ausdruck jener therapeutischen Märchen, die in der Postmoderne kursieren und die Erwachsene mit Kindern verwechseln?

In Krisensituationen ahnen wir in der Regel etwas von der grundlegenden Unverfügbarkeit unserer Existenz und etwas von der Unbeständigkeit der Welt der phänomenalen Objekte, wozu auch unser Körper und das was wir in Bezug auf unser Selbst mental verdinglicht haben, gehört. Allerdings sollte man all dies nicht zu laut sagen, weil sonst die Psychopathen und Zyniker, die vielfach für die Krise mitverantwortlich sind, das Leid von Menschen auch noch mit zynischen Sprüchen über die Impermanenz kommentieren. Dann hätte der postmoderne Kapitalismus nicht nur die Ästhetik des Zen für seine Wellness-Oasen für Privilegierte geklaut, sondern käme auch noch erleuchtet daher. Dabei weiß man aus den buddhistischen Traditionen, dass die Einsicht in die Unverfügbarkeit und Impermanenz der menschlichen Existenz für uns nur auf der Grundlage einer entwickelten Kultur des Mitgefühls wirklich gut zu ertragen ist.

5. Worauf haben Sie in Ihrer Arbeit diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahren besonders geachtet? Was haben Sie etwa an die neue Situation angepasst? Wo sind wenn ja warum Grenzen gesetzt?

Ich habe in vielen Situationen versucht, was in dem therapeutischen Raum auftauchte nicht vorschnell in Beziehung zu Kindheit zu setzen und emotionale Zustände der Sorge, der Betroffenheit etc. nicht als veränderungswürdig zu betrachten. Sie sind vielmehr Manifestationen einer emotionalen Feinfühligkeit und Intelligenz; einer Feinfühligkeit und Intelligenz, in der sich in vielen Fällen eine doch relativ angemessene und präzise Wahrnehmung nicht nur der eigenen Situation, sondern auch derjenigen Realitätsaspekte ausdrückt, über die in den realitätsaffirmativen Diskursen, zum Beispiel der Medien, nicht gesprochen wird. Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Zur Zeit beobachte ich im Feld psychosozialer Arbeit, also zum Beispiel bei großen Institutionen wie den Jugendämtern oder in anderen psychologischen Beratungs- und Versorgungseinrichtungen ein interessantes und zugleich zutiefst beunruhigendes Phänomen, über das in der Öffentlichkeit so gut wie nicht gesprochen wird. In diesen Feldern tauchen plötzlich und zwar im Großmaßstab Organisationsberater auf, die für teures Geld Organisationsschemata aus der Wirtschaft völlig unkritisch auf den Bereich psychosozialer Versorgung übertragen. Herauskommt in vielen Fällen ein unausgegorenes, teilweise dummes Gemisch aus organisatorischen Umstrukturierungen, die vor allem auf zwei Grundprinzipien des modernen Wirtschaftslebens basieren. Einmal darauf, so effizient und kostensparend wie möglich zu sein, und zum anderen darauf, dem Schein von Produkten mehr Bedeutung zu geben als ihrer tatsächlichen Qualität. Marx hat diese Differenz in seine Unterscheidung von Tausch- und Gebrauchswert schon im Auge gehabt. Im Fall von psychosozialen Arbeitsprozessen hat das allerdings verheerende Auswirkungen, weil es dazu führt, dass viel Geld ausgegeben wird für Oberflächenverschönerung und Imagekampagnen und auf der anderen Seite Strukturen zerstört werden, die vor allem deswegen effektiv waren, weil sie auf einem hohen Kreativitätsspielraum und damit auch hohem Engagement von Mitarbeitern basierten. Engagiertes kontextbezogenes Arbeiten lässt sich nicht in die überall angestrebte Durchoperationalisierung von Prozessen einpassen. Ebenso geht man jetzt bei der Übertragung von ökonomischer Effizienz zum Beispiel auf Hilfen und Schutz von gefährdeten Kindern davon aus, dass Maßnahmen in einem bestimmten Zeitraum „greifen“ müssen. Das wird dann als Qualitätsmanagement verkauft und spart hauptsächlich Geld und verkürzt die Maßnahmen, nicht nur in zeitlicher Hinsicht. Dass die Hilfe für Angehörige der prekären Schichten ganz anderen Erfordernissen gerecht werden muss und viel kompliziertere Zeitstrukturen und Prozessverläufe aufweist als die Produktion eines Autos oder der Verkauf einer Versicherung, geht völlig verloren. Fatal an der Situation, die man im Moment überall beobachten kann, ist das Fehlen einer kritischen Öffentlichkeit, in der das, was innerhalb der Institutionen passiert, beobachtet und diskutiert würde und die auch das immense Wissen der direkten Beteiligten um gelingende Prozesse einbeziehen würde. Wir werden in den nächsten Jahren die Auswirkungen dieser Demontage Psychosozialer Hilfe beobachten können, ich befürchte allerdings, dass dann die sicherlich auftretende Verschärfung von Problemen anthropologisiert, also mit dem Bösen in der menschlichen Natur erklärt wird, und kaum jemand einen Zusammenhang zu den im Augenblick stattfindenden Umstrukturierungsprozessen herstellen wird. Aufgabe von Therapie und Beratung ist in einer solchen Situation meines Erachtens auch dafür zu sorgen, dass diese Zusammenhänge bewusstseins- und sprachfähig bleiben, auch wenn kurzfristig nichts Entscheidendes bewirkt werden kann. Sonst sind zum Beispiel Angehörige der psychosozialen Berufe gefährdet, die Unterminierung ihrer Arbeit und Bemühungen noch depressiver zu verarbeiten als sie dies ohnehin schon tun. Ich glaube, dass es in der gegenwärtigen Situation viel mehr darum geht, die Widerstandskräfte der Individuen zu restimulieren und zu stärken. Das wird sie am ehesten durch die Krise bringen. Resilienz entsteht auch darüber, dass man einen gut entwickelten Realitätssinn hat, propagandistischen Schein von der Wirklichkeit unterscheiden kann und nicht aus dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit heraus bereit ist, verdrehte und schön gefärbte Realitätsbeschreibungen wie sie in der Politik und in den Medien permanent ausgegeben werden, für wahr zu halten.

6. Was haben Gesellschaft, Wirtschaft und Medien etwa aus der Krise und in der Krise gelernt? Was hat den Lernprozess und wenn ja aus welchem Grund erschwert?

Wenn ich versuche diese Frage ehrlich zu beantworten, so kann ich nichts Grundlegendes ausmachen. Überall können wir kurzfristigen Aktionismus zum Teil dilettantisches Herumgestochere beobachten, viel Schöngerede, wenig Versuche, sich von wirklich klugen Köpfen beraten zu lassen. Sollte ich eine Titelsong zum gegenwärtigen Szenario schreiben würde er wahrscheinlich „Blind leading blind“ oder „Stumble through the haze“ heißen.

7. Wenn man Sie im Jahre 2020 fragen würde, was geholfen hat, diese Krise zu bewältigen, wie wäre Ihre Antwort? Und was wären zentrale Elemente der dann ja nicht mehr krisengeplagten Situation in 2020?

Ich würde nur ungern so tun als ob ich über eine direkte Leitung nach Delphi verfüge und über die Zukunft orakeln könnte. Keine Ahnung, wir werden sehen. Am ehesten, glaube ich, wird es darauf ankommen, dass wir die Augen und Ohren offen halten, uns kein X für ein U vormachen lassen und die Bedeutung dessen, was wir denken und was wir tun vielleicht wieder höher einschätzen als wir dies in den letzten drei Jahrzehnten getan haben.

Autor

Gustl Marlock, Dipl. Päd., Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Dozent, Lehrtherapeut und Supervisor für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Leiter der Ausbildung in Unitiver/Integrativer Körperpsychotherapie, Psychoanalyse, Körperpsychotherapie und Existentielle Psychotherapie systematisch integriert. Zahlreiche Veröffentlichungen zur tiefenpsychologischen und körperpsychotherapeutischen Geschichte, Metatheorie und Methodik, Mitherausgeber des „Handbuchs der Körperpsychotherapie“.

Korrespondenz

Gustl Marlock, Marktstraße 99, 60388 Frankfurt, Deutschland,
E-mail: gmarlock@mac.com